Beschäftigte in der Atomindustrie haben ein kaum kalkulierbares Gesundheitsrisiko. Denn schon niedrige anhaltende Strahlendosen können Krebserkrankungen befördern. Außerdem gibt es keinen unteren Grenzwert, ab dem ionisierte Strahlung ungefährlich wäre.
Atomkraftwerke sind ein heikles Arbeitsumfeld. Laut dem Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) können keine der Anlagen ohne Auswirkungen auf die direkte Umwelt und auf die dort Beschäftigten betrieben werden. „Technologisch bedingt gelangen geringe Mengen radioaktiver Stoffe über den Kamin in die Luft“, so das BfS in seiner populärsten Broschüre „Strahlung und Strahlenschutz“, „oder werden über das Abwasser an die Umgebung abgegeben.“ Dass besonders auch die Mitarbeiter von Atomkraftwerken selbst im störungsfreien Normalbetrieb gesundheitlich womöglich nicht unbedenklichen radioaktiven Strahlen ausgesetzt sind, ist ein brisantes Thema, das in den letzten Jahren nur relativ selten öffentlich diskutiert wurde. Zumal sich durch den 2011 vom Bundestag beschlossenen Atomausstieg Deutschlands das Problem ohnehin gleichsam von selbst zu lösen schien. Allerdings wurde nicht bedacht, dass auch nach dem Abschalten der letzten drei noch laufenden deutschen Atomkraftwerke zum 15. April 2023 beim Abriss und Rückbau der Anlagen weiterhin Tausende von Beschäftigten noch etliche Jahre in dieser gefährlichen Branche tätig sein werden. Laut dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland hatte die im September 2022 vorgelegte Publikation „Unsichtbare Opfer der Atomkraftnutzung“ offengelegt, dass „die Möglichkeit der Inkorporation von radioaktivem Staub“ eine große Gefahrenquelle darstellen wird.
Zwar sind sämtliche in Atomkraftwerken Angestellte beim beruflichen Umgang mit radioaktiven Stoffen und ionisierender Strahlung zum Tragen eines sogenannten Personendosimeters verpflichtet, der an der Arbeits- und Schutzkleidung befestigt ist und mit dem die Einhaltung der gesetzlichen Grenzwert-Bestimmungen exakt kontrolliert werden kann. Dennoch gilt laut BfS im Strahlenschutz die Annahme, „dass jede Strahlendosis gesundheitsgefährdend sein kann. So treffen Grenzwerte lediglich eine Aussage darüber, welches Risiko die Gesellschaft für einen bestimmten Nutzen in Kauf nimmt“. Der Strahlenschutz gehe daher, schreibt das Bundesamt für Strahenschutz, „auch unterhalb der Dosisgrenzwerte von der Annahme aus, dass ein geringes radiologisches Risiko für den Einzelnen besteht“.
Grundsätzlich wird zwischen zwei ionisierenden Strahlenwirkungen auf den Menschen unterschieden. Bei der sogenannten deterministischen Strahlenwirkung, wie sie bei den Katastrophen von Tschernobyl oder Fukushima aufgetreten war, kommt es wegen einer extrem hohen Strahlendosis infolge von körperlichen Gewebereaktionen zu gesundheitlichen Schädigungen bis hin zum Tod. Unter der sogenannten stochastischen Strahlenwirkung werden Veränderungen im Erbmaterial von Zellen verstanden, die durch ionisierende Strahlung sogar schon bei niedrigen Dosen verursacht werden und die mit einer bestimmten, mit zunehmender Strahlenexposition steigenden Wahrscheinlichkeit erst Jahre oder Jahrzehnte später auftreten können. „Die Wahrscheinlichkeit einer stochastischen Strahlenwirkung wird auch durch den Begriff des Schadensrisikos zum Ausdruck gebracht“, erklärt das BfS. „Dieses Risiko wird auf der Grundlage von Modellen und Extrapolationen berechnet.“ Obwohl man davon ausgehen müsse, dass selbst kleinste Strahlendosen eine stochastische Wirkung mit Spätschäden wie Krebserkrankungen haben können, lasse sich eine direkte Ursächlichkeit von strahlenbedingten Gesundheitsschäden bei Einzelpersonen anhand des Krankheitsbildes nicht nachweisen. Denn es könnte sich dabei auch um spontan auftretende Krebserkrankungen handeln.
Problem mit „Fremdpersonal“
Genau diese Argumentation ist laut dem BUND der springende Punkt, warum Mitarbeiter der Atomindustrie in Deutschland und auch anderswo so gut wie keine Chance auf Anerkennung einer strahlenbedingten Berufskrankheit haben. Obwohl der Kostenrahmen für die hiesigen Betreiberfirmen, die über die Jahre hin viel Geld mit ihren Anlagen verdient hatten, angesichts der schwindenden Zahl von vornehmlich männlichen Beschäftigten, die von vormals rund 35.000 auf heute gerade mal 17.000 zurückgegangen ist, überschaubar sein dürfte. Allerdings gibt es da noch das erhebliche Problem mit dem sogenannten Fremdpersonal, wie das BfS inzwischen die teils europaweit von Atomkraft zu Atomkraftwerk wandernden Leiharbeiter nennt. Diese übernehmen seit Jahrzehnten die gefährlichsten Wartungsarbeiten anstelle des festangestellten Stammpersonals. Es ist gängige Praxis, billige Subunternehmen und Leiharbeiter für besonders strahlenexponierte Arbeiten wie der Austausch von Brennelementen oder Reparaturen, dekontaminierenden Reinigungen und Wartungen in stärker verstrahlten Kraftwerksbereichen anzuheuern. So können die europäischen Energiekonzerne nicht nur finanzielle Ressourcen sparen, sondern die gesundheitlichen Risiken für das eigene Personal quasi outsourcen.
Die skandalösen Arbeitsbedingungen dieses Fremdpersonals waren 2011 in der Antwort der damaligen Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken hin öffentlich bekannt geworden. Es wurde von „Nuklear-Nomaden“ oder von einem „Strahlenproletariat“ gesprochen, weil die Strahlenbelastung für das Fremdpersonal um durchschnittlich 80 Prozent höher als die für das Eigenpersonal gelegen hatte. Die Jahresdosis für das gesamte Eigenpersonal hatte die Bundesregierung damals auf 1,4 Sievert, die Maßeinheit für die Strahlenbelastung, beziffert. Für das Fremdpersonal wurde der Wert von 12,8 Sievert genannt. Fast 90 Prozent der Strahlendosen hatten damals also die Leiharbeiter abbekommen, die Stammbeschäftigten nur etwas mehr als ein Zehntel.
Aus Sicht von Bundesregierung und der Betreiberfirmen gab es damals allerdings keinerlei Grund zur Aufregung; denn die durchschnittliche Strahlenbelastung pro Person hatte weit unter dem in Europa – damals wie auch heute noch – maßgeblichen Grenzwert von 20 Millisievert für beruflich strahlenexponierte Personen gelegen. Erstaunlich dürfte allerdings das Faktum sein, dass 2011 nur gut 24.000 Leiharbeiter in deutschen Atomkraftwerken tätig gewesen waren, während heute die Zahl des inzwischen mit einem verpflichtenden und zudem personalisierten Strahlenpass ausgestatteten Fremdpersonals laut des Bundesamtes für Strahlenschutz auf rund 70.000 angestiegen ist. Die Vermutung liegt nahe, dass man dieses Fremdpersonal zum Abbau der hiesigen Atomkraftwerke benötigt. Beim Abriss der Anlagen wird von innen nach außen gearbeitet und die gefährlichsten Arbeiten im Umfeld des Reaktorkerns werden von unter einer Wasserschicht agierenden Robotern übernommen. Klagen von deutschen und französischen Leiharbeitern, die auf Entschädigung wegen bei ihnen aufgetretener Krebserkrankungen waren vor einigen Jahren vor Gericht erwartungsgemäß auf harten Widerstand seitens der Betreiberfirmen getroffen.
Das Deutsche Krebsforschungszentrum hatte schon lange die These vertreten, dass radioaktive Strahlung, und sei sie noch so gering, dazu führen kann, dass Zellen entarten und Krebszellen entstehen: „Eine untere Grenze oder einen Stellenwert, unterhalb dessen ionisierende Strahlung unschädlich wäre, gibt es nicht.“ 2015 wurde im renommierten medizinischen Fachmagazin „The Lancet Haematology“ eine Langzeitstudie über die Auswirkungen und Zusammenhänge von Strahlenexpositionen und Erkrankungen veröffentlicht. Die Ergebnisse konnten anhand von mehr als 300.000 Mitarbeitern von Atomunternehmen in Frankreich, Großbritannien und den USA nachdrücklich belegt werden. Die nach Auswertung der persönlichen Dosimeter vom federführenden französischen Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire gewonnenen Erkenntnisse besagten, dass es „starke Hinweise“ darauf gebe, dass lange währende niedrige Strahlendosen Leukämie verursachen könnten. Darüber hinaus waren weitere Krankheitsbilder wie Krebserkrankungen des Knochenmarks, des lymphatischen Systems oder der Plasmazellen des Knochenmarks bei den Beschäftigten der Atomindustrie weitaus häufiger aufgetreten als bei der Durchschnittsbevölkerung.
„Atomarbeiter leben gefährlich“
„Die umfassenden Daten zeigen, dass auch niedrige radioaktive Strahlung ein Krebsrisiko verursacht. Entgegen früherer Annahmen zeigte sich, dass pro Dosis bei chronischer Niedrigdosisbestrahlung (wie sie an Arbeitsplätzen typisch ist) ein mindestens gleiches oder sogar höheres Mortalitätsrisiko für Krebserkrankungen als nach Kurzzeitbestrahlung (wie durch die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki verursacht) besteht. Je höher die Strahlenbelastung war, desto mehr Menschen starben an Krebs“, so der BUND. Laut der Studie waren 531 Arbeiter an Leukämie verstorben. „Die Wissenschaftler stellten fest“, so die „Taz“ in einem Kommentar zur Studie unter dem Titel „Atomarbeiter leben gefährlich“, „dass die doppelte Strahlenmenge ein doppeltes Leukämierisiko ergibt. Diese Erkenntnis ist zwar nicht grundsätzlich neu, doch sie wurde nie anhand so vieler Personen mit dokumentierter Strahlenexposition untersucht.“ Für den BUND steht es daher außer Frage, „dass eine Gefährdung bereits durch den sogenannten Normalbetrieb eines Atomkraftwerks für die Bevölkerung und die Beschäftigten besteht. Diese Gefährdung setzt sich während der Stilllegung der Atomanlagen und bei Transport und Lagerung der radioaktiven Abfälle weiter fort.“
Von daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass die deutsche Atomindustrie sogar in ihren besten Zeiten über einen Fachkräftemangel geklagt hatte. Das Image eines Jobs in einem Kernkraftwerk war nicht sonderlich hoch angesiedelt. Die Betreiberfirmen hatten vor allem die Anti-Atom-Lobby und die allgemeine politische Stimmung im Lande verantwortlich gemacht. „Atomkraft gehört nicht zu den beliebtesten Branchen“, so ein Eon-Vertreter 2011. Daran konnte auch die Debatte über den Klimawandel nichts ändern, weil hierzulande, im Unterschied zu Frankreich, Atomenergie eben nicht als zentraler Bestandteil in einem kohlendioxidärmeren Energiemix angesehen wird .