Der Bundestag soll kleiner werden. Die Ampelregierung hat eine Wahlrechtsreform beschlossen – und Linke und Union klagen dagegen. Auch der Verein „Mehr Demokratie“ hat eine eigene Bürgerklage vorgelegt.
Für Professor Dr. Thorsten Kingreen ist es eine besondere Autofahrt von der Universität Regensburg zum Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe. 340 Kilometer liegen vor ihm. Der 58-jährige Jurist und Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht hat die Rücksitze seines Wagens vollgepackt mit 18 schweren Leitz-Ordnern. Inhalt: eine Bürgerklage gegen Teile der Wahlrechtsreform, die von der Ampelregierung beschlossen wurde. Für Professor Kingreen und die 4.242 Kläger, die er in dieser Sache vertritt, geht es gegen die – seiner Ansicht nach – Aushöhlung des Wahlrechts. Die Materie ist kompliziert, trotzdem konnten er und der Verein „Mehr Demokratie“ viele Menschen bewegen, sich der Sache anzuschließen.
Im Grundsatz geht es um die beschlossene Verkleinerung des Bundestags. Das Thema steht schon lange auf der Agenda, fünf Bundesregierungen sind daran gescheitert, erst die Ampel-Koalition hat es geschafft. Zukünftig sollen es anstelle von derzeit 736 Abgeordneten maximal 630 sein. Das wären zwar immer noch 132 Abgeordnete mehr als die ursprünglich im Wahlrecht vorgesehenen 598, aber auf jeden Fall weniger als jetzt.

Dass die Zahl der Abgeordneten nach jeder Wahl stieg, liegt am komplizierten Verfahren mit Ausgleichs- und Überhangmandaten. Das System war ursprünglich dazu gedacht, eine möglichst gerechte Verteilung von Mandaten bei unterschiedlichen Stimmabgaben für Erst- und Zweitstimmen herzustellen. Zu Zeiten, als nur drei Parteien den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde schafften, blieb das alles übersichtlich. Inzwischen bevölkern aber sechs Fraktionen das parlamentarische Rund unter der Reichstagskuppel.
Eine zentrale Änderung bei der Wahlrechtsreform der Ampel ist die Aussetzung der Grundmandatsklausel. Demnach erlangt eine Partei, die zwar an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert ist, aber in drei Wahlkreisen über die Erststimme das Direktmandat gewonnen hat, automatisch Fraktionsstatus und entsendet damit mindestens 37 Abgeordnete in den Bundestag. Über diesen Weg ist die Linkspartei zuletzt in den Bundestag eingezogen. Zukünftig müsste ein Direktkandidat nicht nur die meisten Erststimmen, sondern auch seine Partei in seinem Wahlkreis die meisten bekommen.
Sorge um Minderheiten-Meinungen
Für Professor Kingreen und seine Mittstreiter ist das schon ein Unding, aber in ihrer Bürgerklage geht es vor allem um die Sperrklausel, also die Fünf-Prozent-Hürde. Wenn die Grundmandatsklausel ausgesetzt wird, dann müsste aus demokratischer Sicht aber auch die Sperrklausel ausgesetzt werden, mindestens aber runtergesetzt, von derzeit fünf auf drei Prozent. „Die Sperrklausel ist eine Zerrklausel. Sie verzerrt den gesellschaftlichen Meinungspluralismus. Sie signalisiert Wählerinnen und Wählern der betroffenen Parteien, dass ihre politische Präferenz nicht wichtig genug ist, als dass sie im Parlament repräsentiert werden müsste. Wichtige politische Anliegen wie der Klimaschutz oder Digitalisierung sind, weil sie zu lange Zeit Minderheitenanliegen waren, dadurch zunächst nicht im Bundestag angekommen“, so Thorsten Kingreen im FORUM-Gespräch. Bleibt es trotz Wahlrechtsreform bei der Fünf-Prozent-Hürde, würde damit nach Ansicht von Kingreen die politische Eindimensionalität im Bundestag noch weiter zunehmen, da weniger Parteien den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde schaffen und es Anliegen von Minderheitenmeinungen zukünftig noch schwerer haben, Beachtung zu finden.
Hinter der Bürgerklage vor dem Bundesverfassungsgericht steht der Verein „Mehr Demokratie“. Der Vorsitzende, Ralf-Uwe Beck, evangelischer Theologe aus Thüringen, kommt noch aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR und ist versiert in solchen grundsätzlichen Demokratiefragen. Immerhin saß er 1989/90 mit am Runden Tisch in Eisenach und war maßgeblich an der Ausarbeitung der Landesverfassung Thüringens beteiligt. Er befürchtet, dass bis zu acht Millionen Wählerstimmen bei der nächsten Bundestagswahl keine Berücksichtigung bei der Mandatsverteilung mehr finden könnten (siehe Interview).