Der Pflegenotstand ist in Deutschland zur traurigen Realität geworden. Überall fehlt es an Fachpersonal. Roboter sollen künftig dort helfen, wo der Mensch fehlt. Wie das gehen soll, weiß Prof. Dr. Oliver Bendel, ein Experte auf dem Gebiet der Technikphilosophie.
Herr Prof. Dr. Bendel, Sie haben das Buch „Soziale Roboter“ herausgegeben und mehrere Beiträge dafür verfasst, können Roboter sozial sein?
„Soziale Roboter“ ist ein Fachbegriff, der sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Gemeint sind Roboter, die für den Umgang mit Menschen oder Tieren geschaffen wurden. Sie sind neuartige Entitäten in sozialen Gemeinschaften. Mein Modell der fünf Dimensionen umfasst die Interaktion mit Lebewesen, die Kommunikation mit Lebewesen, die Abbildung von Merkmalen von Lebewesen und die Nähe zu Lebewesen. Im Zentrum ist der Nutzen für Lebewesen. Ich betone also, dass Menschen wie Tiere betroffen sein können. Wenn mehrere dieser Dimensionen vorhanden sind, kann man von einem sozialen Roboter sprechen.
Wozu brauchen wir Roboter in der Pflege?
Roboter in der Pflege können Personal von Krankenhäusern, Pflegeheimen und Altenheimen unterstützen und entlasten. Transport-, Sicherheits- und Reinigungsroboter, die für solche Einrichtungen angepasst wurden, sind ein Beispiel. Ein anderes Beispiel sind Pflegeroboter im engeren Sinne. Sie unterstützen zudem Pflegebedürftige. Sie stärken zum Beispiel deren persönliche Autonomie. Leider können sie auch die informationelle Autonomie schwächen, indem sie in die Privat- und Intimsphäre eindringen und personenbezogene Daten verarbeiten und weitergeben.
Wer entwickelt solche Maschinen?
Pflegeroboter werden mehrheitlich in Forschungseinrichtungen und in kleineren und mittleren Unternehmen – häufig Start-ups und Spin-offs – entwickelt. Sie liegen als Prototypen oder in Kleinserien vor. Man ist seit Jahren in einer Test- und Experimentierphase. Therapieroboter wie Paro haben sich dagegen schon weit verbreitet. Es existiert ein Markt für Therapieroboter, der sich auf Demente und auf Autisten ausrichtet.
Welche Aufgaben könnten Pflegeroboter künftig unternehmen?
Pflegeroboter können schon heute Dinge vom Boden aufheben, sie können Flaschen öffnen und reichen. Sie können Patienten zu Terminen einsammeln und ihnen Übungen vormachen. Oder Fieber messen und andere Untersuchungen vornehmen. Sie sind kaum in der Lage dazu, Nahrung zu reichen, Patienten an- und auszuziehen und sie zu waschen. Daran forscht man aber bereits. Dabei ist nicht das Ziel, dass Pflegekräfte ersetzt werden. Sie sollen unterstützt werden, und sie sollen Zeit für andere Aufgaben haben.
Welche Vorteile hätte ein Roboter gegenüber dem menschlichen Personal?
Transport-, Sicherheits- und Reinigungsroboter können rund um die Uhr ihre Arbeit tun. Dabei können sie Standards verbindlich und zuverlässig einhalten. Pflegeroboter können weiterhin Tätigkeiten ausüben, die für Pflegekräfte anstrengend oder unmöglich sind. Robear aus Japan war als Prototyp verfügbar, wird aber im Moment nicht weiterentwickelt. Er konnte im Tandem mit dem Pfleger oder der Pflegerin auch sehr schwere Personen umbetten. Er war selbst entsprechend groß und schwer.
Welche Infrastrukturen wären hilfreich, um Roboter in den Arbeitstag zu integrieren?
Barrierefreie Gebäude sind nicht nur für Behinderte, Alte und Schwache, sondern auch für Roboter ideal. Rampen und Aufzüge können ihnen bei der Fortbewegung helfen. Kameras und Sensoren ermöglichen es ihnen, um die Ecke zu schauen und Einblicke in andere Bereiche zu erhalten. Für die Datenverarbeitung ist eine Private Cloud oft eine gute Lösung. Damit wird vermieden, dass personenbezogene Daten in die Public Cloud von Amazon, Microsoft, Google und Co. geraten. W-Lan und schnelles Mobilfunknetz sind ebenfalls Voraussetzungen.
Welche Nachteile der Roboter gäbe es?
Viele sogenannte Pflegeroboter sind soziale Roboter einer bestimmten Machart. Sie haben natürlich sprachliche Fähigkeiten oder geben Töne von sich. Sie zeigen Empathie und Emotionen, ohne sie zu haben, sie informieren und unterhalten. Nur wenige Pflegeroboter haben weitreichende physische Fähigkeiten, können wirklich anpacken und zupacken. Genau das wäre aber wichtig.
Eine Lösung ist, einen Cobot, wie man ihn aus der Industrie kennt, auf eine mobile Plattform zu montieren. Ein solcher Roboterarm ist gemacht für die Nähe zu Menschen. Er kann mit ihnen eng zusammenarbeiten, ohne sie zu behindern oder zu verletzen. Zusammen mit der mobilen Plattform und einer geeigneten Programmierung entsteht ein Pflegeroboter mit weitreichenden Möglichkeiten. Der Roboterarm kann mit unterschiedlichen Greifern und Endstücken ausgestattet werden, er kann etwas nehmen, etwas bearbeiten und jemanden massieren. Ein Beispiel für eine solche Umsetzung ist Lio aus der Schweiz.
Gibt es bereits Modellprojekte mit Robotern im Einsatz?
Es gibt seit Jahren Tests mit Pflegerobotern und Robotern in der Pflege, in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz. Es werden in Alten- und Pflegeheimen sowohl Prototypen als auch Modelle aus Kleinserien eingesetzt. Zudem werden einzelne Funktionen und Szenarien in Labors und simulierten Pflegeeinrichtungen getestet.
Wie reagieren die Senioren auf den Einsatz von Maschinen?
Die Senioren reagieren tendenziell aufgeschlossen. Mit dem Pflegeroboter kommt etwas Neues in ihren Alltag, ein neuer Gegenstand, der zum Gesprächsgegenstand wird. Wenn er ihnen einen Mehrwert bietet, ist die Akzeptanz hoch. Sie fühlen sich wertgeschätzt, weil das Neueste vom Neuen an ihnen ausprobiert wird.
Viel schwerer ist es, die Angehörigen zu überzeugen. Sie haben schon ein schlechtes Gewissen, weil Vater oder Mutter im Pflege- oder Altenheim sind. Wenn sie dann noch erfahren, dass ein Roboter unter ihnen ist, wächst das Unbehagen. Das Pflegepersonal ist gespalten. Die einen schätzen die mögliche oder tatsächliche Unterstützung, die anderen fürchten, eines Tages nicht mehr gebraucht zu werden.
Was ist, wenn ein Roboter defekt ist?
Man sollte mehrere Roboter in einer Einrichtung betreiben. Ein Exemplar kann ausfallen oder einfach Strom benötigen. In der Regel werden für Serviceroboter bestimmte Serviceverträge abgeschlossen. Der Hersteller kümmert sich um Reparatur und Wartung oder stellt ein Ersatzgerät zur Verfügung.
Wie steht es um die Kosten für Wartung und Anschaffung?
Pauschal sind dazu kaum Angaben möglich. Ein Pflegeroboter kann mehrere Zehntausend Euro kosten. Neben dem Kauf gibt es die Möglichkeit der Miete oder des Leasings. Meist wird mit dem Hersteller oder dem Händler ein Servicevertrag abgeschlossen. Eine Versicherung ist ebenfalls geboten.
Sehen Sie ethische Schwierigkeiten bei solchen Robotereinsätzen?
Die Informationsethik untersucht, ob und wie Roboter in der Pflege die informationelle Autonomie verletzen. Dringen die Roboter in die Privat- und Intimsphäre ein? Werden die Datenschutzbestimmungen eingehalten? Neben ethischen interessieren rechtliche Fragen. Die Informationsethik fragt zusammen mit Technik- und Roboterethik aber auch danach, wie die persönliche Autonomie gestärkt wird.
Die Wirtschaftsethik geht der Frage nach, wie sich die Arbeit von Pflegekräften verändert und ob Arbeitsplätze in Gefahr sind. Wenn neue Arbeitsplätze geschaffen werden, ist von Bedeutung, ob diese die gleiche Autonomie zulassen oder ob das Mensch-folgt-Maschine-Prinzip gilt: Die Maschine legt etwas vor, der Mensch legt nach. Das kann sehr unbefriedigend sein.
Man kann grundsätzlich nach der Menschenwürde fragen. Es geht aber nicht nur um das Menschenbild, sondern auch um das Roboterbild. Roboter muss man sich nicht als Maschinen vorstellen, die Menschen bedrängen und verdrängen. Sie sind im Gegenteil von Anfang an dazu gedacht, uns Tätigkeiten abzunehmen, die langweilig, anstrengend, gefährlich oder unmöglich sind. Wenn wir Roboter als Werkzeuge gestalten, die wir fest in der Hand haben, wird die Menschenwürde kaum verletzt. Vielmehr ist Homo sapiens und speziell Homo faber, der technische Mensch, so überhaupt erst möglich.
Welche Zukunft steht den Robotern bevor?
Die physischen, motorischen Fähigkeiten der Roboter müssen und werden sich verbessern. Damit entstehen neue Möglichkeiten der physischen Manipulation der Umwelt, zu der Menschen wie Gegenstände gehören. Allerdings können die Roboter damit mehr Schaden anrichten. Sie drohen uns zu entgleiten. Außerdem erhöht sich bei einigen Modellen der Autonomiegrad. Je mehr Autonomie bei den Maschinen, desto weniger bei den Menschen. Und desto mehr maschinelle Entscheidungen, die auch falsch sein können, ohne dass die Maschinen die Verantwortung dafür zu tragen vermögen.
Ich erwarte viel von Sprachmodellen, die gerade in aller Munde sind, wie GPT-3 und GPT-4 oder PaLM-E. Über die Roboterkameras erfasste Bilder von Räumen und Objekten und ihren jeweiligen Zuständen im Zeitverlauf werden in solche Sprachmodelle integriert. Der Serviceroboter kann auf Zuruf beliebige Aufgaben ausführen, ohne dass er diese vorher kennen und bewältigen muss. Das aufwendige Training fällt ganz oder teilweise weg.
Sprachmodelle mit solchen Wahrnehmungs- und Steuerungsmöglichkeiten wären interessant für Lio und Optimus – den geplanten Allzweckroboter von Tesla – oder für soziale Roboter im Bildungsbereich, die nicht nur kommunizieren, sondern in vielfältiger Weise interagieren. Wichtig ist, dass den Fähigkeiten bei der Wahrnehmung und Steuerung entsprechende Fähigkeiten der Motorik gegenüberstehen. Dies ist weitgehend der Fall bei den genannten Modellen, nicht jedoch bei Pepper, NAO und Co.
Ist das Ausweichen auf Roboter ein Armutszeugnis für den Pflegestand in Deutschland oder eine notwendige Ergänzung?
Serviceroboter sind einfach nützliche Werkzeuge, und zwar in fast jedem Bereich. Wir sind eben Homo faber. Ohne Werkzeuge können wir nicht überleben. Schon in der Antike wurden Maschinen gebaut. In Renaissance und Barock entstanden wegweisende Skizzen und Prototypen, die autonome Autos, Drohnen und Helikopter vorwegnahmen, zudem berühmte tier- und menschenähnliche Automaten. Um 1940 erblickten dann Roboter das Licht der Welt.
Ein Armutszeugnis ist, dass in Deutschland die Pflegekräfte nicht besser bezahlt werden und nicht höhere Anerkennung erfahren. Es ist ein in hohem Maße verantwortungsvoller und anspruchsvoller Beruf. Der Einsatz von Robotern wird im Pflegebereich kaum gravierende Probleme schaffen. Er wird aber auch kaum essenzielle Probleme lösen.