ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen stellen Betroffene vor große Herausforderungen. Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie Helen Vogt erklärt die Bedeutung einer genauen Diagnose und des offenen Umgangs.
Wer kennt sie nicht, die hibbeligen, ständig zappeligen Kinder, die leicht ablenkbar sind, die eine geringe Aufmerksamkeitsspanne haben, die einmal begonnene Tätigkeiten oft nicht zu Ende bringen und häufig desorganisiert sind? Sie quasseln ständig dazwischen, springen über Bänke, wippen mit den Füßen, trommeln mit den Fingern, können nicht warten, bis sie an die Reihe genommen werden, hören nicht richtig zu, bringen Erzieherinnen oder Lehrer schier zur Verzweiflung und ihre Eltern an den Rand des Nervenzusammenbruchs.

Bei etwa 60 Prozent aller Kinder mit ADHS setzt sich die Erkrankung im Erwachsenenalter fort
So oder so ähnlich sind die Grundannahmen vieler Menschen über ADHS, der so schwer auszusprechenden Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Lange Zeit glaubte man, ADHS komme nur bei Kindern vor, bis zum Eintritt in das Erwachsenenalter würden sich die Symptome zurückbilden. Doch weit gefehlt. „Mittlerweile weiß man, dass Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität, Impulsivität, Schwierigkeiten mit der Emotionskontrolle, sowie Defizite in Strukturierung und Organisation, also die Grundsymptome bei ADHS, sich bei circa 60 Prozent der betroffenen Kinder in klinisch relevantem Maß ins Erwachsenenalter fortsetzen“, erklärt Helen Vogt. Die Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie aus Saarwellingen kennt die Folgen einer nicht erkannten ADHS-Erkrankung aus eigener Erfahrung. Bei ihr wurde erst nach der Geburt ihrer Kinder ADHS diagnostiziert, obwohl ihre Mitschüler und Lehrer sie schon in der Schulzeit gerne als „Chaos-Queen“ und „aufmüpfige Querulantin“ bezeichnet haben und sie aufgrund der ADHS-bedingten Reizoffenheit viele Fehlzeiten wegen Migräne hatte. Ihre Spezialgebiete sind deshalb Diagnostik und Therapien bei Patienten mit Neurodivergenzen.
Prominente Beispiele für ADHSler sind Eckhart von Hirschhausen, Will Smith, Jan Ullrich, Serena Williams, Jamie Oliver oder Justin Biber. Sie alle haben Außergewöhnliches geleistet. Weshalb Helen Vogt auch ungern von Defiziten oder einer Störung spricht, sondern lieber von „zu viel Aufmerksamkeit auf zu viele Dinge gleichzeitig.“
Im Gegensatz zu neurotypischen Menschen verarbeiten neurodivergente Menschen eintreffende Reize aus der Umwelt im Gehirn anders. Dies sind zum Beispiel Personen mit ADHS, Autismus, mit einer Lese- und oder Rechtschreibschwäche (Dyslexie), mit Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens (Dyskalkulie) oder einer Tic-Störung. Auch die Hoch- und Höchstbegabung mit ihren spezifischen Veränderungen in der Gehirnentwicklung und -funktion, kann man zu den Neurodivergenzen zählen.
Bei ADHS im Erwachsenenalter ändert sich im Vergleich zur Kindheit die Symptomatik häufig in ihrer Art und Ausprägung: Der motorische Bewegungsdrang bei Kindern kann sich bei Erwachsenen zu einer ständig vorhandenen inneren Unruhe entwickeln. Viele fühlen sich wie getrieben. Nervosität, Ungeduld, schnelle Ablenkbarkeit bei langweiligen Routineaufgaben, „Aufschieberitis“, Schwierigkeiten sich zu organisieren und insbesondere die große Emotionalität im Zaum zu halten, können vorherrschen.
Durch die meist bestehende Reizoffenheit und mangelnde Fähigkeit Irrelevantes „herauszufiltern“ besteht ständig die Gefahr einer Reizüberflutung. Dadurch sind sie schneller abgelenkt, müssen viel mehr Energie dafür aufwenden sich und ihre Aufmerksamkeit zu kontrollieren und ihre Umwelt zu strukturieren, erschöpfen dadurch schneller und geraten so zum Beispiel in einen Burn-out oder entwickeln chronische Schmerzen. Diese Symptomatik kann bei betroffenen Frauen zudem stark durch hormonelle Schwankungen wie PMS, Schwangerschaft, Stillzeit oder Menopause verstärkt werden.
Die Impulsivität im Kindesalter kann sich bei Erwachsenen reduzieren, doch spontane Einfälle genauer zu bedenken oder Dinge abzuwarten, das fällt auch Erwachsenen weiterhin häufig schwer. „Sie handeln oft bevor sie denken, fallen anderen ins Wort oder beenden deren Sätze, neigen zu Risikoverhalten wie riskanter Fahrweise, Suchtverhalten, Extremsportarten, impulsivem Essen oder Substanzkonsum. Ihnen fehlt sozusagen die Bremse im Kopf“, sagt Helen Vogt. „Man könnte ein ADHS-Gehirn mit einem Rennwagen vergleichen, der nur mit einer Fahrradbremse ausgestattet ist“.

Ein Problem mit der nicht erkannten ADHS ist, dass ein beachtlicher Anteil der Symptomatik nicht zugänglich für psychotherapeutische Maßnahmen ist und die betroffenen Menschen und Therapeuten dann häufig sehr frustriert sind, weil trotz hohem Leidensdruck die Umsetzung von Strategien nicht gelingt und keine langfristige Verbesserung eintritt. Dabei ist die ADHS laut Vogt „das dankbarste Krankheitsbild in der Psychiatrie“, da eine entsprechende medikamentöse Behandlung, eine störungsspezifische Psychoedukation und angepasste Therapiemaßnahmen zu einer massiven Verbesserung der psychischen Gesundheit, der Lebensqualität und des Funktionsniveaus führen können.
Bei Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) liegen die Besonderheiten vor allem im Bereich der sozialen Wahrnehmung und Kommunikation sowie in der Einschätzung von Routinen, Ritualen und Vorhersehbarkeit. Es bestehen deutliche Unterschiede in der Wahrnehmung der Welt. Diese wird auf vielen Kanälen fast gänzlich ungefiltert wahrgenommen und ist dadurch häufig schmerzhaft intensiv (Intense world syndrom). Durch den fehlenden „sozialen Autopiloten“ können autistische Menschen soziale Kommunikation nicht intuitiv deuten, sondern müssen den anstrengenden Umweg der bewussten analytischen Deutung erlernen, um in der neurotypischen Welt klarzukommen. Die zum Teil erheblichen Stressreaktionen auf Routineunterbrechungen oder Planänderungen sind für neurotypische Menschen meist nicht nachvollziehbar und werden negativ bewertet oder fehlinterpretiert.
Vor allem autistische Menschen mit hohem IQ und insbesondere weiblich sozialisierte Personen erlangen durch ihre ausgeprägte Fähigkeit zur Detailwahrnehmung häufig erstaunliche Fähigkeiten im Lesen und Vorspielen von neurotypischer Kommunikation (Masking), sodass sie häufig sehr spät oder gar nicht diagnostiziert werden. Dies ist aus mehreren Gründen sehr tragisch, da diese unerkannt autistischen Menschen häufig sehr unter ihrer wahrgenommenen Andersartigkeit leiden, sich diese nicht erklären können und somit häufig psychisch schwer erkranken.
Selbst eine geringfügige Abweichung in der Kommunikation kann bei Autisten Irritationen auslösen
Insgesamt werden Menschen mit autistischer Grundstruktur von neurotypischen Menschen häufig als komisch, sonderbar oder sogar bedrohlich wahrgenommen. Dies liegt vermutlich an der nicht ganz gleichen Wellenlänge in der Kommunikation. Selbst bei ausgeprägtem Masking werden minimale Abweichungen in nonverbaler sowie verbaler Kommunikation unbewusst wahrgenommen und rufen Irritationen hervor. Leider neigen die meisten Menschen dann dazu, mit Misstrauen, negativen Interpretationen und Abwendung zu reagieren, sodass sich autistische Menschen nicht nur innerlich anders und ausgeschlossen fühlen, sondern diese Ausgrenzung auch real immer wieder erleben.
„Gerade bei neurodivergenten Menschen, die es ohne Diagnose der Basisstörung bis ins Erwachsenenalter geschafft haben, besteht häufig eine Kombination aus typisch autistischer Wahrnehmung, ADHS und gegebenenfalls noch einer Hochbegabung oder überdurchschnittlichen Intelligenz, meistens begleitet von psychischen Sekundärerkrankungen“, berichtet Vogt. Oft treten diese vorwiegend genetisch bedingten Besonderheiten des Nervensystems zusammen auf und überlappen in ihrer Symptomatik und können sich teilweise auch gegenseitig verdecken.
Wie sich Patienten fühlen, die jahrelang selbst merken, dass etwas bei ihnen anders ist als bei anderen, schildert eine Patientin von Helen Vogt, die neben einer hochfunktionalen Autismus-Spektrum-Störung auch eine ADHS und eine Hochbegabung aufwies.

„Schon seit dem Kindesalter hatte ich häufig das Gefühl, dass alle anderen Menschen eine Spielanleitung für das Leben erhalten hätten, mit der sie intuitiv klar kommen. Bei mir selbst ist dies nicht so. Ich bin als Kind schon sehr zurückhaltend gewesen, habe wenige Freunde gehabt, soziale Situationen waren eher schwierig, ich bin teilweise gemobbt worden, habe nie richtig dazugehört. Gleichzeitig hatte ich immer einen starken Wissensdurst, ich konnte schon lange vor der Schule lesen und habe mich mit vielem Verschiedenen beschäftigt“, erzählt die Betroffene, die gern anonym bleiben möchte.
„Regelmäßig wiederkehrende Erschöpfungsphasen kenne ich seit meinem zwölften Lebensjahr. Nach dem Abitur bin ich dann erstmals deutlich depressiv geworden. Seitdem erlebe ich wiederkehrende Phasen mit teils schwerer depressiver Symptomatik. Einmalig habe ich sogar einen Suizidversuch unternommen, da ich mich den Anforderungen des Lebens nicht mehr gewachsen gefühlt habe. Insgesamt erlebe ich eine starke Diskrepanz zwischen meiner einerseits sehr ausgeprägten kognitiven Leistungsfähigkeit und andererseits deutlicher Überforderung durch die kleinen Dinge im Leben, mit denen die meisten anderen Menschen ohne größere Anstrengung zurechtkommen.“ Vor einigen Jahren führte die Patientin von Helen Vogt eine IQ-Testung durch. Dabei wurde ihre Hochbegabung bestätigt. Sie kam auf einen Quotienten von 140. „Seit längerer Zeit habe ich den Verdacht, dass ich autistisch sein könnte, da mir nach und nach immer mehr dazu passende Wahrnehmungsbesonderheiten und Verhaltensweisen aufgefallen sind.“ So hätte sie allgemein eine sehr starke Abneigung gegen Veränderungen und unvorhergesehene Dinge. „Einerseits bin ich extrem strukturiert auf der Arbeit, dafür komme ich zu Hause weniger gut klar. Ich schlafe sehr viel, und wenn ich sensorisch sehr gefordert bin, wie beispielsweise in einem Restaurant, dann schlafe ich teilweise auch dort plötzlich ein.“
Vogt kennt diese Problematik. „Die meisten dieser Patienten werden nach wie vor unter unzutreffenden oder falsch gewichteten Diagnosen behandelt. Leider nicht selten erfolglos. Wenn ich nicht weiß, welche Prozesse im Gehirn ablaufen, kann ich nicht zielgerichtet therapieren. Kommt zum Beispiel ein neurotypischer Patient mit einer angenommenen Agoraphobie (Angst vor Menschenmengen/ großen Plätzen/öffentlichen Verkehrsmittel) zum Therapeuten, kann man ihn mit einer Expositionstherapie behandeln. Man konfrontiert ihn solange mit der angstauslösenden Situation, bis die Angst abebbt, da die entsprechenden Befürchtungen nicht eintreten. Mache ich dasselbe mit einem autistischen Menschen, erlebt dieser eine absolute Reizüberflutung und gegebenenfalls einen Shutdown/Meltdown. Dann hilft ihm dieser Therapieansatz überhaupt nicht, sondern kann sogar sehr schädlich sein.“
Ein weiteres Beispiel aus der Praxis von Helen Vogt: „Ich hatte eine hochintelligente Patientin, die das Verhalten ihrer Mitmenschen wie eine Fremdsprache erlernt hat. Sie hat zum Beispiel gezählt, wie lange sich Menschen zur Begrüßung die Hand geben und wie lange sie sich anschauen und hat dies dann imitiert. Dadurch hat sie gut kaschieren können, dass sie kein eigenes intuitives Empfinden für solche Situationen hatte. Um ihren hohen Leidensdruck und die dahinterliegenden spezifischen Stressoren zu verstehen, war es sehr wichtig, dass die Autismus-Spektrum-Störung bei ihr diagnostiziert wurde. Sie konnte lernen, dass sie nicht falsch war, sondern einfach nur etwas anders.“ Die Erkenntnis der Andersartigkeit schaffte Freiräume und reduzierte die psychischen Sekundärsymptome wie Depression, geringes Selbstwertgefühl oder das Gefühl von Isolation. „Aus einem blauen Fisch kann man auch mit der besten Anstrengung keine Giraffe machen, aber man kann mit dem Wissen um sein Anders-Sein die Steppe verlassen und sich auf die Suche nach Wasser machen.“

Ob eine ADHS oder eine Autismus-Spektrum-Störung im Erwachsenenalter behandelt werden muss, hängt immer vom individuellen Leidensdruck der Betroffenen ab. Einigen hilft bereits das Wissen um die eigenen Wahrnehmungsbesonderheiten, ihre spezifischen Stressoren und die Zusammenhänge für die Entstehung störender Symptomatik. So können betroffene Schüler und Studenten Nachteilsausgleiche beantragen, mit denen sie unter anderem Prüfungssituationen so gestalten können, dass sie möglichst nicht in dem Abrufen ihrer Kompetenzen behindert sind. Betroffene Arbeitnehmer können mithilfe des Betriebsarztes oder des Integrationsfachdienstes ihre Arbeitsplätze möglichst strukturgerecht gestalten.
Wie das geht, berichtet Vogt am Beispiel einer anderen Betroffenen. „Ich hatte eine Patientin, die im Bereich medizinisches Controlling/Codierung gearbeitet und durch ihre ausgeprägte Detailwahrnehmung und Genauigkeit eine hohe Kompetenz in diesem Bereich besessen hat. Die Arbeit im Großraumbüro, die Erforderlichkeit vieler Telefonate und Kommunikationsprobleme mit den Kollegen führten allerdings zu ständigen Überlastungsreaktionen und Arbeitsunfähigkeitszeiten. Nachdem sie endlich die richtige Diagnose erhalten hatte und einen Betriebsarzt aufsuchen konnte, konnte ein Wechsel in ein Zwei-Raum-Büro mit Lärmschutzkopfhörern und eine Umstellung der notwendigen Kommunikation auf Mailkontakt erfolgen. Seitdem kann sie ihre Kompetenzen voll einbringen und eine außerordentlich gute Leistung abrufen, ohne selbst ständig in eine Überlastung zu geraten.“
Laut Vogt besteht im Umgang mit neurodivergenten Menschen noch ein großes Verbesserungspotenzial. Das betrifft sowohl das Bildungssystem, als auch den Arbeitsmarkt. „Oft könnten mit minimalen Änderungen der Umgebungsstrukturen oder der Abläufe viel artgerechtere Lern- oder Arbeitsbedingungen für Menschen mit ADHS, Autismus oder anderen Neurodivergenzen geschaffen werden“, betont Vogt. „Da wird momentan leider noch sehr viel Potenzial verschenkt und unnützes Leid fabriziert.“