Durch einsame Landstriche, vorbei an traditionellen Dörfern – bei einer Wanderung durch das Hinterland von Südalbanien wird auch die Geschichte des Landes lebendig.
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ndrit Mërtiri steht auf einer Hügelkuppe auf der Halbinsel Karaburun. Beim Hochwandern stoben bei jedem Schritt Wolken von Thymianduft auf. Knochenweißer Kalk überzieht den trockenen Boden. Fußangeln aus meterlangem Brombeerranken griffen nach bloßen Wandererwaden. Mërtiri zeigt aufs Meer hinaus, da drüben liegt Italien. „Viele meiner Freunde leben dort oder sonstwo im Ausland“, sagt der Enddreißiger. Mërtiri war nach Freiburg gegangen, er kam zurück, um sich um die Eltern zu kümmern. Nun arbeitet er als Wanderguide mit deutschen Gruppen.
Die Halbinsel Karaburun bildet mit der Insel Sazan seit 2010 einen Nationalpark und ein Meeresschutzgebiet. Theoretisch. Tatsächlich aber gibt es Baupläne. Jared Kushner, Trumps Schwiegersohn, plant ein Luxusresort. Auf die Frage, wie das denn zusammen gehe zuckt Mërtiri die Schultern. „Da ist so viel Geld im Spiel. Das ist frustrierend. Wir haben so ein schönes Land. Aber es interessiert niemanden.“
Viele Kulturen in Albanien
Vor allem nicht die Regierung. Die hat Anfang 2024 ein Gesetz verabschiedet, mit dem die Grenzen von Schutzgebieten leichter verschoben werden können. So wurden für einen neuen Flughafen im Delta der Vjosa die Schutzbestimmungen aufgehoben. Mit dem neuen Flughafen sind die Touristenhochburgen an der Riviera besser zu erreichen. Albaniens Tourismus boomt, 2024 kamen knapp zwölf Millionen Touristen. Schon jetzt gleicht die Küste einer Großbaustelle. Wer glaubt, in Albanien Urlaub machen zu können wie im Italien der 1950er, findet sich wieder in einem Land, das mit seinem ungezügelten Bauboom an die 1970er in Spanien erinnert. Außer man wandert im nahezu menschenleeren Hinterland von Südalbanien. Menschenleer weil: In den 1990ern verließ über die Hälfte der Bevölkerung das Land.
Der Exodus geht weiter, vier Millionen Albaner leben dauerhaft im Ausland – in Albanien selbst nur noch rund 2,4 Millionen. Und die Hälfte von ihnen im Großraum der Hauptstadt Tirana.
So wandert man durch die Einsamkeit. Mal geht es durch Hunderte schulterhoch weiß blühende Meerzwiebeln, einmal suchen wir Schutz im Regen unter einer weit ausladenden Taboreiche, der Boden ist übersät mit den schnörkeligen Früchten.

Albanien lag immer an der Kreuzung vieler Kulturen. In jedem Nachbarland wird eine Sprache gesprochen, die nichts mit dem Albanischen zu tun hat. Es liegt inmitten von vier Kulturen, slawisch, griechisch, osmanisch, italienisch. Immer gab es Begehrlichkeiten von allen Seiten. Auch heute strecken alle ihre Finger nach dem Land aus. Da sind die Luxus-Bauprojekte an der Küste. Im Fernsehen laufen türkische Soap-Operas. In den Supermärkten findet man kaum Heimisches. Es gibt Kekse und Nudeln aus Italien. Im Drogeriemarkt sind alle Produkte deutsch beschriftet. Nicht einmal heimische Souvenirs sind zu finden. Über Generationen war das kommunistische Land abgeschottet. Wer hätte da häkeln, weben oder schnitzen sollen? Es gibt bunten Kram aus China.
Himarë ist ein bis heute charmanter Touristenort, noch nicht so verbaut wie Vlora, noch nicht so durchgestylt. Von hier starten unsere Wandertouren. Einmal fahren wir mit dem Bus ins Hinterland. Um weiterzukommen, organisiert Mërtiri einen alten Mercedes, der Farbe nach war die Karre mal ein Taxi in Deutschland. Der Fahrer bringt uns die steile Straße hinauf nach Khudes. Eine ältere Frau winkt uns, sie lädt uns zum Kaffee ein. Sie heißt Urani, ihr Haus ist umgeben von einem Garten. Auf einem Tisch trocknet sie Walnüsse, eine Katze hat sich in einen Eimer eingerollt. Von ihren fünf Töchtern leben zwei in England, eine im nahen Griechenland, eine in Tirana und eine als Lehrerin in der Nähe in einer Kleinstadt. Sie bringt türkischen Kaffee, dazu ein Glas Raki, Traubenschnaps. Die Häuser, die man von ihrer Terrasse aus sieht, stehen fast alle leer. Aber zwei Schwägerinnen wohnten noch hier, mit ihnen trinke sie manchmal Kaffee.
Eine andere Wanderung startet in dem Dorf Pilur auf 700 Metern. In Pilur lebten in den 1990ern 600 Menschen, jetzt sind es nur noch 150 Alte. Die Schule ist geschlossen. „Ein typisches Dorf“, sagt Endrit. Die Einwohner sind ins nahe Griechenland ausgewandert, wer zurückkommt, zieht an die Küste und arbeitet im Tourismus.

Was müsste sich ändern, um die jungen Menschen im Land zu halten? „Besserer Verdienst, es sind im Durchschnitt 800 Euro im Monat. Und weniger korrupte Politiker“, sagt Endrit. Natürlich sei der Staat beteiligt, wenn die Natur dem Bauboom und dem Luxustourismus geopfert wird. Edi Rama, seit 2013 Ministerpräsident, der im Westen als Künstler und als EU-nah hofiert wird, „ist der Schlimmste“.
Noch junger Wandertourismus
Albanien hat fürchterliche Zeiten hinter sich. Endrit erzählt eine Geschichte: Ein Onkel bekam während des Kommunismus von einem Cousin im Kosovo ein Foto geschickt. „Schau mal, wie dick der ist, da muss es viel zu essen geben“, sagte er zu Freunden. Das brachte ihn für 13 Jahre ins Gefängnis. Und nach dem Ende des Kommunismus wurde alles noch schlimmer. Finanzielle Schneeballsysteme warfen die albanische Bevölkerung, die keine Ahnung hatte von Banken und vom Finanzwesen, dem Kapitalismus zum Fraß vor. Menschen verkauften Haus und Hof, um Geld für diese Spekulationen zu haben – die natürlich kollabierten. 1997 war das schlimmste Jahr, erinnert sich Endrit. Die Pyramidengesellschaften meldeten Insolvenz an. Alles eskalierte, es kam zu Massenprotesten, überall gab es Waffen zu kaufen und ständig Schießereien. „Wir haben nachts die Matratzen auf den Boden gelegt, damit wir nicht getroffen werden. Frauen konnten nicht mehr alleine aus dem Haus, wegen Frauenhandel.“ Die westlichen Staaten evakuierten ihre Bürger, die UN entsandten Militär, um einen Bürgerkrieg zu verhindern. Besser wurde es erst um die Jahrtausendwende.
Vor gut zehn Jahren ging es los mit dem Wandertourismus, unterstützt auch von der deutschen GIZ, die sich um ein Wegenetz kümmert. Vielleicht sollten Urlauber diese Vergangenheit mitdenken. Das ist wohl nicht allen gegeben.
Einmal ist eine große Ziegenherde zu hören. Hunde bellen. Endrit bleibt stehen. Was los sei, murrt die Wandergruppe. „Ich sehe den Hirten nicht, ich warte lieber“, sagt Endrit und nimmt einen Stein in die Hand. Die Hunde kommen näher, sie treiben die Ziegen bergauf. Die Ziegen trödeln. Schnell hat die deutsche Gruppe Vorschläge. Wahrscheinlich sei der Hirte schon vorbei. Oder noch hinten. Oder keiner dabei. Man könnte doch jetzt gehen. Diese Versammlung von Alpha-Frauen und -Männern hat keine Geduld, einfach zehn Minuten in der leichten Brise mit Blick aufs Meer stehen zu bleiben. Inmitten von Thymianduft.