Sie werben für internationale Designer, weichen den erfolgreichsten Models auf den Catwalks nicht von der Seite und werden von Millionen Menschen bewundert. Virtuelle Influencer gewinnen immer mehr an Bedeutung. Dass sie nicht echt sind, spielt dabei keine Rolle.
Ein 19-jähriges Mädchen sitzt auf der Mauer einer amerikanischen Shopping-Mall. Sie trägt ein luftiges Sommer-Outfit im angesagten schwarz-weißen Karostyle und lässt sich genüsslich ein Gummibärchen schmecken. Dabei umspielt ein Lächeln ihren Mund, sie scheint glücklich mit ihrem Shopping-Trip und genießt den Sonnenschein auf ihrem Gesicht. Eine Geschichte im Bild, ein kurzer Ausschnitt einer perfekten Welt. Das wünschen sich Millionen von Influencern weltweit, und das müssen sie auch. Ihre Follower wollen es so. Ein Stück Perfektion, einen kurzen Einblick in ein Leben, das ganz anders erscheint als das eigene. Und das ist es auch. Zumindest im Fall von Miquela Sousa. Das junge Mädchen ist kein Mensch. Sie ist ein sogenannter virtueller Influencer, geschaffen am Computer. Nichts auf dem Bild ist echt, nicht ihr makelloses Gesicht, die angesagte Kleidung oder der Ort, an dem sie diese Szene geknipst hat. Nur die Tüte Gummibärchen, die gibt es wirklich. Eine gewinnbringende Kooperation mit einem großen Süßigkeitenhersteller steckt dahinter.
2,8 Millionen Follower
In den Chef-Etagen scheint man zu wissen, dass es sich hierbei um eine Art Roboter handelt. Einen, der es seit der Gründung des Profils auf Instagram auf eine beachtliche Zahl von mehr als 2,8 Millionen Followern gebracht hat. Doch warum folgen der hübschen jungen Frau so viele Menschen, zumal ihre Erschaffer keinen Hehl daraus machen, dass es sich um ein Fake-Profil handelt? Wozu braucht man eine konstruierte Scheinwelt, die besser als die Realität ist? Eine Frage, die sich Lil Miquela, wie sich der Avatar selbst nennt, auch schon gestellt hat: „Ich bin kein Mensch, aber bin ich trotzdem eine Person?“ Das war 2018, nachdem gerade herauskam, dass ein amerikanisches Start-up namens Brud das sympathische It-Girl zwei Jahre zuvor am Computer kreiert hatte. Es handelt sich also um ein künstliches Profil, um eines, das sehr erfolgreich darin ist, sich eine breite Fan-Gemeinde aufzubauen. Marken wie Burberry und Prada veröffentlichten Kampagnen mit ihr, Model Bella Hadid wich ihr auf einem Foto nicht von der Seite und sogar Hit-Singles kann Miquela produzieren und vermarkten. Damit ist sie eine der bekanntesten, aber längst nicht die einzige „Playerin“ am stetig wachsenden Markt.
Lu beispielsweise vertritt bereits seit 2009 eine brasilianische Zeitschrift namens Luisa. Ihr folgen mehr als sechs Millionen Menschen auf Instagram und sogar mehr als 14 Millionen bei Facebook. Guggimon, entwickelt von Superplastic, folgen knapp 1,5 Millionen Instagram-Nutzer. Dafür darf er für Gucci und Louis Vuitton werben und damit viel Geld einnehmen. Auch in Deutschland gibt es solche Influencer. Zu den größten von ihnen gehört Noonoouri. Erschaffen hat sie Jörg Zuber in seiner Münchener Designagentur. Anders als Miquela ist ihre virtuelle „Schwester“ deutlich als künstliches Wesen zu erkennen und nimmt eher comichafte Züge an. Trotzdem begeistert sie eine Fangemeinde von über 400.000 Nutzern. Und die zu unterhalten ist arbeitsintensiv, wie Zuber in einem Interview mit omr.com zugibt: „Aktuell arbeiten fünf bis sieben Personen komplett an ihr. Der Arbeitsaufwand ist sehr intensiv. Ein Bild zu gestalten dauert zwischen drei und fünf Tagen, eine Animation zwischen zwei und sechs Wochen.“ Allein ihren Instagram-Account zu bespielen sei ein Fulltime-Job für mehrere Menschen. Dafür erhält Noonoouri sogar Geburtstagsglückwünsche von Kim Kardashian und darf Kampagnen mit Dior shooten.
Auf so viel Erfolg hofft auch Zoe Dvir. Anders als ihre Avatar-Schwester soll sie einem echten Model möglichst ähnlich sein. Nicht nur optisch, sie soll leben wie ein Mensch, das jedenfalls wünscht sich ihr Erschaffer Stephan Czaja von „Zoe0.1“. Dahinter steckt aufwendiges „Storytelling“, also die Kunst, aus einer eindimensionalen Figur eine Art guten Freund zu kreieren der Hobbys hat, eine große Liebe, Leidenschaften und noch vieles mehr. Erst dadurch nehmen die Avatare menschliche Züge an und schaffen es, dass sich echte Personen mit ihnen identifizieren. Das ist wichtig für die Fanbase und deren Ausbau, meint Czaja. Mediengestalter sprechen in diesem Zusammenhang vom organischen Wachstum, also dem Vermögen der Avatare, durch ihr regelmäßiges virtuelles Auftreten in den sozialen Netzwerken neue Freunde zu gewinnen. Das steigert ihren Marktwert. Und der ist beachtlich, wie Nadine Scheel und Annika Kessel von Cosmiq Universe in einem Interview mit OMD Germany näher erläutern: „Es hat sich gezeigt, dass virtuelle Influencer eine zwei- bis dreifach höhere Engagement-Rate als normale Influencer aufweisen. Es ist der schnell wachsende Bereich im digitalen Marketing, dieser wächst pro Jahr um 50 Prozent und beläuft sich weltweit auf etwa zehn Milliarden US-Dollar brutto.“ Der größte Markt liegt derzeit in Asien und den USA, doch auch in Europa steigt die Nachfrage. Da müssen sich echte Influencer warm anziehen. Die Vorteile der sogenannten Virtual Ambassadors, wie Agenturen wie Cosmiq Universe ihre Kreationen nennen, liegen klar auf der Hand: Die „Meinungsführer“ bieten eine neue Form des Marketings an. Sie schaffen durch ihren professionellen Auftritt nicht nur den Aufbau einer großen Fangemeinde, sie binden diese durch ihre Geschichten auch emotional an Marken. Außerdem können die Label mit ihnen unkomplizierter arbeiten, denn sie sind weder gebunden an Zeit noch Raum. Das positive Image ist ebenfalls ein großer Pluspunkt, denn die Avatare sind allzeit gut gelaunt und bringen keinen negativen Ballast mit wie Beziehungsprobleme, Krankheiten, schlechte Laune und Ähnliches. Außerdem sind sie immer verfügbar, je nachdem, welcher Mitarbeiter Zeit für eine neue Kampagne findet. Dank künstlicher Intelligenz ist es einfacher, ihnen nicht nur ein Gesicht, sondern auch eine Stimme zu geben. Avatare können Konzerte veranstalten, Preise auf Galas überreichen, kochen, singen und vieles mehr. Dafür verlangen sie noch nicht einmal Lohn oder gesetzliche Pausenzeiten. Was sie verdienen, erhalten die Mitarbeitenden hinter den Kunstpersonen – und das geht schnell in die Millionenhöhe, je nach Kooperation. Kein Wunder, dass immer mehr virtuelle Influencer auf dem Markt erscheinen.
Dreifach höheres Engagement
Was auf den ersten Blick so viele Vorteile mit sich bringt, hat auch Schattenseiten. Die Idee, dass die Avatare aussehen und sich verhalten wie Menschen, aber eben keine sind, kann ein Gefühl der inneren Ablehnung erzeugen. Dieses Phänomen nennen Wissenschaftler „uncanny valley“. Damit geht die Werbewirkung verloren. Tut sie dies nicht, kann es zu einer Übersättigung kommen, zumal die Zielgruppe vieler Profile Kinder und junge Erwachsene sind. Außerdem sind viele Produkte gar nicht klar als Werbung deklariert. Dazu gibt es speziell in Europa oft Probleme mit dem Datenschutz, bemängeln Medienwissenschaftler. Fraglich bleibt hier, wo persönliche Informationen gespeichert werden und wozu überhaupt. Schließlich verkörpern die Avatare ohnehin Schönheitsideale, die für einen realen Menschen nicht erreichbar sind.
Spannendes Sozialexperiment
Ein Beispiel für einen Umkehrtrend war Sylvia. Sie stammte aus der Kreativschmiede des Brown Institute for Media Innovation. Ziv Schneider hatte sie entworfen als Pilotprojekt zu vermenschlichten Avataren. Die junge Frau alterte pro Monat um satte zehn Jahre bis zu ihrem virtuellen Tod. Währenddessen teilte sie Gedanken und Erlebnisse, versuchte ihre Follower emotional an sich zu binden. Uninteressant für die Modeindustrie, spannend als Sozialexperiment. Es bleibt also abzuwarten, welche neuen Wesen die großen Agenturen weltweit hervorbringen. Wie lange ihre Erschaffer ihre Leben virtuell aufbereiten und damit gewinnbringende Kampagnen an Land ziehen, von denen manch ein menschlicher Influencer nur träumen kann. Solange es genug Interesse gibt und das Wachstum am Markt so enorm ist, bleibt die Grenze nach oben noch unerreicht.