Am 26. Mai wird im Rahmen der Musikfestspiele Saar ein regelrechtes Feuerwerk entzündet: Das Brasilianische Jugendorchester Neojibá bringt mit 130 Musikern die Bühne zum Kochen. Dabei geht es nicht nur um Musik – sondern um ein ganz besonderes Projekt.
Mit „Mambo“, dem vierten der sinfonischen Tänze aus der „West Side Story“, hat Leonard Bernstein ein echtes Feuerwerk komponiert. Ganz in seinem Sinne geht „Mambo“ in die Beine, in den ganzen Körper – Schlagzeuger und Blechbläser heizen den rivalisierenden Jugendbanden mit den kubanisch inspirierten Rhythmen in der Tanzwettbewerbszene ein. Spätestens jetzt wird man im Staatstheater merken, dass junge Brasilianer auf der Bühne stehen, die der furiosen Musik noch mal einen Extraschwung geben und ihr etwas von der Härte nehmen. Denn Neojibá steht auch für Aussöhnung, für Miteinander, nicht Gegeneinander. „Jibá“ könnte auf eine auf dem afrikanischen Kontinent beheimatete Heilpflanze verweisen. „Neojibá“ ist ein Regierungsprogramm des brasilianischen Bundesstaates Bahia, Ziel ist die soziale Integration durch gemeinsames Musizieren. 2007 ins Leben gerufen, orientiert sich Neojibá am vom venezolanischen Komponisten José Antonio Abreu erdachten staatlichen Musikausbildungsprogramm „El Sistema“. Ab den 70er-Jahren ermöglichte „El Sistema“ auch den ärmsten Kindern Lateinamerikas einen Weg in die Musik. „Musik für sozialen Wandel“ – im gemeinsamen Spiel Toleranz, Disziplin, Solidarität erleben. Ein einendes Gefühl von Erhabenheit, das Musik für jeden spürbar machen kann, ein sozialer Kitt, die musikalische Ausbildung als Leitschnur in der persönlichen Entwicklung oder sogar als Aufstiegsmöglichkeit. Berühmtester Spross ist der weltweit gefeierte Dirigent Gustavo Dudamel. Nicht zum ersten Mal reisen nun rund 130 hochtalentierte Musikerinnen und Musiker zwischen 13 und 27 Jahren nach Europa, spielen unter der Leitung von Ricardo Castro in Frankreich, Italien, Österreich, Deutschland, den Beneluxländern und am 26. Mai in Saarbrücken. Das Programm führt nach Brasilien, Mexiko, Argentinien und Nordamerika, ganz in die „Neue Welt“, wäre da nicht der 19-jährige brasilianische Violinist Guido Sant’Anna, der mit Jean Sibelius Violinkonzert die Brücke in die „Alte Welt“ nach Finnland schlägt.
Eva Karolina Behr von den Musikfestspielen Saar erklärt, wie die jungen Brasilianer auf den ersten Blick vielleicht nicht ganz in den diesjährigen Schwerpunkt Europa und deutsch-deutsche Einheit passen, dem Motto „Einheit, Vielfalt und Freiheit“ jedoch exakt entsprechen: „Neojibá ist ein Musterbeispiel für gelebte Vielfalt, Einheit und Freiheit. Sich durch dieses soziale Projekt aus prekären Verhältnissen zu befreien, Anerkennung und eine gemeinsame Sprache zu finden – das hier zu zeigen, gerade auch jungen Menschen, die wir über den Kontakt zu Schulen und Jugendorchestern hier vor Ort explizit ansprechen, ist für uns der Beweggrund gewesen, dieses Orchester einzuladen.“ Beispielhaft für ihren Weg zu Neojibá sprach FORUM mit Cellistin Pillar Gisele Rodrigues, Kontrabassistin Ana Júlia Couto, Fagottist Paulo Victor Bispo Ferreira und Schlagwerker Italuã Schneiberg. Bei allen spielte die Familie eine große Rolle, die Eltern sind selbst Musiker oder unterstützen tatkräftig. Alle vier möchten Musiker bleiben, sie studieren, musizieren im Orchester und in anderen Formationen. Kontrabassistin Ana Júlia Couto zum Beispiel fand im Zuge des Programms „Lernen durch Lehren“ Gefallen am Unterrichten.
„Musik ist Frieden und Trost“
Der junge Fagottist Bispo Ferreira erzählt: „Ich habe Verantwortung und Teamarbeit gelernt. Ich fand von klein auf Verbindung zu älteren Menschen, was mich reifen ließ.“ Dem Perkussionisten Schneiberg halfen international ausgerichtete Meisterkurse. Aus der „Komfortzone“ wagte sich die heute 23-jährige Ana Júlia Couto, deren Eltern keine Musiker sind: „Bei Neojibá habe ich herausgefunden, wer ich bin, Selbstvertrauen entwickelt, viel über die Gesellschaft, in der ich lebe, gelernt, ich bin gereist und habe Netzwerke aufgebaut.“ Musik ist für die vier: „Leichtigkeit, Frieden, Sicherheit, Trost und Inspiration“ oder „das Leben, das, was mich jeden Tag motiviert, meinem Leben einen Sinn gibt, weil ich etwas bewegen kann“, bis zu „Disziplin, Erziehung, Freiheit des Ausdrucks und die Verbindung zu ganz unterschiedlichen Menschen.“
Manche vom Orchester waren bereits in Deutschland. Dem Schlagwerker Italuã Schneiberg kommt zunächst seine familiäre Herkunft in den Sinn, wenn er an Deutschland denkt. „Mein Urgroßvater war Deutscher und Jude. Mein Nachname, Schneiberg, stammt von deutschen Juden ab. Außerdem mag ich den Fußballverein Bayern München und die deutsche Fußballnationalmannschaft sehr gern.“ Die deutsche Musiktradition – Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner – Geschichte, Architektur und Landschaft werden genannt. Fagottist Paulo Victor Bispo Ferreira mag nicht nur Musik: „Deutschland ist das Heimatland meines Lieblingsvereins Borussia Dortmund, den ich schon lange unterstütze und dem ich sehr verbunden bin. Ich denke, wenn ich an Deutschland denke, kommt mir als Erstes der Fußball in den Sinn.“ Brasilien ist ein Fußballland. Neojibá tourt durch die Welt, das Orchester agiert sehr professionell, was bedeutet das für die jungen Menschen? Kontrabassistin Ana Júlia Couto: „So formuliert, trifft mich die Erkenntnis! Im Alltag ist das alles sehr natürlich für uns, es ist Teil unserer Routine. Hervorragende Leistungen zu erbringen und Kompromisse zu schließen, haben wir schon vor langer Zeit gelernt, und Engagement ist für uns ganz selbstverständlich. Aber natürlich ist das alles auch sehr lohnend und spannend.“ Was zunächst spielerisch wirken mag, ist Privileg und Aufgabe. Cellistin Pillar Gisele Rodrigues erinnert sich: „Als ich im Alter von sieben Jahren eintrat, musste ich mich zu allen Proben, Cellounterricht, Auftritten, Chorgesangsstunden und Theorie verpflichten. Am Anfang war es wie ein Witz, aber als ich älter wurde, merkte ich immer mehr, wie wichtig und ernst es war.“
Was ist aber nun das Besondere am Neojibá-Klang? Die Antwort ist ganz einfach: die „baianidade“, jene tief verinnerlichte Gewissheit, aus Bahia zu stammen. Bahia an der Atlantikküste, die Hauptstadt Salvador de Bahia, hat innerhalb Brasiliens die meisten Einwohner mit afrikanischen Ahnen, was sich in der Kultur stark niederschlägt. Ana Júlia Couto betont die Fähigkeit, sich anzupassen. „Wir leben in einer Stadt voller Probleme, wir wissen, wie wir uns durch die Musik isolieren können, wir, die Neojibenses, sind unverwüstlich, und die Musik macht uns stärker.“
Italuã Schneiberg (24) erklärt, Neojibá sei einzigartig, weil klassisches Repertoire gespielt werde, während in Bahias Musik Volkstümliches vorherrsche, wie „axé“, „pagode“ und afrikanische Rhythmen, die wiederum über die „baianidade“ ihr Spiel beeinflussten. Was würden sie selbst gerne einmal mit Neojibá spielen? Schneiberg nennt Arturo Marquez, Tito Puente and Oscar de Leon. Júlia Couto nennt den Neojibá verbundenen Tubaspieler und Komponisten Jamberê Cerqueira, Rodrigues denkt an Strawinsky und Bispo Ferreira an Vivaldi. Lateinamerika in den Knochen, die europäische Musiktradition im Ohr, Neojibá bring eine einzigartige Kraft und Energie nach Saarbrücken.