Die Treibeiskante ist die Lebenslinie der Arktis: Wo der offene Ozean am zugefrorenen Meer leckt, tummeln sich im Sommer Wale, Robben und Vögel. In einem Zeltcamp im kanadischen Nunavut erlebt man die Tierwelt des Nordens und die Kultur der Inuit.
Melodische Pfiffe, mal in höchste Tonhöhen aufsteigend, mal bis ins Unhörbare in die Tiefe fallend: Das sind die Ringelrobben und die Sattelrobben, die am reich gedeckten Meerestisch anscheinend ein Festmahl feiern. Rhythmisches Keuchen und Klicken ergänzt ihren mehrstimmigen Gesang: Das sind die Narwale, die mit einem mysteriösen „Horn“ bewaffnet entlang der schmelzenden Treibeiskante Patrouille schwimmen und manchmal so weit auftauchen, dass ihre nach oben gebogenen Mundwinkel den Beobachtern ein geheimnisvolles Lächeln schenken. Dann stoppt das Unterwasserorchester urplötzlich. Eine Kunstpause? Wohl eher nicht. Es scheint, als halte alles unter Wasser gespannt den Atem an.
Aus dem Lautsprecher des Hydrophons kommt ein unbekanntes elektronisches Knistern. Es wird lauter und lauter: Offenbar nähert sich etwas Großes. Es klingt, als wieherten Seepferde, als schlössen sich quietschende Türen, als knarre uraltes Holz, als heulten gemeinsam all die im Ozean verborgenen Wassergeister, von denen sich die Inuit in langen Winternächten erzählen. Dann taucht er auf, nur eine Armeslänge entfernt, und krönt seinen pompösen Auftritt mit der Zurschaustellung seiner mächtigen Fluke: ein Grönlandwal.
Spannende Walbeobachtungen
„Wow. So groß“, flüstert mit belegter Stimme Expeditionsleiter David Reid, ein gebürtiger Schotte, der selbst nach Jahrzehnten in der Arktis noch das Talent hat, sich begeistern zu können für derart spektakuläre Naturschauspiele. „Es muss ein Weibchen sein. Sie erreichen eine Länge von fast 20 Metern und wiegen bis zu 100 Tonnen. Und sie werden uralt: Über 200 Jahre, mehr als jedes andere Säugetier.“
Die Treibeiskante ist eine Lebenslinie in der Arktis: Wenn sich im Frühsommer das Meer verlorenes Terrain zurückerobert und das Packeis schmilzt, sammelt sich hier die Tierwelt der Region. Millionen von Zugvögeln, dazu Eisbären, Walrosse, Seehunde, die weißen Belugawale, viele Narwale und sogar die seltenen Grönlandwale pilgern hierher. Sie warten darauf, dass der Weg frei wird in die zerklüfteten Fjorde der Küste Nunavuts, wo viel Futter lockt. Doch auch an der Grenze zwischen gefrorenem und offenen Wasser herrscht ein Überangebot an Nahrung: Im Eis konservierter Plankton wird frei, wovon erst der Krill, dann die Fische und schließlich die Raubtiere profitieren.
„Das ist wie ein Gefrierschrank voller Essen, der Monate lang verschlossen war und plötzlich aufgeht“, sagt Clive Tesar, der lange Jahre für das Arktisprogramm des World Wide Fund for Nature (WWF) gearbeitet hat. „Für eine kurze Zeit explodiert dann das Leben, bevor wieder der Winter kommt.“ Der Experte für den Norden nimmt neben gewöhnlichen Reisenden teil an einer besonderen Tour zur Eiskante: Übernachtet wird nicht im Hotel, sondern in Zelten auf dem Eis.
Fünfmal so groß wie Deutschland ist Nunavut im Norden Kanadas, größer als alle anderen Provinzen des Landes. 3.000 Kilometer weit fliegt man von Ottawa in Richtung Nordpol, erst in einer rustikalen Combi-Boeing, die sogar auf Schotter und Eis landen kann und vor den Passagierreihen einige Container Fracht transportiert, und anschließend mit einer Propellermaschine.
Endstation ist Pond Inlet, eine kleine Ortschaft mit gerade 1.500 Einwohnern – was ziemlich viel ist für Nunavut, wo insgesamt nur 32.000 Menschen leben. Über die Bräuche und Religion der Inuit informiert das Nattinnak Centre: Eine kleine Ausstellung erzählt von den Traditionen der Einheimischen und stellt die Tierwelt der Region vor. Wer möchte, kann ein paar Sätze in der lokalen Sprache Inuktitut lernen oder sich in der Bibliothek in die Geschichte des Ortes einlesen.
Als „Juwel der Arktis“ bejubelt eine Broschüre den Ort, der so weit weg ist vom Rest der Welt, dass ein Liter Milch selbst im Sonderangebot immer noch vier Dollar und 29 Cent kostet und ein Kilo Äpfel stolze acht Dollar und 75 Cent. Vielleicht waren die Autoren im Winter da, wenn der Schnee so manche Details gnädig verschwinden lässt, und wenn es wie überall in der Polarregion auch hier, im Norden von Kanadas größter Insel Baffin, ziemlich lange ziemlich dunkel ist. Im Frühsommer aber spaziert man durch Straßen, auf denen Müll im Wind tanzt und ein Quadbike einstauben, und die meisten Häuser haben den Charme von eilig zusammen gezimmerten Schuhkartons in einem Gewerbegebiet.
Größte Provinz Kanadas
Man schaut also besser in die andere Richtung. Der Blick aufs Meer gleicht alles aus, genauer gesagt der Blick auf die Ebene, die bald wieder Meer sein wird: Im Juni ist der Eclipse Sound noch zugefroren, und es wird noch einige Wochen dauern, bis dieser Abschnitt der Nordwestpassage wieder befahrbar sein wird für die Versorgungsfrachter und das eine oder andere mutige Kreuzfahrtschiff. Im Packeis sitzt ein gigantischer Eisberg fest. Wer über Wasserpfützen hüpfend zu ihm vordringt, trifft auf eine Inuitfamilie: Sie packt das Eis in Plastikboxen, um es später zu schmelzen und so das reinste Trinkwasser der Welt zu ernten.
Dahinter erheben sich die steil aufragenden Klippen und Gletscher der Bylot-Insel, dessen Sirmilik-Nationalpark tatsächlich zu den ungeschliffenen Edelsteinen der Arktis zählt. Trotzdem lockt er bislang nur wenige abenteuerlustige Reisende an, die hier die weltweit größte Brutkolonie von Schneegänsen beobachten, im von über 1.600 Meter hohen Bergen eingerahmten Fjord Oliver-Sund Kanu fahren oder auf der Borden-Halbinsel erodierte Türme aus rotem Sandstein erwandern. Das Ganze ist aber nur mit Guides erlaubt, die müssen die Besucher nämlich vor den Eisbären schützen.
„Leben von dem, was wir im Eis finden“
Genauso selten besucht wird die Eiskante, die wir mit Guide David Reid und dem Team einheimischer Inuit eine Woche lang erkunden. Mit Schneemobil und Komatik-Holzschlitten geht es von Pond Inlet 45 Meilen quer übers Packeis. Das Zeltcamp wird wenige Meter vom offenen Meer entfernt aufgeschlagen – und nach einigen Tagen verlegt. „An den meisten Stellen ist das Eis noch einen Meter dick. Doch wir beobachten genau, wo sich Risse bilden – dann müssen wir umziehen“, sagt Tommy Kalluk, der auch stets Ausschau hält, damit sich kein vorwitziger Eisbär nähern kann.
Wo welche Tiere gesehen werden können, erfährt er auch von seinen Inuit-Freunden, die entlang der Eiskante unterwegs sind und jagen. „Wir leben immer noch zum Teil von dem, was wir im Eis finden“, sagt der junge Mann. „Das ist besser, als irgendwo in einer Mine zu arbeiten und so die Traditionen zu vergessen.“ Rund um Pond Inlet dürfen jedes Jahr etwa 200 Narwale geschossen werden, was den Bestand anscheinend nicht gefährdet. Das Fleisch und der Speck der Tiere ist Nahrung für Menschen und Schlittenhunde, der gewundene Zahn wird im Kunsthandwerk verwendet.
Tierbeobachtungen, Wanderungen, Touren mit dem Schneemobil: Rund um die Uhr könnte man an der Eiskante unterwegs sein, denn die Sonne scheint 24 Stunden am Tag. Irgendwann ist man indes müde, verkriecht sich im Zelt. Die Augen schließen sich schnell, doch die Ohren bleiben noch lange offen. Denn die Eiskante ist so nah, dass man hört, wie die Narwale beim Auftauchen mit einem lauten „Pfff“ ausatmen, bevor sie wieder in der Tiefe verschwinden.