Eigengewächs Nuri Sahin sollte seinen Herzensclub Borussia Dortmund zu alter Stärke führen. Und verzweifelte an ihm wie viele seiner Vorgänger.

Es sollte – mal wieder – eine neue Ära werden. Es wurde – mal wieder – eine kurze Episode. Sie hatte auch irgendwie zu sehr etwas von einem Fußball-Märchen, die Zusammenarbeit von Nuri Sahin und Borussia Dortmund. Hier der zweitbeste Verein der Nullerjahre, der seit der Ära von Jürgen Klopp von 2008 bis 2015 sehnsüchtig auf der Suche nach einem neuen Trainer-Heilsbringer war. Dort der Junge aus dem nahen Lüdenscheid, der als Zwölfjähriger in den Verein kam, zum Profi wurde, zum Meister unter Klopp und zum Weltstar. Und der nach Stationen bei Real Madrid und dem FC Liverpool wieder zurückkam, erst als Spieler, im Winter dann als Co-Trainer und der nun als im Sommer erst 35-Jähriger endlich für Konstanz auf der Position des Cheftrainers sorgen sollte.
Intern stimmt es nicht mehr
Nach Klopp hatten es die Dortmunder schon mit dem späteren Champions-League-Sieger und heutigen englischen Nationaltrainer Thomas Tuchel versucht. Mit niederländischem Offensiv-Fußball von Peter Bosz, mit Akribie von Lucien Favre, mit frischem Wind aus der Klopp-Schule von Marco Rose oder auch mit Herzblut vom ehemaligen Kurvengänger Edin Terzic. Mit keinem wurde der BVB nachhaltig glücklich. Und keiner von ihnen nachhaltig mit der Borussia.
Terzic hatte noch die größten Erfolge geschafft. 2021 hatte er als Interimstrainer den Pokalsieg geholt, 2023 war er so nahe an der Meisterschaft wie keiner seit 2013. Und 2024 stand er mit dem BVB im Champions-League-Finale, das unglücklich mit 0:2 gegen Real Madrid verloren ging. „Wann wird es so was in Dortmund wieder geben“, fragte deshalb Sky-Experte Dietmar Hamann in einer seiner gefürchteten BVB-Analysen: „Das kann zehn oder 20 Jahre dauern. Und diesen Trainer hat man ,weggemobbt‘ sage ich mal.“
Terzic war mindestens offiziell zurückgetreten. Doch es war kein Geheimnis, dass es vor allem in der Mannschaft auch einige Vorbehalte gegen ihn gab. Aber die Kabine in Dortmund gilt seit Jahren als eine komplizierte. Im September 2019 bekam der damalige Kapitän Marco Reus nach einem 1:1 bei Eintracht Frankfurt im Sky-Interview die Frage gestellt, ob die vielen späten Punktverluste seines Teams eine Mentalitätsfrage sind. „Das geht mir so auf die Eier mit eurer Mentalitätsscheiße“, schimpfte Reus: „Kommt mir nicht mit Mentalität, bitte. Jetzt ist langsam mal gut. Okay? Jede Woche dieselbe Kacke.“
Watzke ist immer noch omnipräsent

Die Diskussion konnte Reus damit aber nicht beenden. Im Gegenteil. Sie wurde seitdem zum Dauer-Thema. Weil aber auch die Mannschaft selten etwas tat, um die Argumente der Mentalitäts-Kritiker zu entkräften. Was umso bemerkenswerter ist, da kein einziger Spieler aus dem damaligen Frankfurt-Kader heute noch dabei ist. Das Team ist also ein komplett neues. Das Problem scheint aber ein altes. Weshalb zuletzt vermehrt die Frage aufkam: Liegen diese Probleme tiefer? Beziehungsweise höher im Organigramm des BVB? Weshalb auch nun die Frage bleibt: Ist wirklich Sahin gescheitert? Oder ist er einfach der nächste, der an grundsätzlichen Problemen in Dortmund verzweifelte? Die Club-Granden standen nach der Trennung von Terzic, dem der scheidende, aber noch omnipräsente Club-Chef Hans-Joachim Watzke noch viele Jahre in Dortmund prophezeit hatte, vor dieser Saison gehörig unter Druck. Sahin galt als großes Trainer-Talent, aber er war eben auch noch sehr jung und als Coach logischerweise noch unerfahren. Doch hinter ihm konnte sich die Vereinsspitze mit Watzke, seinem Nachfolger Lars Ricken, Sportdirektor Sebastian Kehl, dem Technischen Direktor Sven Mislintat und Berater Matthias Sammer vereinen. Was umso bemerkenswerter war, da vieles unter diesen Herren offenbar weit weniger harmonisch lief.

Zudem glaubte man, die Mannschaft gut verstärkt zu haben. Und tatsächlich bekamen die Dortmunder für ihre Sommer-Transfers auch Lob von allen Seiten. Mit Serhou Guirassy holten sie den mit 28 Treffern nach Harry Kane erfolgreichsten Torjäger der vergangenen Bundesliga-Saison. Mit dessen Club-Kollegen Waldemar Anton den Kapitän und Abwehrchef des letztjährigen Sensations-Vizemeisters VfB Stuttgart. Der wie der aus Brighton in der Premier League geholte Pascal Groß als absoluter Mentalitätsspieler gilt. Dazu mit dem Hoffenheimer Maximilian Beier einen dritten deutschen EM-Teilnehmer und einen der talentiertesten deutschen Offensivspieler. Und den ebenfalls als großes Talent geltenden Außenverteidiger Yan Couto von Manchester City. Doch mit dem Misserfolg hat sich auch in dieser Hinsicht der Wind gedreht. So verspottete der TV-Kommentator Corny Küpper – im Übrigen glühender BVB-Fan – die Transfer-Politik in der Sport1-Sendung „Doppelpass“ mit deutlichen Worten. Der BVB benehme sich „wie ein 13-Jähriger beim Fußball-Manager. Da wird geguckt, wer war letzte Saison gut, und da schlagen wir dann zu. Das ist die einzige Strategie, die Borussia Dortmund auf dem Transfermarkt hat.“
War die Transfer-Strategie also doch falsch? Oder hat sie nur die vorherigen Probleme bisher nicht beheben können? Fakt ist, dass die Zahlen dieser Saison eindeutig sind. Dortmund spielte die schlechteste Hinrunde seit zehn Jahren, ist im DFB-Pokal schon ausgeschieden und belegte nach 18 Spieltagen einen indiskutablen zehnten Platz in der Bundesliga. Der erste Champions-League-Rang lag nach etwas mehr als der Hälfte der Saison schon sieben Punkte entfernt, Meister Bayer Leverkusen und Tabellenführer Bayern München waren 16 beziehungsweise 20 Zähler enteilt. Vor allem auswärts hatte die Mannschaft immer wieder Aussetzer: So in Stuttgart beim 1:5 oder in Kiel beim 2:4, aber auch in Mainz (1:3), Augsburg (1:2) und Berlin (1:2) waren die Leistungen eher noch schlechter als das Ergebnis.
Das Team hat keine Struktur

Sahin geriet schnell in die Kritik. Und die Vereins-Vertreter stellten sich lange hinter ihn, wollten ihn unbedingt halten. Weil seine Beurlaubung letztlich auch eine Niederlage für sie ist. Aber auch, weil Sahin bei ihnen, der Mannschaft und den Fans sehr beliebt war. Und weil er als junger Trainer und Eigengewächs mehr Zeit zugestanden bekommen sollte. Als das Jahr 2025 mit vier Niederlagen und teilweise erschreckenden Leistungen begann, war Sahin nicht mehr zu halten. Zumal Berater Sammer nach dem letztlich entscheidenden 1:2 beim bis dahin sieglosen FC Bologna in der Champions League frei erklärte: „Die Mannschaft ist körperlich und geistig in einer Nicht-Verfassung. Das muss man einfach sagen. Wenn du das heute siehst, da ist die Grundlage nicht da. Leider kann die Mannschaft nicht verteidigen, aber angreifen kann sie auch nicht.“

Noch in der Nacht wurde Sahin die Beurlaubung mitgeteilt. „Wenn ich das Problem bin, und ein Trainerwechsel all die Nebenkriegsschauplätze löst, dann ist das überhaupt kein Problem“, hatte dieser noch am Mikro in Bologna erklärt. Ricken erklärte, die Entscheidung tue ihm „auch persönlich weh, aber sie war nicht mehr vermeidbar“. Man schätze Sahin und seine Arbeit sehr. „Wir haben uns eine lange Zusammenarbeit gewünscht und hatten bis zuletzt die Hoffnung, dass wir gemeinsam die sportliche Wende schaffen.“ Daraus wurde aber nichts. Wieder nicht.
Ist die romantische Herangehensweise, immer auf Fachkräfte mit „Stallgeruch“ zu setzen, für einen international ambitionierten Club wie den BVB letztlich ein Problem? Das hatte Watzke schon auf der Mitgliederversammlung versucht zu entkräften. Er habe gelesen „die schwimmen im eigenen Saft“, sagte er damals: „Das ist unsere DNA!“ Die im Verein groß gewordenen Ricken, Sahin und Kehl hätten „alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Das soll streng riechen?“
Dennoch ist es nun offenbar Zeit für einen Impuls von außen. Denn Sahin hat zwar hier und da vor allem taktisch Lehrgeld gezahlt, die meisten Beobachter sind sich aber einig, dass er eher am Club und der Mannschaft als an sich selbst gescheitert ist. Und vielleicht der Tatsache, dass er nicht nur ein junger Trainer ist, sondern auch keinen erfahrenen Assistenten an die Seite bekommen hatte. So oder so. In den Kommentaren nach der Trennung richtete sich fast alles gegen die Vereinsführung. Die „Süddeutsche Zeitung“ sah „Zu viele Entscheider, die nicht entscheiden“. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sah „Züge einer Verzweiflungstat“, die Bosse wirkten „zunehmend rat- und orientierungslos“. „Ruhr24“ sah im Coach ein „Bauernopfer“ und „ran.de“ schrieb: „Sahin mag nicht der optimale Trainer für Borussia Dortmund gewesen sein. Doch diese Mannschaft hatte er nicht verdient.“ Deshalb könne die Trennung maximal „ein kurzfristiges Pflaster für die Krise“ sein.
Wie es mit Sahin weitergeht, bleibt spannend. Er hat mit 36 seinen Herzensclub trainiert, mehr geht eigentlich nicht. Doch er ging erhobenen Hauptes. Beim BVB müssen sie aber jedes Steinchen umdrehen. Wieder einmal. Oder besser gesagt: jetzt aber wirklich.