Vor jedem Transfer im Profi-Fußball führt der aufnehmende Verein einen Medizincheck durch. Der gilt als Formsache. Ist er in Zeiten der Multi-Millionen-Transfers aber längst nicht mehr.
Vor zwei Jahren nahm die Karriere von Armel Bella-Kotchap so richtig Fahrt auf. Der gerade mal 20 Jahre alte Innenverteidiger hatte sich als Eigengewächs beim VfL Bochum durchgesetzt und war im Sommer für die Vereins-Rekordablöse von elf Millionen Euro zum FC Southampton in die Premier League gewechselt. Im ersten Spiel hatte er noch 90 Minuten auf der Bank gesessen, nach einem 1:4 in Tottenham stellte ihn Trainer Ralph Hasenhüttl in die Startelf, Bella-Kotchap spielte sich fest. Und so klingelte im September das Telefon. „Ich kannte die Nummer nicht“, sagte der Sohn des langjährigen Zweitliga-Stürmers Cyrille Florent Bella. Nach dem Gespräch habe er sich aber „riesig gefreut“. Es war nämlich Hansi Flick, der Bundestrainer. Er berief Bella-Kotchap erstmals in die Nationalelf, nahm ihn dann sogar mit zur WM in Katar. In Medienberichten wurde der Abwehrspieler gar als „Flicks
neuer Lieblingsspieler“ genannt.
2023 lief anders als geplant
Doch das Jahr 2023 verlief nicht so gut. Wegen einer Knieverletzung musste er für die ersten Länderspiele absagen und wurde bis heute nicht mehr vom DFB nominiert. In Southampton eroberte er nach der Verletzung seinen Platz zurück, obwohl Hasenhüttl nicht mehr da war. Doch Southampton stieg ab, der neue Trainer Russell Martin konnte mit dem Deutschen wenig anfangen und ein Wechsel nach Dortmund platzte. Bella-Kotchap wurde nach Eindhoven verliehen, wo er zunächst durch eine Schulterverletzung ausgebremst wurde und dann kaum noch zum Zug kam.
Eine Rückkehr nach Deutschland sollte für einen regelrechten Neustart sorgen. Die TSG Hoffenheim, immerhin Europa-League-Starter, suchte dringend einen Innenverteidiger. Es gab Kontakt, man wurde sich handelseinig – und dann zeigte sich, warum ein Transfer immer erst dann wirklich perfekt ist, wenn der Vertrag unterschrieben wurde. Denn der Medizincheck, die letzte Stufe vor der Unterschrift und in den Augen vieler eine Formsache, ist eben genau das nicht. Offenbar wurde bei Bella-Kotchap etwas festgestellt, was Hoffenheim dazu veranlasste, den Transfer nicht zu finalisieren. Was genau es war, ist nicht bekannt. Beide Seiten haben sich nie geäußert. Laut „Bild“ soll es sich um nicht näher bezifferte Herzprobleme handeln. Die freilich nicht so extrem sein können, dass Fußball ausgeschlossen ist. Denn am 28. August stand Bella-Kotchap für Southampton wieder auf dem Platz.
Es geht um Risikominimierung
Das Platzen des Transfers war umso ungewöhnlicher, weil einen Tag vorher schon der Wechsel von Oumar Solet von RB Salzburg nach Hoffenheim gescheitert war. Bei ihm sollen im Medizincheck Knieprobleme aufgetreten sein. Hoffenheim sagte nur: „Wir sind am Ende nicht zueinander gekommen.“ In der Verletzungshistorie des Franzosen sind ein Kreuzbandriss im Januar 2020 und ein Meniskusriss im September 2021 aufgeführt, im Sommer 2023 pausierte er mal einen Monat wegen Knieproblemen. Dennoch hat er vergangene Saison sehr oft auf dem Platz gestanden.
Das mag im ersten Moment kurios wirken. Ist es letztlich aber nicht wirklich. Denn beim Medizincheck geht es darum, gerade bei Spielern mit einer Verletzungshistorie, das Risiko einzuschätzen. Sowohl für Bella-Kotchap als auch für Solet hätte Hoffenheim wohl zweistellige Millionenbeträge an Ablöse zahlen müssen, die Verträge hätten eine mehrjährige Laufzeit gehabt. Und das vollzieht man eben nur, wenn man die Verletzungsanfälligkeit des Spielers als extrem gering erachtet. Deshalb ist es zuletzt durchaus häufiger mal der Fall gewesen, dass Spieler durch den Medizincheck fielen. Und es ist trotzdem nicht ungewöhnlich, dass die meisten danach weiter Fußball spielen, manche gar Jahre lang und (relativ) problemlos. Denn letztlich gibt es bei Problemen nach dem Medizincheck lediglich eine Risikoabwägung auf Seiten des aufnehmenden Vereins. Ist eine alte Verletzung ein Risiko? Wie lange fällt ein Spieler wegen einer aktuellen Einschränkung aus? Nicht auszuschließen ist in Einzelfällen, dass Vereine damit das Platzen eines ausgehandelten Transfers erklären wollen, weil sich plötzlich eine bessere Option aufgetan hat. Und wohl nicht ganz so selten ist es auch ein taktisches Manöver, um die Ablöse zu drücken.
Doch Bayer Leverkusen hat Victor Boniface im Sommer 2023 vor allem deshalb bekommen, weil Sportchef Simon Rolfes bereit war, das Risiko einzugehen. Der erst 22 Jahre alte Nigerianer hatte im März 2019 und im November 2020 schon zwei Kreuzbandrisse gehabt. Dortmund soll unter anderem deshalb abgewunken haben. Rolfes hatte nach Rücksprache mit den untersuchenden Ärzten ein gutes Gefühl. Der letzte Kreuzbandriss war fast drei Jahre her, Boniface hatte einen stabilen Körper, das Risiko erschien trotz eines Ablösevolumens von etwas mehr als 20 Millionen Euro vertretbar.
„Natürlich müssen wir unsere Hausaufgaben machen, das untersuchen und einschätzen, wie wir das Risiko sehen. Die Kreuzbandrisse sind ja nicht wegzudiskutieren“, sagte Rolfes: „Es war dann eine unternehmerische Entscheidung, ob wir das Risiko eingehen. Aus unserer Sicht war es das wert.“ Boniface schlug sensationell ein und legte mit einer starken Hinrunde mit den Grundstein für die überragende Leverkusener Double-Saison. Von Januar bis April fiel er aber tatsächlich auch wieder lange aus. Allerdings wegen einer Adduktorenverletzung, die mit der einstigen Knieproblematik nichts zu tun gehabt haben soll.
„Unternehmerische Entscheidung“
In Leverkusen hatten sie auch gute Erfahrungen mit einer solchen Einschätzung. Der Tscheche Patrik Schick, heute wahlweise Konkurrent oder Sturm-Partner von Boniface, wollte 2017 nach einer starken ersten Saison für Sampdoria Genua in der Serie A mit gerade mal 21 zu Rekordmeister Juventus Turin weiterziehen. Alles war besprochen, die Ablöse sollte rund 30 Millionen Euro betragen, Schick kam zum wie es so schön heißt „obligatorischen“ Medizincheck nach Turin, den der Club selbst via Twitter öffentlich gemacht hatte. Das niederschmetternde Ergebnis: Schick soll unter Herzproblemen leiden. Juve nahm Abstand von dem Transfer. Sampdorias Clubchef Massimo Ferrero sah darin einen Vorwand. „Es ist eine Farce“, schimpfte er: „Er ist nicht nur gesund, er ist sehr gesund. Was sie gefunden haben, ist mit einer Erkältung gleichzusetzen.“
Schick bestätigte Jahre später in der „Bild“, er habe „damals etwas am Herzen“ gehabt. Es sei aber nichts Chronisches gewesen. Heute sei alles „medizinisch komplett abgeschlossen“, er habe nur ein einmonatiges Trainings- und Spiel-Verbot ausgesprochen bekommen. Sechs Wochen nach dem geplatzten Transfer wechselte er für 40 Millionen zur AS Rom, später nach Leipzig, wo Sportdirektor Markus Krösche erklärte: „Natürlich haben wir alle wichtigen Untersuchungen gemacht. Und auch beim Herz genau hingeschaut. Aber da ist nichts, das waren lediglich Gerüchte, die nicht stimmen. In Italien sind die Anforderungen noch größer als bei uns.“ Nach einem Jahr Leihe verpflichteten die Leipziger ihn nicht fest, allerdings offiziell aus finanziellen Gründen. Leverkusen schlug zu und Schick voll ein.
Wie kurios die Ergebnisse der Medizinchecks sind, wie viel Abwägung und Interpretation da drinsteckt und wieviel Momentaufnahme, zeigt gleich doppelt das Beispiel von Serhou Guirassy. Der 20-Jährige vom OSC Lille stellte sich im Juli 2016 zur Untersuchung beim 1. FC Köln vor. Und der FC twitterte danach, man habe „eine behebbare Beeinträchtigung festgestellt“. Sportchef Jörg Schmadtke stellte klar, dass man Guirassy nicht mehr „zu den verhandelten Bedingungen verpflichten“ werde. Lilles Kaderplaner Jean-Michel Vandamme polterte, man werde „nicht neu verhandeln“, weil Guirassy nichts Karrieregefährdendes habe. Schmadtke konterte, der Funktionär aus Lille erzähle „Unsinn“ und agiere „unseriös“. Am Ende wechselte Guirassy doch, aber statt fünf Millionen kostete er nur 3,8. Guirassy musste sich aber tatsächlich erst einmal einer Operation unterziehen, bevor er in Köln ins Training einsteigen konnte.
In diesem Sommer dann ein Deja-vu für den Franzosen. Nach einer sensationellen Saison mit 30 Toren in 30 Pflichtspielen für den VfB Stuttgart war er sich früh mit Dortmund einig. Doch nach dem Check teilte der BVB mit: „Während einer medizinischen Untersuchung von Serhou Guirassy wurde eine Verletzung festgestellt, die einer weiteren Abklärung bedarf.“ Mit der damaligen Blessur hatte dies aber nichts zu tun, eine Anfang Juni bei der Nationalelf Guineas zugezogene Verletzung war noch nicht ganz verheilt. Der BVB fürchtete einen Ausfall von bis zu drei Monaten, Guirassy kehrte nach Stuttgart zurück. Eine Woche später war der Wechsel aber fix. Die zweite Untersuchung hatte ergeben, dass keine Operation am betroffenen Knie nötig ist. „Guirassy wird nun zunächst einige Wochen lang ein individuelles Aufbauprogramm absolvieren und den Einschätzungen der Ärzte zufolge noch im Sommer einsatzfähig sein können“, teilten die Dortmunder mit. Am 27. August stand er erstmals auf dem Trainingsplatz.