Es war nach der deutschen Wiedervereinigung nicht selbstverständlich, dass neben dem Bundestag auch der Bundesrat nach Berlin zieht. Die heutigen MinisterÂpräsidentinnen sind sich einig: Erst mit dem Umzug ist die politische Einheit endgültig vollzogen worden.
Drei Tage vor dem zehnten Jahrestag der Deutschen Einheit, am 29. September 2000, war es soweit: Zehn Jahre nach dem Vollzug der territorialen und staatlichen folgte nun endgültig auch die politisch-organisatorische Einheit. Der Bundesrat lud nach mehr als 50 Bonner Jahren zu seiner ersten Sitzung in das ehemalige Preußische Herrenhaus an der Leipziger Straße ein, unweit des Potsdamer Platzes im Herzen des neuen Berlins – nahe der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Die damaligen Ministerpräsidenten waren überrascht von der Umgebung des altehrwürgen Prachtbaus aus der Wilhelminischen Zeit: In der Mitte Berlins schauten sie nördlich, westlich und südlich aus den Fenstern der Wandelgänge oder Büros des neu bezogenen Bundesrats in eine staubige Wüste Märkischen Sands, garniert mit einzelnen Baufahrzeugen. Westlich des Gebäudes ragte ein einsamer übriggebliebener DDR-Wachturm in den Himmel, der letzte stille Zeuge des Verlaufs des ehemaligen innerstädtischen Todesstreifens. Die Bundesratsverwaltung hatte zwar im Vorfeld der Berliner Eröffnungssitzung Druck gemacht, dass der Wachturm der DDR-Grenzer fast elf Jahre nach dem Mauerfall bitte endlich abgerissen wird. Doch das ging nicht: Die Eigentumsverhältnisse des Wachturms waren nicht geklärt. Ein West-Berliner Sponti, ein Aktivist aus Kreuzberg, hatte den Wachturm direkt nach der Wende den sich auflösenden DDR-Grenztruppen für 100 West-Mark abgekauft. Seitdem stritten die Stadt Berlin und jener Sponti vor den Gerichten um die Eigentumsrechte.
Ärger wegen altem Grenzwachturm
Inzwischen nahm der Bundesrat in neuen Räumen seine Arbeit auf. Die ehemaligen Mitarbeiter aus Bonn, die nun in Berlin ihren Dienst versahen, waren die ersten des Bundesrates, die unversehens in den Restwirren der Wiedervereinigung landeten. An jenem 29. September 2000 folgten ihnen die obersten Repräsentanten des Verfassungsorgans. Die zehn Ministerpräsidenten aus „Westdeutschland“ erlebten nun die neuen Bundesländer aus allernächster Nähe. Da traf es sich gut, dass der damalige Bundesratspräsident, der den Umzug vom Rhein an die Spree federführend begleitete, der Ministerpräsident von Sachsen war: Kurt Biedenkopf, lebenslang ein Wandler zwischen Ost und West. Geboren 1930 in Ludwigshafen in Rheinland-Pfalz, erlebte er den zweiten Teil seiner Kindheit in Schkopau in Sachsen. Nach dem Krieg lebte er dann wieder im Westen. 1990, zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung, erwarb Biedenkopf noch die Staatsbürgerschaft der DDR, um als CDU-Spitzenkandidat bei der ersten Landtagswahl im neuen Bundesland Sachsen antreten zu können. Als seine westdeutschen Amtskollegen zehn Jahre später im Bundesrat in Berlin ankamen, konnte er als erster westdeutscher politischer Aufbauhelfer schon zehn Jahre Erfahrung im „Beitrittsgebiet“ vorweisen. Im Nachhinein war es für Kurt Biedenkopf der entscheidende Moment, dass Exekutive und Legislative der Bundesrepublik wieder an einem Ort vereint waren. „Damit war die politische Deutsche Einheit endgültig vollzogen“, so Biedenkopf damals.
Die Bundesregierung und der Bundestag waren bereits im März 1999 nach Berlin umgezogen. Der Bundesrat konnte zu jener Zeit noch nicht mitkommen, da die Entscheidung für Berlin und gegen Bonn erst drei Jahre vorher gefallen war. Der Bundestag hatte sich bereits 1991 für Berlin als Regierungssitz entschieden, doch zu diesem Zeitpunkt lehnten die westdeutschen Ministerpräsidenten über alle politischen Grenzen hinweg mehrheitlich den Ratsumzug ab. Sie plädierten für einen Verbleib der Länderkammer in der Bundesstadt Bonn. Doch je näher der Umzugstermin von Parlament und Regierung vom Rhein an die Spree rückte, desto klarer wurde den Ministerpräsidenten, dass ein Bundesrat in Bonn aufgrund der engen Zusammenarbeit mit dem Parlament in Berlin nicht sinnvoll ist. Aus rein praktischen Gründen: Der Bundesrat tagt regulär einmal im Monat, immer freitags. Dort sollen unter anderem zustimmungspflichtige Gesetze aus dem Bundestag übernommen werden. Doch es kommt nicht selten vor, dass direkt zu Beginn der Bundesratssitzung die Länderkammer einer Einigung aus dem Bund-Länder-Vermittlungsausschuss zustimmen muss. Dann wandert, im wahrsten Sinne des Wortes, das unterschriebene Dekret in den Bundestag, das Gesetz wird vom Parlament abgestimmt, gegengezeichnet, und noch vor dem Mittagessen des gleichen Tages geht es zur endgültigen Abstimmung wieder in den Bundesrat. In Berlin sind Parlament und Länderkammer gut einen Kilometer voneinander entfernt, zwischen Bonn und Berlin liegen 604 Kilometer. Zu viel für ein schnelles Hin und Her staatsrechtlicher Dokumente. Am 27. September 1996 erfolgte daher doch noch der Beschluss: Der Bundesrat zieht nach Berlin. Den Bonn-Befürwortern waren endgültig die Argumente ausgegangen.
Neue Mehrheiten und neue Parteien
An den föderalen Gesetzmäßigkeiten hat sich seit dem Umzug zwischen Bund und Ländern seither jedoch nicht viel geändert. Einige staatsrechtliche Regularien wurden der Zeit angepasst, zum Beispiel jene über die Föderalismusreform. Dazu kam die Reform des Länderfinanzausgleichs oder die Einführung der Schuldenbremse, beides aktuell erneut in einem Reformprozess. Das politische Alltagsgeschäft im Bundesrat hat sich seit Bonner Zeiten nicht groß verändert.
Ein wichtiges Entscheidungskriterium der Länderkammer aber hat sich dennoch gewandelt: das der Mehrheiten. Zu Bonner Zeiten hatten die Bundesregierungen immer eine eigene Mehrheit im Bundesrat. Noch in den ersten zehn Jahren nach dem Bundesratsumzug nach Berlin prägten Union und SPD die Bundespolitik. Nach dem Umzug stellte die SPD den Kanzler, Rot-Grün hatte auch die Mehrheit im Bundesrat. Bis 2005 verrutschte die Mehrheit im Bundesrat zugunsten der Union, Gerhard Schröders Regierung hatte keine Mehrheit mehr, ein sicheres Zeichen für den anstehenden Regierungswechsel zur ersten Großen Koalition unter Angela Merkel. Seit aber im Juli 2011 in Niedersachsen Rot-Grün die damalige schwarz-gelbe Landesregierung ablöste, hatte die schwarz-gelbe Bundesregierung keine Mehrheit in der Länderkammer mehr. Merkel blieb trotzdem, ab 2013 wieder mit der SPD, noch acht Jahre im Amt, die ganze Zeit ohne Mehrheit im Bundesrat. Das galt dann auch für die Ampel und die aktuelle Koalition aus Union und SPD. Andererseits verfügt aber auch seit 2011 die führende Oppositionspartei im Bund über keine Mehrheit der Bundesratsstimmen. Die Berliner Republik ist parteipolitisch bunter geworden, in den 16 Bundesländern regieren derzeit 13 unterschiedliche Regierungskonstellationen. Union und SPD dominieren dabei weniger, es gibt mehr Dreier-Bündnisse. CDU/CSU und SPD regieren mit Grünen, FDP, Linken oder Freien Wählern, vor knapp einem Jahr ist noch das BSW als Regierungspartei auf Länderebene hinzugekommen. Allein die Länder-Entscheidungen für Gesetzes-Initiativen sind somit viel schwieriger geworden. Kommt dann noch der Bund bei fertigen Gesetzen ins Spiel, ist das fast schon automatisch ein Fall für den Vermittlungsausschuss.
Zu einem Abschluss kam indessen jedoch der Streit zwischen dem Wachturmbesitzer und der Stadt: Der Grenzwachturm der DDR steht bis heute als Mahnung an die ehemals tödliche innerdeutsche Grenze auf dem Gelände des Bundesrates.