Mit guten Vorsätzen starten die meisten Menschen ins neue Jahr. Doch nur wenigen Tennisspielerinnen und ihren Kollegen gelang bisher eine Schicksalswende gleich zum Jahresauftakt. Für deutsche Profis und einen Südtiroler präsentierten sich die Australian Open als Happy Slam.
Angelique Kerber ist eine von denen, die Geschichten von ihrem „happy Anfang“ Down Under erzählen kann. Die beste deutsche Spielerin der jüngeren Tennisgeschichte wettete, zockte, spielte, gewann und sprang als Wetteinlösung in einen schmutzigen Fluss. Mit dem ersten Grand-Slam-Sieg ihrer Karriere startete die damals 28-jährige Kielerin 2016 in ihr Überfliegerjahr. Fast 17 Jahre, nachdem Steffi Graf bei den French Open den letzten Grand-Slam-Titel für die mitgliederstärkste Tennis-Nation holte. Und 20 Jahre, nachdem Boris Becker in Australien seinen letzten Grand Slam gewann. „Verrückt“ war die Vokabel, die Angie Kerber nach ihrem Sieg über die US-Amerikanerin Serena Williams am 30. Januar vor neun Jahren nicht mehr losließ.
Mit Angies Sieg beim Happy Slam über die damalige Nummer eins der Welt waren die deutschen Spielerinnen zurück im Rampenlicht des Tenniszirkus. Kein Wunder, dass Kerber es locker wegsteckte, dass sie als Wetteinlösungen mit ihren Trainern auch einen Tanzkurs absolvieren und mit Fallschirm aus einem Flugzeug springen musste.
Kerbers Traumstart im Jahr 2016
Angie spielte wie entfesselt weiter. Beim letzten Grand-Slam-Turnier 2016 holte sich die mit links aufschlagende Rechtshänderin sogar zwei Trophäen. Ein urnenartiges Gefäß, weil sie die US Open gewann. Noch so ein Jahrhundertszenario: Seit Steffi Graf 1996 hatte keine Deutsche den US-Open-Pokal in Händen gehalten. Und ein Designerstück, als greifbares Symbol dafür, dass sie Williams nun auch noch Platz eins der Weltrangliste abnahm. Seit 1997 war keine Deutsche mehr als Beste aller Tennisspielerinnen geführt worden. Kein Zweifel: Der Happy Slam zum Jahresauftakt hatte Angies Schicksalswende eingeleitet.
Und Graf gönnte es ihr. „Ich habe nach meinem Sieg kurz mit Steffi telefonieren können“, verriet nach den Australian Open 2016 die strahlende Championesse. „Sie sagte mir: Ich soll jetzt alles ein paar Wochen genießen, aber so bleiben, wie ich bin. Dann würde auch künftig alles in den richtigen Bahnen verlaufen.“
Serena Williams hatte ihre Niederlage 2016 erstaunlich gelassen hingenommen. Dabei verbaute ihr Kerber mit einer ausgeklügelten Match-Strategie ihren Slam-Titel Nummer 22 und damit das Aufrücken zu Steffi Grafs legendären 22 Grand-Slam-Triumphen. Vielmehr wirkte Serena nach ihrer Final-Niederlage stolz auf den lang ersehnten Erfolg der bislang viel zu wenig beachteten, in Bremen geborenen Blondhaarigen und zeigte dies auch mit Gesten und Worten. „Angie, du hast ein großartiges Match gespielt. Ich freue mich so sehr für dich“, sagte sie ins Mikrofon. Dabei wollte Kerber 2011 fast den Tennisschläger aus ihrer Lebensplanung streichen, nachdem sie, fünf Jahre vor ihrem großen Triumph, eine Erstrunden-Pleite nach der anderen hinnehmen musste. Stattdessen schwang sie sich mit Torben Beltz als Wohlfühltrainer an ihrer Seite zur Grand-Slam-Siegerin Down Under auf.
Titel in Wimbledon, bei den US Open und die Nummer eins der Weltrangliste – Letzteres noch vor Serena Williams’ Karriereende: Das hatte die Australian-Open-Siegerin aus Deutschland 2016 als weitere Ziele ausgegeben. Alle drei Wünsche erfüllten sich. Lange bevor Kerber 2024 bei den Olympischen Spielen in Paris zurücktrat und auch dort noch einmal ihren Kampfgeist bis ins Viertelfinale hinein aufblitzen ließ.
34 Wochen als Nummer eins der Tenniswelt. Insgesamt 14 Titel und Trophäen in den Regalen ihrer Erinnerungsgeschichte. Angelique Kerber dürfte ihrer kleinen Tochter einiges von ihrer Schicksalswende beim Happy Slam zu erzählen haben. Steffi Grafs Matches funktionierten als Straßenfeger. Mit nur 19 Jahren war die Brühlerin bereits ein Star in Deutschland und konkurrierte mit ihrem Zeitgenossen Boris Becker um Aufmerksamkeit. Spielten die beiden fast Gleichaltrigen zur selben Zeit, wurde eine Partie im Ersten, die andere im Zweiten Deutschen Fernsehen übertragen: Ein Phänomen, das aus der jüngeren Vergangenheit nur noch von der Übertragung von Frauen- und Männerfußball bekannt ist.
Die Australian Open 1988 läuteten für die „Gräfin“, wie sie damals oft genannt wurde, ein Erfolgsjahr ein, das ihr nicht nur gegenüber Boris Becker einen fast uneinholbaren Triumph bescherte: den Grand Slam, gefolgt vom Golden Slam. Davor und danach hat keine Tennisspielerin und kein Tennisspieler mehr den Golden Slam gewonnen, für den innerhalb eines Kalenderjahres alle Grand-Slam-Titel sowie olympisches Gold abzuräumen sind.
Eine Hassliebe für viele Profis
Steffi gelang es beim Happy Slam, die 18-malige Grand-Slam-Siegerin Chris Evert zu besiegen. Der Bann war gebrochen, das Tor zum Grand sowie zum Golden Slam geöffnet. Die beste deutsche Tennisspielerin aller Zeiten gewann– innerhalb eines Jahres nach den Australian Open – die anderen drei wichtigsten, jährlichen Tennisturniere der Welt: die French Open, mit zwei Sätzen zu null im Finale, Wimbledon, wo sie der sechsmaligen Titelverteidigerin Martina Navratilova den Trophäen-Teller aus der Hand nahm sowie die US Open. Damit nicht genug, besiegte sie in entscheidenden Partien auch ihre ewige Rivalin, die Argentinierin Gabriela Sabatini: zunächst im Finale der US Open, dann beim Spiel um Gold bei den Olympischen Spielen in Seoul.
Die olympische Zugabe hatte Folgen: Den Golden Slam. Diese sagenumwobene Reihung sämtlicher erreichbarer Top-Tennis-Titel zwischen Januar und Dezember eines einzigen Jahres, die außer ihr noch keiner Sportlerin gelang. Sämtliche Grand-Slam-Turniere in einem Jahr, den Grand Slam, hatten vor ihr nur Maureen Connolly (1953) und Margaret Smith Court (1970) gewonnen.
Elf weitere Jahre voller Spitzenleistungen folgten. Steffi sammelte 107 Titel, davon zweiundzwanzig bei den vier größten Turnieren ein. Sie verbrachte einmalige 377 Wochen an der Spitze ihres Sports. Und sie gewann die ewige Liebe ihrer Fans weltweit, zusätzlich zur privaten Liebe, die sie in Andre Agassi gefunden hatte. Beide Tennisprofis einte, dass sich ihre Körper am Ende ihrer Karrieren, zermürbt von Schmerzen, den Mühen für ihre Erfolge geschlagen gaben.
„Es waren nach Wimbledon keine einfachen Wochen, weil ich zum ersten Mal den Spaß und die Freude am Tennis vermisst habe. Das war ein komisches Gefühl für mich, das ich so nicht kannte“, sagte Steffi Graf, als sie kurz vor der Jahrtausendwende in Heidelberg ihren Rücktritt bekannt gab. Ihr Erfolg hatte schon zuvor nicht nur rosige Seiten. Insbesondere die Schlagzeilen um ihren Vater Peter Graf warfen Schatten, die Grafs mentaler Stärke auf dem Platz jedoch nicht zusetzten.
Die Schicksalswende hin zum einmaligen Superstar durch Grafs Golden Slam, die bei den Australian Open ihren Anfang nahm, reflektiert jedoch die sonnigen Seiten der Karriere dieser Ausnahme-Tennisspielerin.
Ihr Schicksal als Doppelspieler wendeten ihre Landsleute Yannick Hanfmann und Dominik Koepfer: Zwei Spieler, die eigentlich als Einzelspieler in den Top Hundert gut mithalten. Die beiden Deutschen hatten sich eher beiläufig als Paar gefunden und standen noch nicht oft zusammen auf dem Platz. Doch bei den Australian Open 2024 warfen sie zwei Top-Ten-Paarungen aus dem Rennen. Und die australischen Titelverteidiger. Damit standen die beiden ehemaligen College-Spieler im Halbfinale: Hanfmann, der vor jenen Australian Open als Nummer 885 der Doppel-Weltrangliste geführt wurde und Koepfer, der am Jahresanfang die Nummer 383 war. Dominik stand fünf Monate nach der Initialzündung Down Under auf Rang 69 der Doppel-Weltrangliste. Und Yannick fand sich zum Saisonende dort um mehr als 800 Plätze höher eingestuft vor als Anfang 2024. Hanfmann trug, nach seinem Überraschungserfolg beim Happy Slam, im Jahresverlauf auch viel dazu bei, dass die deutsche Mannschaft beim Davis Cup in die Finalrunde einzog.
Ein anderer Jannik beendete 2024 gar die Ära der „Großen Drei“ bei den Australian Open: Sinner läutete mit seinem ersten Grand-Slam-Titel seine persönliche Riesenzeit ein. Der Südtiroler ist der erste Happy-Slam-Sieger seit 2014, der nicht Rafael Nadal, Roger Federer oder Novak Djokovic heißt. Kurz darauf übernahm der 22-Jährige als Nummer eins der Welt und räumte diese Spitzenposition in den darauffolgenden Monaten nicht mehr. Man darf gespannt sein, wie es für den Italiener nach dem Gewinn der ATP Finals zum Jahresende in der neuen Saison in Melbourne weitergeht.