Zwischen 2013 und 2023 gewann der FC Bayern München historische elf Meistertitel in Folge. Und keiner steht so symbolisch für diese erfolgreichste Zeit wie Thomas Müller. Der nun auch offiziell Rekordspieler des Rekordmeisters ist.
Sepp Maier hatte einen Wunsch. Fast unglaubliche 45 Jahre war der Weltmeister-Torhüter von 1974 Rekordspieler des Rekordmeisters FC Bayern München. 709 Pflichtspiele hatte Maier einst für die Bayern absolviert. Und je länger die Bestmarke stand, umso mehr schien es zu einem Rekord für die Ewigkeit zu werden. Doch Rekorde sind dafür da, um gebrochen zu werden. „Ich habe immer gesagt: Wenn mich einer überholen soll, dann nur ein Bayer“, sagte Maier. Und genau so ist es gekommen.
341 Siege in der Bundesliga
Thomas Müller, aufgewachsen in Pähl im Pfaffenwinkel, knapp 50 Kilometer von München entfernt, ist nun neuer Rekordspieler des FC Bayern. Da Müller in den vergangenen Jahren Rekorde sammelte wie sonst kaum einer vor ihm, sieht es auf den ersten Blick nur aus wie eine Bestmarke unter vielen. Schließlich wurde Müller zwölfmal Deutscher Meister, so oft wie kein anderer. Keiner übertrifft seine 341 gewonnenen Bundesliga-Spiele. Seit Erfassung der Assists im Jahr 1992 bereitete kein Bundesliga-Spieler mehr Tore direkt vor als Müller mit 174. Als einziger Bundesliga-Profi erzielte er in 16 Saisons nacheinander mindestens ein Tor. Als einziger hat er dreimal das erste Saisontor erzielt. Er ist mit 24 Jahren ununterbrochener Zeit im Club der treueste Spieler der gesamten Bundesliga. Und kurioserweise auch derjenige, der am häufigsten in der Bundesliga-Geschichte ausgewechselt wurde. Genau 182-mal.
Dieser Offensivspieler mit dem Allerweltsnamen – keine Namenskombination gibt es in Deutschland häufiger als Thomas Müller – hat in seiner Laufbahn also kräftig Bundesliga-Geschichte geschrieben. Und auch mit der Nationalmannschaft. Gleich bei seiner ersten WM 2010 wurde er nicht nur zum besten jungen Spieler des Turniers gewählt, sondern krönte sich mit fünf Treffern sogar zum Torschützenkönig. Spätestens da kannte ihn auch der legendäre Diego Maradona, der sich drei Monate vorher als argentinischer Nationaltrainer nach einem Länderspiel in Deutschland weigerte, neben den Debütanten Müller zu setzen, weil er ihn für einen Balljungen hielt. Vier Jahre später in Brasilien wurde er mit dem DFB-Team Weltmeister, wurde selbst Zweiter in der Torschützenliste und bekam den Silbernen Ball als zweitbester Spieler. Als eine kolumbianische Reporterin nach dem Finale fragte, ob er dem Goldenen Schuh als bester Torjäger nachtrauere, antwortete er der verdutzen Dame im tiefsten Bayerisch: „Des interessiert mich ois net, der Scheißdreck. Weltmeister samma. Den Pott hamma. Den scheiß goldenen Schuh kannst dir hinter die Ohren schmier’n.“
„Es war ein schöner Sonntag“
Thomas Müller hat also Ehrungen und Rekorde zuhauf erlebt. Als er zwischendurch mal darauf hingewiesen wurde, wen er nach Einsätzen nun eingeholt habe, sagte er: „Dann können wir auch Statistiken erheben, dass ich 420-mal die gleiche Unterhose getragen habe.“ Doch dieser Rekord beim FC Bayern bedeutet ihm unglaublich viel. Weil es eben der Rekordmeister ist. Und weil er nun mal gebürtiger Bayer ist. „Wenn ich schaue, wo der Verein vor 15 Jahren war, als ich begonnen habe, und wo er jetzt steht, auch was die internationale Präsenz betrifft, dann habe ich schon gut mitgeholfen, den Verein nach vorn zu bringen“, sagte er mit sichtbarem Stolz. Die 473 Bundesliga-Spiele, mit denen Maier nur auf diesen Wettbewerb bezogen bis dahin ebenfalls vorne gelegen hatte, hatte Müller übrigens eine Woche zuvor übertroffen.
„Es war ein schöner Sonntag muss ich sagen“, erklärte er schmunzelnd nach dem 2:0 gegen Freiburg, als er durch seine Einwechslung den Pflichtspiel-Rekord übernommen und dann auch noch zum Endstand getroffen hatte. „Ein brutal schönes Tor“ sei das gewesen scherzte Müller in der ihm typischen Art: „Technisch überragend.“
Beim FC Bayern Rekordspieler zu werden, heißt, dass man über Jahre auf höchstem Niveau gespielt haben muss, fast nie verletzt gewesen sein darf und sich auch aus politischen Diskussionen im Verein größtenteils rausgehalten haben muss. Bei Bayern käme man, „wenn es gut läuft, auf 50 Spiele“, rechnete der neue Nationalmannschafts-Kapitän Joshua Kimmich vor. Um Müllers Zahl zu erreichen, müsse man „14 Saisons absolut fit und gesund bleiben“. Dies „allein ist der helle Wahnsinn“. Und dann müsse man ja „auch noch die Einsätze bekommen. Das ist crazy. Nicht viele erreichen diese hohe Anzahl an Spielen – und das für einen Verein. Das ist schon eine Hausnummer.“ Auch Trainer Vincent Kompany, der kurioserweise als Spieler des Hamburger SV bei Müllers Bundesliga-Debüt am 15. August 2008 auf dem Platz stand, erklärte: „710 Spiele, das ist unglaublich. 710 Spiele 100 Prozent gegeben, aber nicht nur in den Spielen, sondern auch im Training.“
Müller schoss mit 246 Toren bisher auch die drittmeisten für den FC Bayern hinter dem legendären Gerd Müller (570) und Robert Lewandowski (344). Auch, weil er unter 15 Trainern spielte. Fast immer zumindest. „Müller spielt immer“, sagte Louis van Gaal schon vor fast 15 Jahren, als Müller noch ein erfrischend freigeistiger Jungspund war.
Doch wirklich immer spielte Müller nicht. Und so stand er in all den Jahren tatsächlich dreimal vor dem Abschied. 2008 scharrte er als Nachwuchsspieler mit den Hufen, doch Trainer Jürgen Klinsmann gab ihm nicht die gewünschte Spielzeit. Müller wollte sich im Winter an den damaligen Aufsteiger Hoffenheim verleihen lassen, der mit Ralf Rangnick gerade die Bundesliga rockte. „Hoffenheim war Tabellenführer und ein aufstrebendes Projekt. Ralf Rangnick wollte mich, bei Bayern stand ich zu der Zeit nicht im Profikader“, sagte er in einem gemeinsamen „Kicker“-Interview mit Maier. Der sofort dazwischenging: „Hör auf, was hättest Du denn in Hoffenheim gewollt? Es war doch vorauszusehen, dass es mit Klinsmann und den Bayern nicht funktioniert. Die paar Monate konntest Du doch leicht aussitzen.“ Das tat er letztlich. Ein zweites Mal ins Wanken kam Müller 2015, als sein Förderer van Gaal ihn zu Manchester United locken wollte, die Bayern ihn aber nicht freigaben. Und noch mal 2019, als Niko Kovač ihn auf die Bank setzte und tapsig erklärte, Müller werde schon wieder spielen, „wenn Not am Mann ist“. Da habe es „Zeitpunkte des Nachdenkens“ gegeben, sagte Müller: „Damals wäre ich für etwas weniger Vereinstreue offen gewesen.“
Spitzname „Radio Müller“
Er ist immer geblieben und das war wahrscheinlich gut so für alle. Weil Thomas Müller Thomas Müller ist. Und so viel anders als andere. Von seiner spitzbübischen Art hat er sich auch mit 35 noch vieles bewahrt, sein Redefluss brachte ihm einst den Spitznamen „Radio Müller“ ein. Und sein untrügliches Gespür für die richtigen, unorthodoxen Laufwege machte ihn zum „Raumdeuter“. Ein Wort, das es sogar in den englischen Sprachgebrauch schaffte. „Ich weiß, dass mein Spiel nicht das allerschönste ist, ich bin nicht da, um die Leute mit Kunststückchen zu unterhalten“, sagte er. Oder: „Ich weiß, dass jedes Tor gleich viel zählt, nämlich immer eins. Ich weiß auch, wenn man nur die schönen Tore nähme, hätte ich nicht so viele auf dem Konto.“ Doch das war zu viel der Demut. Die Fußball-Fans sahen ihm gern zu, feierten ihn. Er war einer, den sogar die meisten „Bayern-Hasser“ mochten.
Ist Thomas Müller als Rekord-Spieler also auch der beste Spieler in der Geschichte des FC Bayern? Das glaubt er selbst nicht. Aber als den wahren „GOAT“, den Größten aller Zeiten, sieht er seinen Namensvetter Gerd Müller. „Ich kann nur das wiederholen, was der Uli Hoeneß schon oft gesagt hat“, sagte er: „Der Größte ist einfach Gerd Müller, ohne den würde es vielleicht den Club in der Form gar nicht geben. Der Gerd hat 365 Tore gemacht. Den stelle ich noch darüber. Aber die anderen, da müssen wir diskutieren.“ Es endete, wie so oft, mit einem frechen Grinsen, bei dem man nie genau wusste, ob Müller das Gesagte genauso oder doch eher ironisch gemeint hat.
Doch eines weiß er genau, und ist er auch bereit zuzugeben. Wäre Maiers Karriere nicht 1979 durch einen Autounfall abrupt beendet worden, hätte er den Rekord nicht holen können. Drei gute Bundesliga-Saisons hätte Maier sich sonst nach eigener Aussage noch zugetraut. Ob Müller die noch im Tank hat, bleibt abzuwarten. Doch Maier wird es verkraften können. Denn immerhin wurde er ja von einem echten Bayern abgelöst.