Eine neue Generation intelligenter Prothesen soll direkt am Knochen überwachen, ob Brüche heilen. Wie genau das funktioniert, beschreibt Prof. Dr. med. Bergita Ganse. Sie koordiniert das Projekt „Smarte Implantate" an der Universität des Saarlandes.
Ob nach einem schlimmen Unfall mit dem Motorrad oder nach der Blutgrätsche beim Fußball – jeder Unterschenkelbruch ist anders. Je nachdem, welche Kräfte auf den Knochen einwirken, ist das Schadensbild verschieden und reicht vom großen Bruchstück bis hin zu kleinteiligen Knochentrümmern. Dementsprechend verläuft auch jeder Bruch so individuell wie die Ursache dafür war. Ein Team von der Universität des Saarlandes forscht nun daran, wie der Heilungsprozess per gezielter Bewegung direkt an der Bruchstelle aktiv angeregt werden kann. „Wir sind weltweit führend", erklärt Prof. Dr. med. Bergita Ganse stolz.
2021 übernahm sie die Werner-Siemens-Stiftungsprofessur „Innovative Implantatentwicklung (Frakturheilung)" an der Uni und somit die weitere Koordination des Projektes „Smarte Implantate", das sie mit Unfallchirurg Prof. Tim Pohlemann gemeinsam leitet. Das Projekt wird von der Werner-Siemens-Stiftung seit 2019 mit acht Millionen Euro gefördert. Es kooperieren Prof. Stefan Diebels und seine Arbeitsgruppe auf dem Gebiet der Technischen Mechanik, der Informatiker Professor Philipp Slusallek und sein Team am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz sowie die Spezialistinnen und Spezialisten für intelligente Materialsysteme um Professor Stefan Seelecke an der Universität und am Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik.
Knochenbrüche stimulieren
Erstmals wurde nun das nötige bekannte Wissen zusammengetragen und publiziert, wie Knochenbrüche am besten stimuliert werden, um das beste Heilungsergebnis zu erzielen. Bergita Ganse erklärt: „Implantate für Knochenbrüche sind bisher statisch, können sich also nicht aktiv bewegen. Üblicherweise nimmt man entweder einen Titan-Nagel oder eine Titan- oder Stahlplatte und bringt dieses Implantat im Knochen an." Doch bereits in den 80er-Jahren sei nachgewiesen worden, dass Knochenbrüche besser und vor allem schneller heilen, wenn man sie dabei aktiv mechanisch stimuliert.
Wenn man dem Knochen während des Heilungsprozesses im Zeitraffer zuschauen könnte, wären an den Bruchstellen kontinuierliche Veränderungen sichtbar, während sich neues Knochengewebe bildet, erläutert sie. Das geht aber nicht, weswegen sich lediglich auf Röntgenbildern und somit nur in zeitlichen Abständen und mit Verzögerung zeige, wie die Heilung verläuft. Die „Smarten Implantate" an der Saar-Uni seien nun die ersten ihrer Art. Mittels Gestellen außerhalb der Haut, die mit Schrauben versehen wurden, die durch die Haut in den Knochen gehen, sei es bereits simuliert worden. „So wurde gezeigt, dass der Knochen um mehr als 20 Prozent schneller heilt", sagt Bergita Ganse, „und das würden wir gerne erzielen, indem wir die Implantate unter die Haut bringen."
Konkret soll nun mit dieser neuen Klasse von Implantaten die Bruchsteifigkeit und Bruchverschiebung direkt an der Bruchstelle permanent überwacht werden. Wenn sich hierbei Probleme zeigten, soll das Implantat selbst aktiv gegensteuern, indem es sich bewegt oder versteift – und zwar ohne, dass hierzu weitere Eingriffe nötig sind. In zahlreichen Vorstudien habe das Forschungsteam unter anderem bereits herausgefunden, dass Frakturen schneller heilen, wenn die Bruchstelle durch Mikrobewegungen stimuliert wird. Ein Prototyp des smarten Implantats soll 2025 vorliegen.
Das könne man sich ein bisschen wie Massage-Motoren vorstellen, die aus verschiedenen Materialien zusammengefügt wurden, erläutert sie. Das sei so bislang nicht möglich gewesen, weil die Technik beispielsweise noch deutlich zu groß war. „Es gibt ja aber diese Smart Materials, die man über relativ kleine Computerchips ansteuern kann." Zudem könne man durch Fortschritte in der Elektrotechnik einiges möglich machen. Bergita Ganse erklärt: „Das nutzen wir, um das Implantat mit einem Computerchip und einer Platine auszustatten, auf der auch Bluetooth eingebaut ist, womit man per App mit dem Implantat kommunizieren kann. Und zwar so, dass man über die App sehen kann, ob der Knochenbruch heilt und wie sich die Steifigkeit verändert."
Eines dieser Materialien ist Nickel-Titan, das ist in diesem Fall ein haarfeiner Draht und hat eine sogenannte Form-Gedächtnis-Legierung. Wenn man diesen Draht nun erhitzt, zieht es sich zusammen. Wenn man also Strom anlegt, wird der Draht kürzer, wodurch sich das gesamte Implantat zusammenzieht. Die Leiterin erläutert: „Wir haben herausgefunden, dass 0,5 Millimeter perfekt sind als Hub, um so einen Knochenbruch zu stimulieren. Mehr braucht es gar nicht." Sie nennt das Beispiel Büroklammern aus Form-Gedächtnis-Legierung. Wenn man diese verbiege, dann seien sie völlig zerknüllt. „Wenn man sie aber in warmes Wasser wirft, springen sie zurück in ihre ursprüngliche Form."
Diese Formgedächtnisdrähte reagieren also im Endeffekt so ähnlich wie Muskeln beim An- und Entspannen. Sie haben die höchste Energiedichte aller bekannten Antriebsmechanismen und erreichen auf kleinem Raum eine hohe Zugkraft. Jeder Länge der Drähte lässt sich ein exakter Messwert des elektrischen Widerstands zuordnen. Sind die Drähte im Implantat eingebaut, lassen sich selbst kleinste Veränderungen im Frakturspalt in den Messwerten ablesen. Das mache diese künstlichen Muskeln sozusagen zu Sensoren im Implantat. Zugleich entspreche eine Abfolge solcher Messwerte einem Bewegungsablauf.
Mithilfe der Zahlenkolonnen und intelligenten Algorithmen würden sich Bewegungsabläufe vorausberechnen, programmieren und die Drähte entsprechend automatisiert ansteuern lassen. So könnte das Implantat sich ohne weiteres direkt am Frakturspalt bewegen und die Heilung durch aktives Verkürzen und Verlängern, durch Aussenden von Impulsen, Wellen oder elektromagnetischen Feldern stimulieren. Aktuell arbeiten die Forscherinnen und Forscher an der Feinjustierung und den Details, um diese elektronischen Muskeln für den Einsatz im Implantat fit zu machen.
Dass der Knochen trotz Implantat nicht zusammenwächst, sei beim Schienbeinbruch eine relativ häufige Komplikation, die bei 100 Patientinnen und Patienten etwa 14 betreffe. Es sei schwierig, die Verzögerung bei der Frakturheilung frühzeitig von außen zu erkennen, um einzugreifen. „Dies bedeutet für die Betroffenen langwierige Behandlung und für das Gesundheitssystem sehr hohe Kosten", erläutert die Unfallchirurgin. In vielen Bereichen betreten die Forscherinnen und Forscher Neuland. Bislang ist zum Beispiel noch nicht definiert, welche Kräfte, Frequenzen, Kraftrichtungen, Dauer, Zeitperioden oder andere Stimuli solche Implantate idealerweise liefern sollten.
Auch für andere Körperstellen
Betrachtet wird der Bruch eines Schienbeins, den man besonders gut untersuchen könne, weil der Knochen direkt unter der Haut ist. „Deshalb haben wir uns das ausgesucht." Sei die Technik erst mal etabliert, könnte sich das Team gut vorstellen, dass es solche Implantate auch für weitere Körperstellen gibt. „Wir entwickeln im Moment die Technik, machen Erfindungen, melden Patente an, klären die Grundlagen und versuchen, die Technik so klein zu kriegen, dass sie in ein Implantat passt."
In die Koordination des Projektes bringt Bergita Ganse auch ihre Erfahrung als Weltraummedizinerin ein. Sie forschte in Projekten beim Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt in Köln und mit der europäischen Weltraumorganisation Esa und der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde Nasa unter anderem daran, wie sich Knochen und Muskeln im All abbauen. Sie war beteiligt an einem Experiment auf der Internationalen Raumstation ISS und half dabei, für Astronautinnen und Astronauten Trainingsmethoden zu entwickeln, um dies zu verhindern und die Muskulatur per Elektrostimulation zu erhalten.
Sie erläutert: „In Schwerelosigkeit bewegt man sich ja weniger, da braucht man keine Kraft. Aber trotzdem bewegt man die Beine und Arme, deshalb ist das ein spannendes Thema." Es sei auch jetzt zu Corona-Zeiten noch spannend, da sich viele Leute einfach viel weniger bewegt haben als sonst. Wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Raumfahrt könne man im Endeffekt sehr gut auf „normale" Patienten übertragen. Bergita Ganse erläutert: „In der Raumfahrt ist ja immer die Frage: Wie viel muss man einen Knochen belasten, damit er erhalten bleibt, wie viel muss man trainieren und wie trainiert man am besten? Und das sind die gleichen Fragen wie bei einer Knochenbruch-Heilung."