Jede Generation ist geprägt von Rassismus. Der sogenannte „Alltagsrassismus" ist auch an Schulen ein Thema, dem häufig nicht genug Beachtung geschenkt wird. Prof. Dr. Karim Fereidooni ist Rassismuskritiker und Sozialwissenschaftler und erklärt, warum wir Rassismus erst verlernen müssen und weshalb Schulen sich davon nicht ausnehmen dürfen.
Herr Fereidooni, was sind typische Beispiele für Rassismus im Bildungskontext?
Der Bildungswert bestimmter Sprachen wie Türkisch, Kurdisch oder Russisch wird von Lehrkräften häufig nicht anerkannt. Zum Teil verbieten Schulen ihren Schülerinnen und Schülern, bestimmte Sprachen zu sprechen, und glauben, sie täten ihnen damit etwas Gutes. Häufig gehen negative Attribute damit einher, dass jemand als „nicht deutsch genug" betrachtet wird. Muslimische männliche Schüler oder solche, die als muslimisch männlich gelesen werden, werden häufig als Machos wahrgenommen, obwohl sie dasselbe tun wie nicht-muslimische Schülerinnen und Schüler. Es kommt zu unterschiedlichen Benotungspraktiken, je nachdem, ob jemand als Deutschland zugehörig betrachtet wird oder nicht. Es kommt vor, dass in Praktika Kopftuch-tragende Lehramtsstudentinnen nicht in das Lehrerzimmer dürfen.
Wir müssen uns anschauen, ob die Schulleitung ein Spiegelbild unserer Gesellschaft ist – die Schülerinnen und Schüler sind es. Aber je weiter man in der Hierarchie hochkommt, desto weißer wird der Raum. Dabei spielen individuelle Entscheidungen und strukturelle Ursachen eine Rolle. Wenn Lehrkräfte rassistische Wissensbestände benutzen, um ihren Schulalltag zu strukturieren, kann Lehren und Lernen nicht produktiv funktionieren.
Was ist mit „rassistischen Wissensbeständen" gemeint?
Rassistische Wissensbestände helfen unserer Gesellschaft zu ermitteln, wer wir sind, indem wir andere abwerten. Wir sprechen in der Forschung von rassistischen Wissensbeständen, die sich in Büchern wiederfinden, zum Beispiel stereotype Darstellungen bestimmter Personengruppen. Dinge, die vor 400 oder 500 Jahren passiert sind und eine Reproduktion des Kolonialismus darstellen. Wir reden über Afrika-Bilder in Schulbüchern, in denen Afrika als Ort dargestellt wird, in dem es nur Kriege, Aids und Kindersoldaten gibt. Damit will ich nicht sagen, dass es keine Probleme in Afrika gibt. Aber unser Bild über Afrika ist kleiner als die afrikanische Realität. Es gelingt uns, andere Gesellschaften wie beispielsweise USA, Großbritannien oder Australien komplexer darzustellen. Ein weiteres Beispiel ist, wenn bei Familienfeiern rassistische Witze gemacht werden über Schwarze Frauen oder über geflüchtete Menschen. Rassistische Wissensbestände haben wir gelernt seit der Zeit der Kolonialisierung. Wir haben gelernt, Schwarze Menschen hätten wenig im Kopf. Wir haben eine bestimmte Vorstellung von „dem Orient", was auch immer das sein mag. Dass muslimische Männer ihre Frauen schlagen würden und diese nicht respektieren könnten. Und diese rassistischen Wissensbestände haben die Funktion, ein eigenes Selbstbild zu konstruieren, das sehr friedlich und aufgeklärt ist – die anderen sind das negative Gegenteil.
Würden Sie sagen, dass in deutschen Schulbüchern eine Sensibilisierung stattgefunden hat?
Auf der einen Seite glaube ich, dass Deutschland im Jahr 2022 so rassismuskritisch ist wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Ich glaube, dass die Sensibilität in Bezug auf Rassismus zugenommen hat. Ich glaube auch, dass es viele gute Initiativen gibt, auch bei Schulbuchverlagen, die sich beraten lassen von Menschen, die sich mit Rassismus auskennen. Niemand in diesen Schulbuchverlagen möchte rassistisch sein. Aber wir müssen Menschen, die in Schulbuchverlagen arbeiten, einen Weg aufzeigen, wie sie Texte, Bilder oder Statistiken benutzen können, die frei von rassistischen Inhalten sind.
Auf der anderen Seite glaube ich, dass eine kleine Minderheit im Jahr 2022 versucht, Deutschland nach rechts zu rücken. Ich glaube, dass viele politische Karrieren, die 2022 möglich sind, vor zehn oder 15 Jahren noch undenkbar gewesen wären. Wir müssen über Gleichzeitigkeiten reden. Ja, die Sensibilität hat zugenommen. Aber es gibt eine kleine Minderheit, die versucht, Rassismus wieder salonfähig zu machen.
Woran liegt das?
Es ist ein beständiger Kampf. Wir können nie von uns sagen, wir hätten Rassismus überwunden. Jede Generation muss das von Neuem lernen. Ich muss mich tagtäglich dafür entscheiden, nicht rassistisch zu sein. Denn um Rassismus zu erlernen, braucht man nichts zu machen. Dazu reicht ein normales Aufwachsen in unserer Gesellschaft. Rassismus zu verlernen ist dagegen ein aktiver Prozess, der mühsam ist, aber lohnenswert.
Wird in Schulen und Universitäten ausreichend über Rassismus gesprochen?
Es kommt auf die Schule an. Es gibt viele Schulen, die sich auf den Weg gemacht haben, rassismuskritische Unterrichtsmaterialien zu entwickeln. Die Lehrkräfte setzen sich sehr kritisch mit bestimmten Dingen auseinander. Es gibt eine Selbstverpflichtung, regelmäßig an Fortbildungen teilzunehmen, das Kollegium ist divers aufgestellt. Aber ich würde sagen, dass 80 Prozent der Schulen in Deutschland leugnen, dass Rassismus überhaupt existiert. Und mit diesen Schulen ist keine Arbeit möglich. Wenn die Schulleitung sagt, an ihrer Schule gibt es keinen Rassismus, weil sie Angst hat, dass andere Menschen negativ über die Schule denken, dann ist kein Prozess möglich. An den meisten Schulen ist Rassismus kein Thema, über das kompetent und professionell geredet werden kann.
Werden Lehrkräfte in Bezug auf Rassismus ausreichend ausgebildet?
In den seltensten Fällen. Wir verlangen sehr viel von Lehrkräften: Medienkompetenz, Gewaltprävention, sie sollen Sexismus und Heteronormativität begegnen. Es muss in der ersten und zweiten Phase der Ausbildung von Lehrkräften und auch bei Fortbildungen noch sehr viel passieren. Sie müssen eine Professionskompetenz erlangen, um über Rassismus zu reden, um rassismuskritische Unterlagen selbst zu entwickeln und auch wirklich sensibel mit ihren eigenen Wissensbeständen und der Realität ihrer Schülerinnen und Schüler umzugehen. Ich würde mir wünschen, dass es mehr Professuren gäbe, die sich mit Rassismuskritik auseinandersetzen. Denn angehende Lehrkräfte müssen früh lernen, wie sie mit Rassismus umgehen können.
Wie sollte man idealerweise Personen begegnen, die vielleicht auch unbewusst rassistische Dinge sagen?
Die Person annehmen, die Position ablehnen. Man kann sagen: „Nicht du bist Rassist, sondern dein letzter Satz war rassistisch. Ich mag dich als Mensch und ich möchte dir erklären, warum dein letzter Satz rassistisch war." Am besten ist es, das nicht vor versammelter Mannschaft zu tun, damit niemand Angst haben muss, sein Gesicht zu verlieren. Man sollte sich wirklich auf der Beziehungsebene Zeit nehmen. Erklärungen geben und Erklärungen einfordern. Der Person vermitteln: Auch ich musste mir mein Wissen über Rassismus aneignen und mache noch immer Fehler.
Es kommt auch immer auf den Kontext an. Familiengespräche sind zum Beispiel die Champions League der Rassismuskritik. Ich scheitere häufig an meiner eigenen Familie. Natürlich kann man auch da Gegenrede üben, beispielweise, wenn der Opa etwas Rassistisches sagt. Aber wir müssen uns ebenso damit auseinandersetzen, dass manche Menschen nicht lernen wollen. Manche Menschen wollen rassistisch sein. Da würde ich sagen: Konzentrieren Sie sich auf Leute, die ihre Vision teilen.