Der Soziologe und Psychologe Kazim Erdogan setzt sich seit vielen Jahren mit dem muslimischen Männerbild auseinander. Seit 2007 leitet er die deutschlandweit erste Selbsthilfegruppe für türkischstämmige Männer. Welchen Blick hat er auf gewaltbereite Jugendliche mit Migrationshintergrund?
Herr Erdogan, bei Auseinandersetzungen im Columbiabad in Berlin-Neukölln sind viele Menschen verletzt worden. Gewaltbereite arabischstämmige Jugendliche sind mit Reizgas und Schlagwerkzeugen gezielt auf Sicherheitskräfte und Badegäste losgegangen. Wie konnte es so weit kommen?
Zunächst einmal müsste man sich fragen, ob die Jugendlichen Alkohol getrunken oder Drogen genommen haben, dann gäbe es eine Erklärung für dieses Verhalten – unabhängig von ihrer Herkunft. Ich vermute, dass es sich bei ihnen sogar um deutsche Staatsbürger mit arabischer Zuwanderungsgeschichte handelt. Ich verurteile natürlich solche Gewaltakte. Aber unabhängig davon, was sie getan haben, sie gehören dazu. Wir können sie nicht ausgrenzen. Unterschiedlichkeit ist der größte Reichtum, den wir haben.
Nimmt die Radikalisierung und Gewaltbereitschaft unter jungen Muslimen zu? Oder ist das nur ein subjektives Gefühl?
Die Menschen rasten heute generell schneller aus. Die Herausforderungen haben zugenommen. Drogen, Spielsucht, Sprachlosigkeit in den Familien. Neulich habe ich mit 20 Männern von meiner Vätergruppe über die Gründe illegaler Autorennen diskutiert. Das Fazit: 80 Prozent der Rennen werden von Menschen mit türkischer, arabischer und kurdischer Zuwanderungsgeschichte unternommen – leider! Es sind junge Männer, die sich als Versager fühlen.
Durch die Stadt mit 200 Stundenkilometern rasen oder Messerstechereien. Sie beschäftigen sich seit Jahren mit dem muslimischen Männerbild. Was sind die Probleme?
Jede dieser Taten ist eine zu viel. Wir haben es mit Menschen zu tun, die keine gefestigte Identität haben, denen ein Zugehörigkeitsgefühl und Erfolgserlebnisse fehlen. Mit 500 PS wollen sie zeigen, dass sie „es geschafft haben". In den Vätergruppen erlebe ich viel Hilflosigkeit. Wie sollen sie mit ihren Kindern reden? Sollen sie sagen: „Ich schäme mich für dich, dass du noch nicht einmal den Hauptschulabschluss geschafft hast", oder lieber Verständnis zeigen? Männer mit Zuwanderungsgeschichte haben eine andere Art, mit Problemen umzugehen. Wenn sie etwa in Deutschland nicht arbeiten dürfen oder keine Arbeit finden und die Familie nicht ernähren können, kommen sie damit nicht zurecht und werden gewalttätig. Wir haben durch intensive Gespräche etwa zum Thema Ehre schon mindestens acht Morde verhindern können.
Der Unterschied zu muslimischen Frauen?
99 Prozent der Gewalt geht von Männern aus. Aber auch Gewalt von Frauen hat zugenommen durch psychische Erkrankungen, Sucht oder Armut. Dass Mädchen aus migrantischen Familien bessere Schulleistungen haben, liegt auch daran, dass sie weniger Möglichkeiten haben, sich ablenken zu lassen. Sie dürfen spät abends nicht mehr unterwegs sein wie ihre Brüder. Das zeigt: Wer zu viel uneingeschränkte Freiheiten hat, begibt sich in Gefahr.
Warum wollen oder können sich manche Menschen mit Migrationshintergrund schlecht in die deutsche Gesellschaft integrieren?
Einige Migranten haben nach 60 Jahren in Deutschland immer noch nicht das Gefühl, angekommen zu sein. Türken und Deutsche kennen sich immer noch nicht. Wir müssten unsere Ängste, Bedenken und Vorurteile auf den Tisch bringen, sie überwinden und zueinander finden. Nicht das, was uns trennt, sollte im Vordergrund stehen, sondern das, was uns verbindet.
Viele wollen auch dazugehören? Welche Angebote geben ein Zugehörigkeitsgefühl?
Die Aufgabe für Erzieher und Lehrer lautet: am Ball bleiben und kommunizieren. In der Gesellschaft wird immer weniger gesprochen. Wenn wir Familien besuchen, erleben wir immer häufiger, dass Eltern und Kinder nur noch am Handy daddeln, statt miteinander zu reden. Der Staat kann aber nicht alles leisten. Jeder kann etwas tun, jeder kann sich für den anderen interessieren. In der Hausgemeinschaft, in der Schule, in der Kita, bei gemeinsamen Aktivitäten. Das alles hilft, Ängste abzubauen.
Trotzdem hat es den Anschein –zumindest laut Berichterstattung –, dass sich immer mehr junge Muslime radikalisieren.
Vorsicht ist geboten im Hinblick auf das sogenannte teuflische Viereck, welches sich zusammensetzt aus religiösem Fundamentalismus, übertriebenem Nationalismus, starren Traditionen und dem Druck des Clans und der Familie. Letzterer darf nicht unterschätzt werden. Umgekehrt, wenn ich Ali, Hassan oder Hussein heiße und von meinem Nachbarn nicht akzeptiert werde, ist es wahrscheinlicher, dass ich Interesse für den IS entwickle.
Halten Sie eine Situation wie in Frankreich für möglich, in der der Lehrer Samuel Paty brutal ermordet wurde, weil er im Unterricht zum Thema Meinungsfreiheit Mohammed-Karikaturen gezeigt hat? Wie kann man dem vorbeugen?
Ich halte es derzeit nicht für möglich, ausgeschlossen werden kann es aber nicht. Wir sollten uns wappnen. Kommunikation, Prävention, Interesse lauten die Zauberworte. Wir sollten positiv denken, aber uns einfach nur zurückzulehnen ist gefährlich. Wir müssen neue Herangehensweisen finden und noch tiefer nach den Ursachen suchen. Die Kooperation zwischen den Institutionen, Behörden und Dachverbänden muss verbessert werden. Wir müssen auch die Familien mitnehmen und präventiv arbeiten. Leider hapert es mit der Finanzierung. Die war 2022 nur halb so hoch wie 2021, und wir mussten eine arabische und zwei türkische Vätergruppen schließen. Geld ist wichtig, aber nicht alles. Wir brauchen mehr Ehrenamt. Der Staat schafft das nicht alleine. Wir müssen alle gesellschaftlichen Kräfte bündeln. Wir müssen uns für die Menschen interessieren – auch für die Versager. Es geht um ein Miteinander statt Gegeneinander oder Durcheinander.
Inwieweit sollte man den Islamunterricht kritisch unter die Lupe nehmen?
Wenn im Religionsunterricht vermittelt wird, dass man nicht schlagen und nicht stehlen soll, wunderbar. Wenn aber im Namen der Religion Andersdenkende benachteiligt werden, ist das für mich keine Weltreligion. Ich empfehle Ethikunterricht für alle, um Werte wie Gleichberechtigung, Humanismus und Menschlichkeit zu vermitteln. Schluss mit Toleranz ist für mich bei Homophobie, Frauenfeindlichkeit oder Kindeswohlgefährdung. Prävention ist hier die Mutter aller Entwicklung.
Welche Rolle spielt die Berichterstattung?
Die Medien spielen eine ganz wichtige Rolle. Einerseits bieten die sozialen Medien neue Möglichkeiten, sich zu radikalisieren. Die Eltern sollten hier Interesse signalisieren und nachfragen. Andererseits wird häufig negativ berichtet und verallgemeinert. Neukölln verkauft sich unter Wert. Ich wünsche mir eine positive Berichterstattung über die Erfolgsgeschichten der vielen Ärzte, Anwälte, Richter und Lehrer mit Migrationsgeschichte im Bezirk. Unter dem Motto: Die haben es auch geschafft! Wir sind alle Vorbilder.