Nachhaltigkeit, Terminkalender, Regeländerung – an Debatten abseits der Piste mangelt es zum Auftakt der Ski-Alpin-Saison nicht.

Benjamin Raich ist verärgert - Foto: IMAGO/GEPA pictures
Mit allerlei Nebengeräuschen ist der alpine Skirennsport in die neue Saison gestartet – ein kleiner Eklat gehörte auch dazu. Als beim Riesenslalom in Sölden aufgrund des heftigen Windes nichts mehr ging, blendete der österreichische TV-Sender ORF Bilder einer Protest-Aktion der Klimaaktivisten-Gruppe „Letzte Generation“ ein. Drei von ihnen hatten die Hochgebirgsstraße hinauf zum Rettenbachferner für kurze Zeit blockiert und den Verkehr vorübergehend zum Erliegen gebracht. Beim zweimaligen Olympiasieger Benjamin Raich, nach seinem Rücktritt vom aktiven Sport inzwischen als ORF-Experte tätig, stießen die Bilder bitter auf. Der Skisport trage keine Schuld am Klimawandel, echauffierte sich der Österreicher vor laufender Kamera, es sei „genau umgekehrt. Wir sind eher die Leidtragenden“. Einmal in Fahrt gekommen, legte der Ex-Skirennfahrer sogar noch nach. „Die Gegner nutzen jetzt diese Bühne und schießen sehr scharf“, meinte Raich, „aber man sollte die Relation sehen. Wir fahren auf ungefähr zehn Gletschern in Österreich, haben aber 500 oder mehr, eine sehr große Zahl. Die Gletscher gehen überall zurück.“ Abrupt beendete Raich seinen Monolog – es schien, als habe ihm jemand aus der Regie etwas über die Technik ins Ohr gesagt. Als der Moderator nachfragte, was denn los sei, antwortete Raich lediglich: „Stopp, hat es geheißen. Ich soll nichts mehr sagen.“
Von „Zensur“ und „Maulkorb“ war anschließend in den sozialen Medien die Rede, die rechtspopulistische Partei FPÖ nutzte die Aufregung und schaltete sich mit einem „Skandal“-Vorwurf ein. Der TV-Sender sah sich zu einem Statement gezwungen. Es habe sich um „interne Kommunikationsprobleme“ gehandelt, teilte der ORF mit und wies die Vorwürfe zurück. Es gebe bei der Diskussion rund um Klimawandel und Skisport „selbstverständlich keinen Maulkorb“, auch Raich habe diesbezüglich in den Sendungen „ausführlich Stellung“ nehmen dürfen. Aber war die Aufregung wirklich nötig? Schließlich hatte die „Letzte Generation“ in ihrem Statement gar nicht den Ski-Weltcup an sich in den Fokus ihrer Protest-Aktion genommen. Man wolle auf den „fossilen Alltag in Sölden“ aufmerksam machen, weil ohne einen Wandel „noch viel mehr als Skifahren auf dem Spiel“ stehe.
Doch der Sport, so betonen es die Experten, sei aktuell Teil des Problems – könnte aber bei einem Umdenken auch Teil der Lösung sein. Dass der traditionelle Weltcup-Auftakt in Sölden bereits im Oktober ausgetragen wird, finden viele im Rennzirkus nicht mehr zeitgemäß. Noch setzen sich die Organisatoren durch, die mit den frühen Rennen in den Regionen auch den Ski-Tourismus ankurbeln wollen. „Der Kalender sollte überdacht werden“, forderte die fünffache Weltcup-Gesamtsiegerin Mikaela Shiffrin, die dazu auch gleich ein paar passende Fragen aufwarf: „Bis zu welchem Grad sollen wir unsere Umwelt an einen Zeitplan anpassen, den wir haben wollen? Oder sollten wir unsere Zeitpläne an die Umwelt anpassen?“ Für die deutsche Ski-Ikone Markus Wasmeier ist die Antwort darauf einfach: „Wenn man Wintersport weiter ausüben will, sollten die Verbände aufhören, sich die Natur so hinzubiegen, wie sie es wollen – sondern es umgekehrt machen.“ Es sei allgemeiner Konsens, dass sich der Winter nach hinten verschiebe, Rennen im Oktober und November werden daher „eine ganz zähe Geschichte“, meinte Wasmeier: „Doch der Weltverband FIS reagiert darauf überhaupt nicht! Das prangere ich am meisten an.“
Änderungen im Zeitplan gefordert

Ganz richtig ist diese Aussage nicht. Johan Eliasch, umstrittener Präsident des Ski-Weltverbandes, äußerte zuletzt durchaus Kritik am frühen Saisonstart. „Ich verstehe auch nicht, wer sich im Oktober für Skirennen interessiert und warum wir auf Gletschern ohne Schnee fahren“, sagte Eliasch und brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, dass der österreichische Verband eine zeitliche Verlegung nach hinten in Betracht ziehe. Dass der FIS-Boss die Verantwortung von sich schiebt, empfindet Wolfgang Maier „mehr als suspekt“. Man könne auch „ohne Streitereien“ den Wettkampf-Kalender an den Zeittrend anpassen, betonte der deutsche Alpinchef. Der österreichische Verband signalisiert seine Bereitschaft zur Veränderung, in diesem Jahr fiel der Startschuss bereits eine Woche später als sonst. Die Organisatoren glauben, dass die Wetterlage auf dem Rettenbachferner dann sogar zuverlässiger sei – doch in diesem Jahr traf dies nicht zu. Wegen des starken Windes musste der Riesenslalom der Herren nach 47 von 73 Startern abgebrochen werden. Heftige Böen hatten einen sportlich fairen Wettkampf nicht mehr zugelassen, zudem war die Sicherheit der Athleten gefährdet. Auch ein zwischenzeitlicher Wechsel auf den Reservestart und eine Verkürzung der Strecke hatten keine Besserung gebracht.
Ohne offizielles Ergebnis konnten zumindest die Techniker aufatmen. Denn die müssen seit dieser Saison verstärkt bei den Kontrollen zittern, weil das Fluor-Verbot nun umgesetzt wird. Fluor war bislang so etwas wie ein „Zaubermittelchen“ beim Wachsen der Bretter, weil es extrem wasserabweisend ist und dadurch für einen Geschwindigkeitsvorteil sorgen kann. Doch es weist auch negative Eigenschaften auf: extrem giftig und organschädigend. Man wolle mit dem Verbot für einen größtmöglichen Schutz der Umwelt und der Ski-Techniker sorgen, argumentiert der Weltverband. Er führte einen Grenzwert ein, weil minimale Verunreinigungen nicht komplett ausgeschlossen werden könnten. Aber wie lassen sich Fluor-Rückstände zuverlässig messen? Die FIS überprüft den Wert mittels Infrarot-Spektroskopie, aber die Zweifel an den Messungen sind innerhalb der Szene groß. Die Tests seien nicht zu 100 Prozent zuverlässig, lösten Verunsicherung bei Sportlern und Technikern aus und gehörten wieder rückgängig gemacht – so lautet die scheinbar mehrheitliche Meinung.

„Das ist totaler Mist. Das ist eine Regel, die sofort wieder abgeschafft werden muss“, kritisierte zum Beispiel die italienische Weltmeisterin Federica Brignone. Noch schlechter dürfte Ragnhild Mowinckel auf die neue Regel zu sprechen sein, denn die Norwegerin war zum Auftakt in Sölden als erste Sportlerin deswegen disqualifiziert worden. Ihr Lager betonte daraufhin vehement, dass die Skier der WM-Dritten im Riesenslalom mit dem exakt gleichen Wachs präpariert wurden wie beim Test zwei Tage zuvor, den die FIS noch als unauffällig durchgewunken hatte. „Ragnhild ist eine von uns“, echauffierte sich Brignone: „Ich weiß nicht, was mit ihren Skiern passiert ist, aber ich weiß: Das ist gegenüber uns Athleten nicht fair.“ Auch die deutsche Top-Skirennfahrerin Kira Weidle sieht den ganzen Prozess als unausgegoren an: „Die Art und Weise, wie es gehandhabt wird, ist nicht fair.“ Und nicht nur das. Kritiker behaupten gar, dass durch die Einführung des Maximalwerts die Service-Leute verleitet werden könnten, diese Grenzen auszureizen.
Sport gerät in den Hintergrund
Er warne vor einer „Betrugskultur wie im Radsport der 90er-Jahre“, sagte Charly Waibel bewusst provokativ. Der Bundestrainer Technik und Wissenschaft im Deutschen Ski-Verband berichtete von „erheblichen Abweichungen“ bei eigenen Vergleichstests sowohl mit ein und demselben Gerät als auch mit verschiedenen Geräten. Waibel sieht die Ängste und Sorgen der Beteiligten von der Fis nicht genügend berücksichtigt, dort werde lediglich „mit Floskeln“ argumentiert. Waibel sprach von „viel Halbwissen und Ignoranz“ auf Seiten des Weltverbandes. Das kann Roswitha Stadlober als Präsidentin des einflussreichen österreichischen Verbandes nur unterstreichen. Sie sieht die Gefahr, „dass Unschuldige zu Schuldigen werden“. Zudem dürfte das Fluor-Verbot dafür sorgen, dass die Schere zwischen großen und kleineren Ski-Nationen weiter auseinandergeht. Fluor-Präparate waren bislang eine relativ einfache Möglichkeit, um technische Rückstände aufzuholen. Diese gibt es nun so gut wie nicht mehr, und die Anschaffung eines guten Messgeräts kostet um die 40.000 Euro. „Das haben viele infrage gestellt, die das getestet haben und damit forschen, nicht nur wir Athleten“, sagte die Schweizer Olympiasiegerin Lara Gut-Behrami über die neue Regel: „Es ist kompliziert – und das braucht man nicht.“

Vor allem, weil es ohnehin schon so viele Nebengeräusche im Ski-Zirkus gibt. „Für uns ist es sehr frustrierend, dass der Sport so in den Hintergrund gerät“, meinte der deutsche Alpinchef Wolfgang Maier. Beim zweiten Weltcup der Männer am Matterhorn war das nicht anders. Die neue, auf Spektakel getrimmte Abfahrt hatte im Vorfeld nicht nur Jubelstürme ausgelöst – im Gegenteil. Die Bilder von Baggern auf dem Theodul-Gletscher hatten Naturschutzorganisationen alarmiert, die Arbeiten wurden durch das Kanton Wallis zwischenzeitlich sogar gestoppt, weil teils außerhalb der zugelassenen Sportzone gewerkelt worden sein soll. Für die Grünen ist die Entwicklung im Skisport nicht mehr zeitgemäß. Es sei klar, dass „die touristische Entwicklung weiterhin Vorrang vor dem Erhalt unserer Umwelt hat, wie im 20. Jahrhundert“.
Die Organisatoren argumentierten, dass das Traditionsrennen am Matterhorn so ökologisch wie kaum ein zweites sei, weil 95 Prozent der Pistenfläche bereits bestehen würde und größtenteils auf Kunstschnee verzichtet werden könne. Die neue Abfahrtslinie hat es in sich, sportlich ist der Reiz groß: Gestartet werden sollte auf 3.800 Metern, die Strecke von 3,7 Kilometern führt von Zermatt in der Schweiz ins italienische Cervinia. Doch Wetterkapriolen und der Klimawandel sorgten dafür, dass die Herren-Abfahrt abgesagt werden musste. Optimal ist anders.