Warum hat es ausgerechnet der 3. Oktober zum Tag der Deutschen Einheit geschafft? Tag des Mauerfalls und Starttermin für die Wiedervereinigung war der 9. November 1989. Der 9. November 1918 war die Geburtsstunde der Demokratie in Deutschland.
Die für uns heute geschichtlichen Eckdaten sind in fast allen Fällen dem reinen Zufall von vorhergehenden Abläufen geschuldet. So brachte es der Publizist und Historiker Sebastian Haffner in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf den Punkt. Zu diesem Zeitpunkt konnte er noch gar nicht wissen, welche Rolle der 9. November für die deutsche Wiedervereinigung spielen sollte. Leitmotiv Haffners bei der Betrachtung der Demokratiebewegung Deutschlands – wie vieler seiner Kollegen – war immer der 9. November 1918. Um kurz nach 14 Uhr rief einer der damals führenden SPD-Politiker, Philipp Scheidemann, vom Balkon im ersten Stock auf der Westseite des Reichstages die Deutsche Republik aus. Kurz zuvor war Scheidemann in den Rat der Volksbeauftragten unter Leitung der SPD gewählt worden. Der Erste Weltkrieg war gerade wenige Tage vorbei, die kaiserliche Armee hatte an der Westfront kapituliert, Kaiser Wilhelm II. hatte abgedankt. In der Reichshauptstadt war der 9. November 1918 ein typisch verregneter Novembertag bei gerade mal zehn Grad Celsius. Der SPD-Reichstagsabgeordnete Philipp Scheidemann sitzt im Restaurant des Parlamentsgebäudes bei lauwarmer Wassersuppe. Die Beratungen im Kreis der Volksbeauftragten schleppen sich hin. Die Frage, wie es nun politisch in Deutschland weitergehen soll, ist an diesem Samstag um kurz nach 13 Uhr völlig unklar. Auf der Westseite vor dem Reichstag, dem heutigen Platz der Republik, haben sich Hunderttausende Demonstranten versammelt. In der Reichshauptstadt herrscht seit den frühen Morgenstunden Aufruhr. Revolutionäre aller politischen Couleur sind zwischen Schlossplatz und Reichstag unterwegs.
Scheidemann kam Liebknecht zuvor
Da stürzt eine Delegation von SPD-Reichstagsabgeordneten ins Restaurant, umringt Scheidemann: „Liebknecht will vom Schloss die Räterepublik ausrufen“, bedrängen sie Scheidemann, wie er sich 1924 auf einer Hörplatte erinnert. Karl Liebknecht ist die Galionsfigur der kommunistischen Spartakisten, der zusammen mit Rosa Luxemburg zwei Jahre zuvor die Abspaltung von der sozialdemokratischen SPD zur USPD vollzogen hatte – den unabhängigen Sozialdemokraten, die keinen weiteren Kriegskrediten im Reichstag mehr zustimmten. Mittags gegen 14 Uhr tritt Scheidemann auf den kleinen Balkon der Reichstagskantine und spricht schließlich die historischen Worte zu den Demonstranten vor dem Westflügel des Reichstages. „Der Kaiser hat abgedankt, das Alte, Morsche ist zerbrochen, es lebe die neue Deutsche Republik.“
Zwei Stunden nach den Worten Scheidemanns ruft der Spartakist Karl Liebknecht vom Balkon des Berliner Stadtschlosses, keine 3.000 Meter vom Reichstagsgebäude entfernt, die Sozialistische Republik, die Räterepublik, aus. Doch zu spät, Scheidemann hat zuvor bereits Geschichte geschrieben. Wobei zur Wahrheit dazugehört, dass sowohl Scheidemann als auch Liebknecht von den wenigsten derer, die sich zu Hunderttausenden sowohl vor dem Westportal des Reichstages als auch vor dem Balkon des Berliner Stadtschlosses versammelt hatten, verstanden wurden. Sie riefen die Republik ohne technische Hilfsmittel, also Beschallung, aus, sprachen frei.
Polizei und Militär stoppten Hitlers Putsch
Am Reichstagsgebäude, dem Plenargebäude des Bundestags, erinnert heute nichts mehr an die historischen Worte von Philipp Scheidemann und die Ausrufung der ersten demokratischen Republik. Einziges Zeugnis ist ein Foto von Scheidemann auf dem Balkon-Sims. Übriggeblieben ist von den historischen Stunden des 9. November 1918 lediglich das Fassadenportal mit Balkon des Stadtschlosses, von dem Liebknecht die Räterepublik ausrief. Aber auch hier fehlt heute jeglicher Hinweis, was es mit dem historischen Portal, das heute Teil des Humboldt Forums ist, auf sich hat. Der Start der ersten Demokratie in Deutschland gestaltete sich mehr als schwierig und sollte schließlich nicht mal 15 Jahre später scheitern. Während dieser Zeit gab es einen Versuch, den 9. November 1918 als Feiertag in der Weimarer Verfassung zu verankern. Doch im Reichstag gab es dafür keine Mehrheit.
Sowohl die unterdessen gegründete Kommunistische Partei als auch die konservativen, monarchistisch geprägten Parteien und erst recht die gerade erstarkende NSDAP im Parlament lehnten dies kategorisch ab. Die letztgenannte Partei hatte bereits genau fünf Jahre nach der Ausrufung der Republik den 9. November schon mal für ihre Umdeutung der Geschichte missbraucht, 1923 in München. Die damals noch kleine Splitterpartei NSDAP um ihren zum damaligen Zeitpunkt gänzlich unbekannten Vorsitzenden Adolf Hitler rief zum Marsch auf die Feldherrnhalle in der bayerischen Landeshauptstadt auf, und von da sollte es weitergehen – bis nach Berlin, um die Weimarer Republik zu stürzen. Doch die Münchner Polizei und zu Hilfe geholte Soldaten stoppten den Nazi-Aufruhr kurz vor dem Odeonsplatz in der Münchner Innenstadt durch Schüsse in die Menge. 21 Personen kamen zu Tode. Adolf Hitler, obwohl in der vordersten Reihe marschierend, wurde nicht mal verletzt. Für die Nazis war damit der Mythos und das daraus resultierende Heldenepos von den „alten Kämpfern“ rund um den 9. November, wohlgemerkt 1923, geboren und wurde jedes Jahr mit einer Kundgebung im Münchner Bürgerbräukeller von der NSDAP gewürdigt. Randnotiz: Bei der Kundgebung für die alten Kämpfer vom 8. zum 9. November 1939 im Bürgerbräukeller in München hätte sich Deutschlands Schicksal noch wenden können. Der Tischler Georg Elser deponierte in einem der Säle direkt hinter dem Rednerpult eine Bombe. Doch Adolf Hitler musste seine Rede abkürzen, schlechtes Wetter zwang zum früheren Rückflug des Führers von München-Riem nach Berlin. 15 Minuten nachdem Hitler den Bürgerbräukeller verlassen hatte, detonierte Elsers Sprengsatz. Laut ursprünglichem Plan hätte Hitler jetzt eigentlich am Pult gestanden. Mit ausschlaggebend für Elsers Alleintat war der 9. November ein Jahr zuvor, der das wohl dunkelste Kapitel der neuen deutschen Geschichte einläutete.
Reichspogromnacht am 9. November 1939
Am 7. November 1938 wurde in Paris der deutsche Diplomat Ernst Eduard vom Rath angeschossen und erlag zwei Tage später seiner Schussverletzung – ausgerechnet am 9. November. Die Nazis nutzten den Umstand, dass der Schütze der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörte, gnadenlos zum Auftakt für flächendeckende Judenpogrome in ganz Deutschland aus – die sogenannte Reichskristallnacht. Die SA überfiel jüdische Geschäfte, fackelte 1.400 Synagogen und Gebetsräume ab. Der offizielle Beginn der dann systematischen Vernichtung der Juden in Deutschland. Vermutlich 2.000 jüdische Mitbürger wurden allein in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 vom Nazi-Pöbel erschlagen. Damit hatte der 9. November als Datum eine völlig neue Bedeutung bekommen. Nicht mehr Geburtstag der ersten Republik, der deutschen Demokratie oder gescheiterter Hitler-Ludendorff-Putsch gegen eben diese Demokratie, sondern Beginn des systematischen deutschen Völkermordes, an dessen Ende mehr als sechs Millionen Tote zu beklagen waren. Lange hat es gedauert, bis der 9. November zwar zu keinem offiziellen Gedenktag im Sinne eines gesetzlichen Feiertages, zumindest aber zu einem symbolischen „Schicksalstag“ der deutschen Geschichte ernannt wurde. Also ein Gedenktag im Stillen. Der nächste denkwürdige 9. November sollte ebenfalls wieder einem Zufall geschuldet sein: 1989. Der SED-Bezirkschef von Berlin und neue Sekretär des Politbüros zur „Anleitung und Lenkung der Medien“ öffnete mehr oder weniger aus Versehen die Mauer und leitete damit die deutsche Wiedervereinigung ein.
Die Mauer fiel am 9. November 1989
Glaubt man dem damaligen Generalsekretär des ZK und Vorsitzenden des Staatsrats der DDR, Egon Krenz, sollte die neue Reisebestimmung für DDR-Bürger erst am 10. November verkündet werden, wie Krenz gegenüber dem Autor dieses Textes im Interview im Sommer 1993 immer wieder betonte. Aber bei dem sich abzeichnenden Untergang der DDR ging es nicht nur im ostdeutschen Staat, sondern auch in der SED-Führung in den Novembertagen 1989 drunter und drüber. Günter Schabowski zog in der legendären Pressekonferenz am 9. November um 19.02 Uhr aus seiner grauen Politbüro-Kladde einen Zettel, riss damit faktisch kurzerhand die Mauer ein und beendete somit in der Folge die deutsche Teilung. Ein Freudentag für die Menschen in Ost und West, aber mit der blutigen Vorgeschichte des 9. November aus über elf Jahrzehnten kein Feier-, sondern eben tatsächlich ein deutscher Schicksalstag, der zum Nachdenken anregen sollte.