Viele britische Großstädte werden von Grüngürteln umschlossen, in denen Neubauten verboten sind. Die Labour-Regierung will die Vorschriften jetzt lockern, um Wohnraum zu schaffen. Baufirmen jubeln, Umweltschützer sind entsetzt.

Ein enger, steiler Pfad führt einen Hügel hinauf. Der Weg ist matschig, links und rechts wuchern Hecken. „Irgendwo hier muss es sein“, sagt Vince Robson, während seine Wanderschuhe im Morast versinken. „Ich war hier schon oft, aber bei der dichten Vegetation verpasse ich gerne mal die Abzweigung.“ Dann endlich ein Bellen aus der Ferne: Robsons Schäferhündin Lola hat das Ziel entdeckt. „Aber Vorsicht!“, warnt Robson. „Wenn man da oben nicht den Kopf einzieht, wird man von einem Golfball getroffen.“
Vince Robson, 67 Jahre alt, graue zurückgekämmte Haare, war früher Projektmanager in einer Bank. Heute, als Pensionär und Gemeinderat, widmet er sich dem Umweltschutz. Oder wie er es ausdrückt: „Die Natur muss erhalten und die Spekulation gestoppt werden.“
Bezahlbarer Wohnraum fehlt
Der Golfplatz, über den er mit Schäferhündin Lola schlendert, liegt 30 Kilometer südlich von London. Am Horizont ragen die Hochhäuser des Geschäftsviertels Canary Wharf empor, in der Ferne ist das Rauschen von Autos zu hören. Rund um den Golfplatz hingegen dominiert eine geradezu ländliche Kulisse: Felder, Bäche, Dörfer mit Kirchturm und restaurierten Telefonzellen. „Dass man überhaupt darüber nachdenkt, diese Gegend zu bebauen, ist ein Unding“, echauffiert sich Robson. „Hier gibt es wilde Orchideen, Feldlerchen und so schmale Wege, dass man selbst zu Fuß kaum vorankommt. Wie sollen hier 2.500 Häuser entstehen?“
Es ist eine Frage, die in diesen Tagen ganz Großbritannien umzutreiben scheint. Ähnlich wie in Deutschland fehlt es auch jenseits des Ärmelkanals dringend an bezahlbaren Wohnungen. Zuletzt wurden pro Jahr 234.000 neue Einheiten gebaut – die neue Labour-Regierung möchte diese Zahl auf 370.000 erhöhen. Um das zu erreichen, schlägt Bauministerin Angela Rayner einen Weg ein, der lange Zeit undenkbar gewesen wäre: Die streng geschützten Grüngürtel, die viele britische Großstädte umschließen, sollen bebaut werden.
Die sogenannten Green Belts entstanden in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Aufgabe: Naherholungsräume schaffen und die unkontrollierbare Ausbreitung von Metropolen stoppen. Dass nun ausgerechnet dort die Baukräne anrücken sollen, empfinden Umweltschützer wie Vince Robson als blanken Hohn. Sie schreiben Petitionen, organisieren Protestmärsche und machen ihrem Ärger durch Plakate Luft. „Das Schlimmste ist, dass man wertvolles Land ohne vernünftigen Grund zerstört“, schimpft Robson. „Normale Leute werden sich diese Luxuswohnungen sowieso nicht leisten können.“ Stattdessen schaffe man nur noch mehr Pendler.

Doch auch die Befürworter führen gewichtige Argumente ins Feld. „Unsere Städte wachsen so stark, dass wir in den nächsten Jahren bis zu fünf Millionen neue Häuser brauchen“, sagt Brian Berry, Vorsitzender des Bauwirtschaftverbands Federation of Master Builders. „Irgendwo“, sagt Berry, „müssen die Leute doch wohnen. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir von vornherein alles ausschließen.“
Auch er weiß, dass man mit der Bebauung von Grünflächen keine Beliebtheitsrekorde aufstellt, gerade in Zeiten des Artensterbens und der Klimakrise. „Wir wollen nicht einfach alles zubetonieren“, beteuert der Lobbyist. Stattdessen gehe es darum, ohnehin vorhandene Industriebrachen zu nutzen. „Anders als viele denken, ist der Green Belt längst nicht überall grün“, sagt Berry. Ob alte Tankstellen, leerstehende Fabriken oder verlassene Krankenhäuser: Es gebe genügend Flächen, die ohnehin versiegelt seien. Die Labour-Regierung hat sich für solche Gebiete sogar einen eigenen Begriff ausgedacht: Grey Belt, der sogenannte Graugürtel.
Alles soll schnell erreichbar sein
Ob diese Brachflächen aber wirklich vorrangig genutzt werden, ist fraglich. Zum einen gibt es keine klare Definition, was genau als Grey Belt zählt. Zum anderen entstehen oft deutlich höhere Kosten, wenn bereits bebaute, womöglich kontaminierte Flächen erst noch abgerissen oder saniert werden müssen. Gibt es ein Beispiel, wo genau das schon geschieht? „Mir fällt gerade keins ein“, gesteht Bau-Lobbyist Brian Berry. „Aber das heißt ja nicht, dass es das nicht gibt.“
Der Golfplatz südlich von London könnte – mit gutem Willen – ebenfalls dem Grey Belt zugeordnet werden. Zwar ist der Rasen grün statt grau. Doch das 144 Hektar große Areal wurde in den 90er-Jahren mithilfe von Londoner Bauschutt errichtet. Wo heute noch Golfbälle durch die Gegend fliegen, könnte schon in wenigen Jahren eine komplett neue Vorstadt entstehen. Auf Interviewanfragen antwortet der Projektentwickler nicht, doch in Broschüren zeichnet er das Bild einer CO2-neutralen Siedlung, „umgeben von Parkanlagen, renaturierten Grünflächen [und] großflächigem Baumbestand.“
Ob Supermarkt, „Waldschule“ oder Fahrrad-Verleih: Alles soll in maximal 15 Minuten zu Fuß erreichbar sein. Dank eines nahegelegenen Bahnhofs und eines Park-and-Ride-Parkplatzes müsse zudem niemand mit dem Auto nach London fahren, versprechen die Entwickler. Umgekehrt soll das Städtchen offenbar auch für Gäste von außerhalb attraktiv werden, denn die Pläne beinhalten ein Hotel mit 150 bis 200 Betten.
„Genau solche Projekte brauchen wir“, findet Ufuk Bahar, ein Londoner Architekt, der das Bauen im Umland vorantreiben will. Er hat dazu sogar ein Buch veröffentlicht: „Green Light to Green Belt Developments“, also grünes Licht für Entwicklungen im Grüngürtel. „Es geht nicht darum, die Landschaft umzugraben und mit Hochhäusern zu ersetzen“, betont Bahar, „sondern nachhaltige Entwicklungen im Grey Belt zu priorisieren. Es gibt so viele gute Flächen in bester Lage, die reif für eine Bebauung sind.“
Aber kommt es auch so weit? Noch hängen die Pläne in diversen Gremien fest. Stadtverwaltungen, Landräte sowie lokale Politikerinnen und Politiker ringen darum, die richtige Balance zwischen Naturschutz und Wohnraum-Entwicklung zu finden. Zumal auch taktische Überlegungen eine Rolle spielen. Seit Labour an der Macht ist, setzt sich die konservative Partei vermehrt als Hüterin der Landschaft in Szene. Gerade im gut betuchten Speckgürtel rund um die Metropolen haben die Konservativen oft die Mehrheit. Dementsprechend heftig fällt dort aktuell der Gegenwind aus.

Komplett verhindern werden sich neue Bauprojekte aber nicht lassen, denn die Regierung hat verbindliche Ziele festgelegt: Jeder Landkreis muss pro Jahr eine bestimmte Anzahl von Wohnungen schaffen. Wie und wo sie diese Vorgaben umsetzen, ist den Landkreisen selbst überlassen. Verfehlen sie aber die Ziele, drohen empfindliche Strafen. Auch sonst schauen die Behörden inzwischen genauer hin. Die nordenglische Stadt Liverpool verlangt eine Sondersteuer von bis zu 300 Prozent, wenn Immobilienbesitzer ihrer Häuser über einen längeren Zeitraum leerstehen lassen.
Im Green Belt selbst ist derweil noch nicht viel von der angekündigten Bau-Offensive zu spüren. „Bei uns tut sich bisher nichts“, erzählt Bee Willis. Zusammen mit ihrem Mann, zwei Kindern und einem Hund ist die 50-jährige Unternehmensberaterin vor zwei Jahren nach Plaxtol gezogen, ein Dorf 50 Kilometer südöstlich von London. In Plaxtol gibt es nicht viel: einen Tante-Emma-Laden, der zugleich als Postfiliale dient, einen Pub, dem mangels Kundschaft die Schließung droht, und eine alte Telefonzelle, die statt eines Münzsprechers einen Defibrillator beherbergt. Doch genau diese Abgeschiedenheit wollte die Familie. „Hier haben wir Platz für unsere Pferde, können überall zu Fuß hingehen und müssen keine Angst vor Kriminalität haben.“
Sorgen bereiten ihnen hingegen andere Dinge: Was, wenn der Fuchs mal wieder die Hühner holt? Wenn die Hundewiese nebenan bebaut wird? Oder die Mini-Sträßchen verbreitert werden, damit mehr Verkehr ins Umland kommt? „Wir haben viel Geld bezahlt, um hier unsere Ruhe zu haben“, sagt Willis. „Niemand von uns will neben einem Hochhaus wohnen.“
Doch auch sie profitieren von der idyllischen Lage, vermieten ihr renoviertes Cottage per Airbnb. Gerne würden sie den benachbarten Stall zu einem bewohnbaren Haus umbauen und den Garten verbreitern. Doch da machen ihnen die strengen Green-Belt-Regeln einen Strich durch die Rechnung – noch. „Wenn man hier eine Etage aufstocken will, ist das fast unmöglich“, sagt Bee Willis. „Da müssen schon die Holzbalken in den alten Häusern komplett durchgefault sein, bevor die Behörden einen Umbau genehmigen.“ Manche Nachbarn tricksten regelrecht, um Bauvorhaben auf ihrem eigenen Grundstück genehmigt zu bekommen. „Komplett gegen das Bauen sind wir nicht“, beteuert die Cottage-Besitzerin. Es müsse sich nur im Rahmen halten.
Worum geht es den Planern wirklich?
So ist es am Ende eine Frage der Deutungshoheit, was im Green Belt passiert. Geht es wirklich nur um dringend benötigen Wohnraum? Oder auch um die Privilegien einiger Wohlhabender, die keine Menschenmassen in ihren sorgsam gepflegten Hinterhöfen wollen? Um sensible Ökosysteme? Um Geldmacherei? Um politische Spielchen? Womöglich steckt in allen Aspekten ein Funken Wahrheit, und genau das macht die Diskussion so kompliziert.

Und dann wäre da noch die Umsetzung. Hunderttausende neuer Wohnungen zu bauen, stellt die Branche vor enorme Herausforderungen, ganz gleich ob im Grüngürtel oder in der Innenstadt. Schon die Vorgängerregierung hatte sich diesbezüglich hehre Ziele gesetzt, die sich dann doch als illusorisch herausstellten.
„Auch im Vereinigten Königreich sind Bauprojekte mit viel Aufwand und Bürokratie verbunden“, sagt Ulrich Hoppe, Geschäftsführer der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer. Zwar handle es sich um ein „Land der Häuslebauer“, in dem große Firmen auch schon mal ganze Straßenzüge entwickeln. Doch durch den Brexit habe sich die Personalsituation nochmals verschärft. „Seither können Unternehmen keine Arbeitnehmer mehr aus der EU entsenden“, sagt Hoppe. Wenn überhaupt, dann müssten sie sich mit britischen Unternehmen zusammentun. „Der Markt ist groß“, sagt Hoppe, „aber trotzdem sehen wir noch keinen Ansturm deutscher Baufirmen.“
Bis in Großbritannien also wirklich massenhaft neue Wohnungen emporschießen, dürften im Green Belt noch einige Golfbälle durch die Gegend fliegen – ganz gleich, ob man das nun mag oder eben nicht.