Dass Frauen und Männer unterschiedlich häufig von Krankheiten betroffen sind, ist nichts Neues. Doch das Centrum für Geschlechtsspezifische Biologie und Medizin möchte erforschen, welche grundlegenden Mechanismen dafür verantwortlich sind. Damit soll eine Wissenslücke geschlossen werden.

Schon lange ist in der Medizin ein Bewusstsein dafür da, dass Frauen und Männer unterschiedliche Krankheitssymptome aufweisen und auf Medikamente unterschiedlich reagieren können. Die Forschung dazu steckt allerdings noch in den Kinderschuhen. Das soll sich in Zukunft grundlegend ändern. In den kommenden Jahren soll an der Medizinischen Fakultät der Universität des Saarlandes (UdS) das Centrum für Geschlechtsspezifische Biologie und Medizin, kurz CGBM, aufgebaut werden. In der Einrichtung sollen bereits bestehende und auch neue Forschungsaktivitäten aus dem Bereich der lebenswissenschaftlichen und medizinischen Grundlagenforschung gebündelt werden. Derzeit umfasst das Homburger Forschungsnetzwerk bereits 21 Teilprojekte zu geschlechtsspezifischen Aspekten. Ein erster Erfolg ist das im März veranstaltete zweitägige Symposium in Homburg an der Saar mit rund 200 Gästen und internationalen Fachreferenten, unter anderem aus Israel, der Schweiz und den USA. „Unser Anliegen ist, dass wir sowohl kontinuierlich unsere Forschungsergebnisse präsentieren als auch die Expertinnen und Experten auf dem Gebiet der Geschlechtermedizin ins Saarland einladen. So wollen wir in den wissenschaftlichen Austausch kommen und erhoffen uns dadurch letztlich neue Impulse für unsere Forschungsarbeit“, sagt Prof. Dr. Sandra Iden, die zusammen mit Prof. Dr. Frank Kirchhoff das CGBM leitet.
Körperfunktionen verstehen
Das neu gegründete Zentrum ist allerdings mitnichten im luftleeren Raum entstanden. Der Forschungsfokus des CGBM gründet vielmehr auf einer „langen Historie von Fragestellungen, die aktiv am Campus bearbeitet wurden“, erläutert die Zell- und Entwicklungsbiologin Sandra Iden. In der Grundlagenforschung geht es darum, die „physiologischen Prozesse im Säugetiersystem“ besser zu verstehen. Das CGBM geht in seiner Stoßrichtung sogar noch einen Schritt weiter. „Unser Ziel ist vor allem zu verstehen, was die grundlegenden molekularen, zellulären und physiologischen Mechanismen sind, die diese geschlechtsspezifischen Unterschiede erklären“, sagt Sandra Iden. Genau diese Wissenslücke will das Centrum schließen.

Wenn man den Blick auf den ganzen Organismus richtet, so gibt es viele Körperfunktionen, die wir noch nicht verstanden haben. Vor allem die Kommunikationswege zwischen den verschiedenen Organen sind hier zu nennen. „Weniger bekannt ist, dass eine verbindende Achse zwischen der Leber und dem Herzen besteht. Achsen wie diese werden bisher nicht vollständig verstanden“, erklärt Frank Kirchhoff, Professor für Molekulare Physiologie. In Anbetracht der bisherigen wissenschaftlichen Grundlagenforschung sei jedoch klar, dass die Signale zwischen den Organen geschlechtsabhängig unterschiedlich verarbeitet werden. „Das heißt sowohl im gesunden als auch im erkrankten Zustand“, ergänzt Frank Kirchhoff. Die Epidemiologie erforsche zwar, wie häufig eine Krankheit bei Frauen und Männern auftritt. Doch momentan kenne man nicht „die molekularen, zellulären und physiologischen Ursachen für diese epidemiologischen Unterschiede“.
Wie konkret unterscheiden sich die geschlechtsabhängigen Krankheitsverläufe voneinander? Zunächst einmal sind Frauen viel häufiger von Autoimmunerkrankungen betroffen als Männer. Und Männer wiederum sind für bestimmte Infektionskrankheiten anfälliger als Frauen. „Warum das so ist, also was die grundlegenden Mechanismen hierbei sind, verstehen wir noch nicht“, sagt Sandra Iden. Um etwa zu verstehen, warum Frauen öfter von Autoimmunkrankheiten betroffen sind, muss man hineinzoomen „in die zelluläre Komposition und biochemischen Unterschiede“. Was man inzwischen weiß: Die Immunzellpopulationen (eine Vielzahl von Zelltypen) und die nicht-zellulären Komponenten unterscheiden sich zahlenmäßig zwischen Frauen und Männern. „Frauen haben eine andere Komposition des Immunsystems. Das könnte ein Grund für die häufiger auftretenden Autoimmunerkrankungen sein“, sagt Sandra Iden. Wie sich jedoch die Zelltypen funktionell unterscheiden, also ob eine einzelne Zelle in der Frau ihre Aufgabe besser oder schlechter als im Mann erfüllt, weiß man heute noch nicht.
Unterschiede bei Begleiterkankungen
Da Krankheiten selten in einem einzigen Organ entstehen, widmen sich die Akteurinnen und Akteure des CGBM den Komorbiditäten. Darunter sind begleitende Krankheitsbilder neben einer Hauptkrankheit zu verstehen. Für eine Person, die übergewichtig ist, besteht etwa ein hohes Risiko, an Diabetes mellitus zu erkranken und in der Folge weitere Begleiterkrankungen zu entwickeln. „Gerade mit Blick auf Diabetes wird immer deutlicher, dass sich die Begleiterkrankungen auch geschlechtsspezifisch unterscheiden“, sagt Sandra Iden. Überhaupt kann man festhalten, dass nahezu alle Volkskrankheiten mehrere Organsysteme betreffen. An einem anderen Beispiel wird deutlich, dass unsere Organe miteinander kommunizieren: Wenn eine Person an Morbus Parkinson erkrankt, ist sie häufig auch von Muskelschwund betroffen. „Die Alzheimer-Erkrankung, die mit weitflächigen neurodegenerativen Prozessen einhergeht, betrifft zum Beispiel auch die Verdauung“, erklärt Frank Kirchhoff. Im Zentrum der Forschung stehen auch die Pathomechanismen, sprich jene molekular-zellulären Mechanismen, die einer Erkrankung zugrunde liegen. Unter anderem versucht man zu ergründen, warum Frauen mit Multipler Sklerose häufiger Symptome zeigen als Männer.
Zieht man in Betracht, wie Schmerzen wahrgenommen und verarbeitet werden, wird ein weiterer geschlechtsspezifischer Unterschied deutlich. „Schmerz entsteht immer im Gehirn. Aber die Schmerzprozessierung, das heißt, wie wir die verschiedenen Schmerzeindrücke verarbeiten, ist ebenfalls geschlechtsspezifisch“, erklärt Frank Kirchhoff. So sei zum Beispiel vom Geschlecht abhängig, ob der Schmerz als schwach oder stark empfunden werde. Hier gibt es einen weiteren Unterschied zwischen Frauen und Männern: Während Frauen, wenn sie einen Herzinfarkt erleiden, diesen lebensbedrohlichen Schmerz kompensieren können und an unspezifischen Symptomen wie Übelkeit oder Atemnot leiden, spüren hingegen Männer einen starken Schmerz im Brustkorb.

Die Antwort darauf, warum Forschende und Mediziner der Universität des Saarlandes sich erst jetzt diesem Forschungsfeld zuwenden, liegt auch im Fortschritt der DNA-Sequenzierung. Im Jahr 2001 entzifferten Genetiker erstmals das menschliche Erbgut. Allerdings dauerte es noch bis zum Jahr 2022, bis verkündet werden konnte, dass das menschliche Genom komplett entschlüsselt wurde. „Das genetische Wissen ist eine wichtige Voraussetzung dafür, um das Genom jedes einzelnen Individuums zu kennen“, unterstreicht Frank Kirchhoff. Vor 25 Jahren kostete die Sequenzierung des menschlichen Genoms noch eine Milliarde Euro, heute nur noch 600 Euro. Und noch etwas ist heutzutage möglich, was lange Zeit nicht möglich war: Es können beispielsweise Immunzellen des Körpers oder auch Hautzellen isoliert und sequenziert werden. „Wir können uns jetzt auch die Transkriptome, also die Gesamtheit aller in einer Zelle hergestellten RNA-Moleküle anschauen“, sagt Sandra Iden. Wenn man hier die Unterschiede zwischen den Geschlechtern betrachtet, kommen auch die autosomalen Gene ins Spiel. „Unterschiede in geschlechtsspezifischer Genexpression (Prozess der Umsetzung genetischer Information in zellulären Strukturen und Funktionen, Anm. d. Red.) betrifft nicht nur die X- und Y-Chromosomen, sondern auch viele autosomale Gene, die in Männern und Frauen vorkommen, aber unterschiedlich stark „genutzt“ werden, erklärt die Professorin für Zell- und Entwicklungsbiologie.
Das öffentliche Bewusstsein für Gendermedizin ist hierzulande übrigens vor etwa 20 Jahren aufgekommen. Einen entscheidenden Anteil daran hat Prof. Dr. med. Vera Regitz-Zagrosek, die als Pionierin der Gendermedizin gilt. Über einen Zeitraum von 16 Jahren hatte sie die Professur für Frauenspezifische Gesundheitsforschung an der Berliner Charité inne. Außerdem leitete die Internistin und Kardiologin von 2008 bis 2019 das Berlin Institute for Gender in Medicine an der Charité. Sie studierte unter anderem Humanmedizin an der Medizinischen Fakultät des Saarlandes in Homburg und promovierte hier 1980. Vera Regitz-Zagrosek erforschte die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Männern und Frauen, die am Herzen erkrankt sind. Außerdem setzte sie sich dafür ein, die Therapie für beide Geschlechter zu verbessern.
Der Ansatz des Centrums für Geschlechtsspezifische Biologie und Medizin ist erklärtermaßen, weiter zu gehen als die bisherige Forschung. „Wir sind Expertinnen und Experten auf dem Gebiet der Mechanismen der Signalverarbeitung. Unser über Jahrzehnte erworbenes Expertenwissen wollen wir jetzt anwenden, um die geschlechtsspezifischen Krankheitsmechanismen zu erforschen“, sagt Frank Kirchhoff. Auch wenn der Wissenschaftsrat im vergangenen Jahr eine verstärkte institutionalisierte Geschlechterforschung hierzulande gefordert hat, gab es bereits vor drei Jahren an der Saar-Uni erste Pläne, „die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Biologie und in der Medizin aufzuklären“, so Frank Kirchhoff.
Das CGBM soll weiter wachsen

Vom neu gegründeten Centrum erhofft man sich zudem positive Impulse für den NanoBioMed-Schwerpunkt der UdS. An der Schnittstelle von Medizin und Naturwissenschaften arbeiten Akteurinnen und Akteure verschiedener Fachrichtungen von den Biowissenschaften über Chemie, Informatik, Medizin bis hin zu Systems Engineering zusammen. Die Universität des Saarlandes hat unlängst eine Exzellenz-Initiative zu KI-unterstützter Arzneimittelentwicklung gestartet. „Wenn Sie jetzt bedenken, dass in Frauen und Männern das Fettgewebe unterschiedlich verteilt ist und Medikamente unterschiedlich wasser- und fettlöslich sind, muss man wissen, wie hoch die aktive Konzentration eines bestimmten Arzneimittels ist, wenn es zum Beispiel stärker im Fettgewebe zurückgehalten wird und eher langfristig freigesetzt wird“, erläutert Frank Kirchhoff. Insofern arbeitet das CGBM „Hand in Hand mit den Kolleginnen und Kollegen“, die diese Initiative nach vorne bringen möchten.
In naher Zukunft sollen im CGBM mehr als 150 Personen in Forschung und Entwicklung arbeiten. „Unser Ziel ist es, unseren Ruf, den wir uns als Expertinnen und Experten in der Signalverarbeitung und Signalanalyse erarbeitet haben, zu vergrößern. Das soll uns dabei helfen, entsprechende finanzielle Mittel zu akquirieren und diesen Mehraufwand in unserer Forschung umzusetzen“, sagt Frank Kirchhoff. Daher stehe man mit der Universitätsleitung und dem saarländischen Finanz- und Wissenschaftsminister Jakob von Weizsäcker in Kontakt. In den kommenden Jahren wollen die Mediziner und Wissenschaftler des CGBM ein „Ergebnis-Portfolio“ erarbeiten, nach dessen Begutachtung durch den Deutschen Wissenschaftsrat man auf eine nachhaltige Förderung hofft.