Das „Cluster für Europaforschung“ (CEUS) hinterfragt Europas Verhältnis zur Welt. Mit seiner Nähe zu Frankreich, Belgien und Luxemburg hat es ein Alleinstellungsmerkmal. Die Direktionsvorsitzende Prof. Dr. Patricia Oster-Stierle spricht über die Aufgaben und ihre Sicht auf den Kontinent.
Nein, Europa werde ihr niemals langweilig, antwortet Prof. Dr. Patricia Oster-Stierle auf die etwas ketzerisch gestellte Frage lachend. Die Vorsitzende des CEUS-Direktoriums sagt: „Ich lebe in einem Bundesland, das zutiefst von Europa und seinen französischen Nachbarn geprägt ist, und es ist ein großes Glück, sich jeden Tag bewusst zu machen, was es heißt, in Europa zu leben.“ Der europäische Schwerpunkt zeige sich in Forschung und Lehre ebenso wie in einer Reihe von Einrichtungen und Angeboten mit dezidiert europäischer Ausrichtung. Das CEUS bildet eine Plattform für alle Akteure und Projekte, es vernetzt und koordiniert Initiativen und hilft dabei, Themen in die Öffentlichkeit zu tragen. Patricia Oster-Stierle ist seit 2002 an der Universität beschäftigt und leitet diesen „Think Tank für Europa-Forschung“, den sie mit Leben erfüllen möchte. Sie erklärt: „Europa ist unsere Zukunft und die der jungen Generation. Es ist wichtig, nationale Grenzen zu überwinden, andere europäische Sprachen zu erlernen, andere europäische Kulturen kennenzulernen, und gemeinsam die Probleme dieser Welt in Angriff zu nehmen. Man sieht es an vielen Aspekten, dass wir in diesem kleinen Europa vieles realisieren und auch eine Modellregion sein können für das große Europa.“
„Es ist wichtig, nationale Grenzen zu überwinden“
Ein wichtiger Aspekt der Arbeit ist es, Forschungsergebnisse darzustellen, etwa durch öffentliche Kolloquien. Mit vielen jungen Doktoranden der Deutsch-Französischen Hochschule hat sie in Cerisy bei Amiens das Kolloquium „Europe en mouvement – Europa in Bewegung“ veranstaltet. Sie lädt zeitgenössische Autoren ein, die sich so einem großen Publikum vorstellen können. Sie hält selbst Vorträge, beispielsweise im Rahmen von Ringvorlesungen. Ihr persönlicher Forschungsschwerpunkt ist französische und italienische Literatur im europäischen Kontext. „Literatur eröffnet einen Erfahrungshorizont jenseits des offiziellen Diskurses von Politik und Geschichte. Der Leser kann imaginäre Standpunkt-Reisen unternehmen. Das ist ganz zentral für das Verständnis, insbesondere wenn man an die deutsch-französische Geschichte denkt.“ Das CEUS veranstaltet die Vortragsreihe „Europa-Diskurse“, bei der internationale Experten zu aktuellen Themen diskutieren. In diesem Semester wird es um „60 Jahre Elysée-Vertrag: Aktuelle Perspektiven der deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Europapolitik“ gehen. Dann organisiert das CEUS alle zwei Jahre die Saarbrücker Europa-Konferenz. 2022 ging es um die Solidarität in Europa mit Festrednerin Katharina Barley, der Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments.
Die Universität des Saarlandes wurde 1948 unter Verschmelzung französischer und deutscher Bildungstraditionen als zweisprachige Universität gegründet. Schon ihr erster Rektor Jean Barriol wollte sie zu dem Werkzeug einer wahrhaft europäischen Gesinnung machen.
„Unsere Universität entspricht dem ursprünglichen Gründungsgedanken mehr denn je“, erläutert Patricia Oster-Stierle, „wir haben bis heute vier französische Professuren in der Jurisprudenz am Centre juridique franco-allemand, in der Germanistik und der Romanistik, die bei uns im Einklang mit einem Staatsvertrag zwischen Frankreich und dem Saarland unterrichten. Das renommierte Europa-Institut wurde bereits 1951 gegründet. Der Europaschwerpunkt wurde inzwischen durch das Europacluster, das aus dem Europa-Kolleg hervorgegangen ist, mit drei neuen Professuren in Politikwissenschaft und Soziologie nachhaltig gestärkt.“
Hier wird Europa gelebt – in der Universität der Großregion mit Frankreich, Luxemburg und Belgien. Die Studierenden können in vier Ländern im Herzen Europas mühelos studieren, die Mensa besuchen und Bücher in Bibliotheken ausleihen. Gemeinsam mit Partnerhochschulen aus Italien, Spanien, Estland, Polen, Bulgarien und Litauen hat die Saar-Uni die begehrte Auszeichnung der Europäischen Kommission für die Allianz „Transform4Europe“ erhalten. Vom 8. bis zum 12. Mai ist eine Woche geplant, in der Studierende aus dem Verbund an die Universität des Saarlands kommen.
Patricia Oster-Stierle kann zwar trotz Forschung keine Prognose über die Zukunft Europas abgeben, doch zumindest die Entwicklung an der UdS sieht sie positiv: „In Forschung und Lehre beschäftigen wir uns mit den großen Themen, die Europa umtreiben, wie Umweltpolitik, Migration und Flucht.“
Europa denkt sein Verhältnis zur Welt neu
Zu Spannungen wie den diplomatischen Verwirrungen zwischen Frankreich und Deutschland sagt sie: „Es erinnert uns daran, dass unsere Länder auch unterschiedliche Interessen verfolgen. Wir müssen diese ‚Carambolage‘ fruchtbar machen, die Probleme können wir nur gemeinsam lösen. Für mich ist Macron ein großer Europa-Politiker, weil er eine Vision für Europa hat. Er war es, der bei seiner berühmten Sorbonne-Rede den Vorschlag machte, mindestens 20 Europa-Universitäten zu gründen, die ein Netzwerk bilden sollten, um den Studierenden eine europäische Perspektive zu vermitteln.“
Die übergreifende Forschungsthematik des CEUS ist die Frage des Verhältnisses von Europa zur Welt. Doch wie ist dieses Verhältnis gerade? „Das ist eine komplizierte, eine sehr intensive Frage“, sagt Oster-Stierle. Als Zukunftsaufgabe Europas wird die Neugestaltung seiner kulturellen, politischen und ökologischen Beziehungen zur Welt gesehen, die seit jeher vom Geben und Nehmen auf vielen Gebieten geprägt waren: Kultur, Literatur, Sprachen, Technik, Wirtschaft, Politik, Recht, Philosophie, Religion und vieles mehr. Wie Europa die Welt verwandelte, so verwandelte die Welt auch Europa.“
In dieser Zeit, in der sich der politische und wirtschaftliche Schwerpunkt der Welt von Europa weg verlagere, würden diese Prozesse einen neuen Charakter annehmen. Europa versucht sein Verhältnis zur Welt in neuer Weise zu denken. Hieraus ergeben sich vielfältige interdisziplinäre Forschungs-, Konflikt- und Reflexionsfelder, die im CEUS vor allem aus systematischer, historischer, empirischer, transkultureller und intermedialer Perspektive erforscht werden. In diesem Zusammenhang stehe auch das gerade bewilligte Käte Hamburger Kolleg, bei dem es um kulturelle Reparationsprozesse geht.
Ein anderes großes Thema sei die Grenzraumforschung, die mit der Mehrsprachigkeitsforschung in der Großregion höchst aktuell sei. Aber auch Projekte zur Populärkultur und zu Sport-Events im deutschen-französischen wie europäischen und globalen Kontext oder zu Parteien- und Einstellungsforschung mit Blick auf die EU finden sich unter den Forschungsinitiativen. Oster-Stierle sagt: „Man muss eben eine Zukunftsperspektive haben, die Europa immer auch in der Welt reflektiert. Ich glaube unbedingt an Europa. Ich kann nur sagen ‚Vive l’amitié franco-allemande, vive l’Europe‘.“