Zeitenwende auch in der Ostsee: Seit dem Ukraine-Krieg setzt die Nato auch an der Küste auf Abschreckung. Doch die zunehmende militärische Präsenz beeinflusst das Leben in einer Tourismusregion, die vom Image einer „heilen Welt“ lebt.
Am Himmel graue Wolken, unten ein U-Boot, das durch düstere Gewässer schippert: Das Titelbild, das die CDU Schleswig-Holstein im April für ihre „Kieler Erklärung“ gewählt hat, passt gut zum Inhalt. „Wir werden wieder bedroht – unverhohlen und direkt“, heißt es in dem Dokument. „Nach Russlands Angriff auf die Ukraine (…) ist diese Bedrohung klarer und gefährlicher denn je.“ Die Schlussfolgerungen der Kieler Regierungspartei: „Es ist Zeit für eine echte Zeitenwende in der Sicherheitspolitik.“
Es ist schon bizarr: Während sich die meisten Ostsee-Besucher gerade vor allem für Strandkörbe, Wassertemperaturen oder Krabbenbrötchenpreise interessieren, hat die Politik zwischen Kiel und Stralsund ganz andere Sorgen. Ausgerechnet in Zeiten, in denen endlich die letzte versunkene Munition aus dem Zweiten Weltkrieg geborgen werden soll, geht es um neue Konflikte.
Hat der „neue Kalte Krieg“, wie ihn die Autorin Julia Berghofer in ihrem gleichnamigen Buch nennt, inzwischen auch die Ostsee erreicht? Wie geht Deutschland damit um? Und wie rüstet eine Region auf, die von Urlaub, Tourismus und Entspannung lebt?
Fest steht: Mit seinen unzähligen Datenkabeln, Pipelines und Windparks gilt der Ostsee-Raum als besonders anfällig für gezielte Attacken. Spätestens seit dem Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines im September 2022 ist klar, dass aus theoretischen Szenarien durchaus echte werden können. Zwar stellt die Bundesregierung in einer aktuellen Antwort auf eine AfD-Anfrage klar, dass „die Identität der Täter und ihr Tatmotiv (…) weiterhin Gegenstand der laufenden Ermittlungen“ seien. Ein Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt gilt jedoch als ausgesprochen wahrscheinlich.
Ähnliches gilt für die sogenannten Jamming-Attacken auf und über der Ostsee. Darunter versteht man das Aussenden von Störsignalen, die die „echten“ Signale der Satellitennavigation überdecken. Seit Februar 2022 – also dem Beginn des Ukraine-Kriegs – klagen Nato-Staaten regelmäßig über derartige gestörte GPS-Verbindungen. Diesen Winter war sogar das Flugzeug des damaligen britischen Verteidigungsministers Grant Shapps betroffen.
Offenbar kein Einzelfall: In Polen, den baltischen Staaten und Teilen Nordostdeutschlands stören Unbekannte durch Jamming regelmäßig den Luftverkehr. Im Frühjahr mussten zwei Finnair-Flugzeuge, die unterwegs ins estnische Tartu waren, deshalb umkehren. Die finnische Fluggesellschaft setzte ihre Flüge nach Tartu daraufhin mehrere Wochen aus. Im März bestellte Estland wegen der vermuteten GPS-Attacken den russischen Botschafter ein.
Bedrohung durch „Schattenflotte“
„Die anhaltenden Störungen des globalen Navigationssatellitensystems sind mit hoher Wahrscheinlichkeit russischen Ursprungs“, mutmaßt das Bundesverteidigungsministerium gegenüber dem Internetportal t-online. Der mögliche Ursprung der Störattacken: die russische Ostsee-Exklave Kaliningrad, gelegen zwischen Polen und Litauen. Dort könnte der riesige Störsender seinen Sitz haben, den Geheimdienste „Big Baltic Jammer“ getauft haben.
Dazu kommt die ökologische Bedrohung. Um westliche Sanktionen zu umgehen, schickt Russland eine „Schattenflotte“ von schrottreifen Öl-Tankern über die Weltmeere – darunter häufig auch durch die Ostsee. Die baufälligen Schiffe – laut Schätzungen über 400 an der Zahl – operieren offiziell unter der Flagge afrikanischer Staaten. Eine Havarie könnte verheerende Folgen für Fauna und Flora der Ostsee und ihrer Küsten haben. Doch rein rechtlich ist ihnen schwer beizukommen, weil das Seerecht eine Durchfahrt von internationalen Gewässern erlaubt.
Das ZDF-Magazin „frontal“ deckte bereits im vergangenen Jahr auf, wie die sogenannte Geisterflotte operiert: Indem sie ihre Identifikationssysteme deaktivieren, können die Schiffe schwieriger verfolgt werden – die Gefahr eines Zusammenstoßes und einer daraus resultierenden Umweltkatastrophe wird jedoch ungleich erhöht.
Doch wie reagieren auf solche „hybriden Bedrohungen“, wie sie Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bezeichnet? In Deutschland fangen die Schwierigkeiten schon mit der Zuständigkeit an. Die Marine ist streng genommen nur für den Kriegsfall zuständig. Die Kontrolle des deutschen Hoheitsgebiets obliegt der Küstenwache, die wiederum zur Bundespolizei gehört. So schiebt man sich bei der Überwachung der Öl-Tanker gegenseitig die Verantwortung zu.
„Das Erkennen von Sanktionsbrüchen (…) ist kein militärischer Auftrag“, antwortet das Marinekommando auf Anfrage. Eine Sprecherin der Bundespolizei wiederum schreibt: „Das Aufgabenspektrum der Bundespolizei beinhaltet keine militärischen Aspekte, daher verweise ich hiermit (…) auf die Deutsche Marine der Bundeswehr.“
Doch die muss sich, so scheint es, erst einmal um sich selbst kümmern. „Mit weniger als 50 Kriegsschiffen hat Deutschland die kleinste Marine seiner Geschichte“, bemerkt das Handelsblatt in einem aktuellen Artikel. Schlimmer noch: Meist sei „bestenfalls ein Drittel einsatzfähig“, zitiert die Zeitung einen Insider.
Die Ausstattungsdefizite sind kein Geheimnis. Schon mehrfach äußerte Marineinspekteur Jan Christian Kaack, dass er sich „große Sorgen bei der Durchhaltefähigkeit“ der Marine mache. Das Problem: Es fehlt nicht nur an Personal, sondern auch an Munition. Für manche Raketenarten, so berichten Offiziere, gibt es derzeit keinen Nachschub in den Depots. Der Militärhistoriker Sönke Neitzel fand auf einer Podiumsdiskussion bei der Münchner Sicherheitskonferenz im vergangenen Jahr noch drastischere Worte: Die Deutschen könnten „aus den Häfen auslaufen, aber nicht kämpfen.“
Diese Erkenntnis dämmert wohl auch dem Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider. Als er im Juli 2024 die Stadt Rostock besuchte, forderte er, das Marinearsenal müsse bis 2028 „kriegstüchtig“ werden – ein kontroverser Begriff, den zuerst Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) verwendet hatte. Selbst der Einsatz in Afghanistan wurde von offizieller Seite jahrelang nicht als „Krieg“ bezeichnet.
Ein Teil des 100 Milliarden Euro starken militärischen Sondervermögens, das die Bundesregierung 2022 beschlossen hat, soll daher in die Seestreitkräfte fließen. An ihren drei Standorten Rostock-Warnemünde und Kiel (beide Ostsee) sowie Wilhelmshaven (Nordsee) rüstet die Marine derzeit kräftig auf: Sie erweitert die sogenannten Arsenale, also die Standorte, an denen Kriegsschiffe gewartet, repariert und gebaut werden.
Darüber hinaus baut die Marine derzeit ein neues Unterwasser-Lagezentrum in Rostock auf. Details dazu sind noch nicht bekannt. Nur so viel: Man stehe bereit, um ein „nationales maritimes Lagebild – einschließlich Unterwasserlagebild – zu erstellen“, teilt das Marinekommando auf Anfrage mit. Damit werde man „einen wirksamen Beitrag zum Schutz von maritimer Infrastruktur leisten.“ Also von genau jenen Pipelines und Seekabeln, die es in der Ostsee so zahlreich gibt.
Dazu gesellen sich politische Forderungen. So fordert die CDU in Schleswig-Holstein, die aus Naturschutzgründen umstrittene A20 weiterzubauen und bei der Ausweisung von Ostsee-Schutzgebieten dafür zu sorgen, dass „die Erfordernisse der Landesverteidigung grundsätzlich Vorrang haben.“ Die Ablehnung des Nationalparks Ostsee durch die CDU könnte also womöglich nur der Anfang sein.
Unterwasser-Lagezentrum
Im gleichen Atemzug spricht sich die CDU für ein anderes kontroverses Thema aus: Karriereberater der Bundeswehr sollten leichter Zugang zu Schulen und Hochschulen erhalten, heißt es in der „Kieler Erklärung“ der Landespartei. Militärs sollten grundsätzlich zu Berufsinformationstagen eingeladen werden. Zivilklauseln an Hochschulen, die militärische Forschung verbieten, will die CDU streichen, „um den ungehinderten Austausch zwischen Forschung und (…) Verteidigungsindustrie zu verbessern.“ All das sind bislang nur Pläne und Forderungen – doch sie kommen immerhin von einer Partei, die in Schleswig-Holstein die Landesregierung stellt.
Auch im Alltag ist das Militär an der Küste plötzlich wieder deutlich sichtbarer. „Mach, was wirklich zählt“, steht auf einem in Tarnfleck gestalteten XXL-Plakat in Wilhelmshaven. Daneben das Foto einer Soldatin, die „für den Waffeneinsatz der Marine“ wirbt.
Waffen, Soldatinnen, Tarnfleck-Design: All das wäre bis vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen. Auch international hat sich der Auftritt der Marine stark verändert: So sind die Ostsee-Anrainer in den vergangenen Jahren öffentlichkeitswirksam zusammengerückt. Erst kürzlich unterzeichnete Deutschland mit fünf anderen Nato-Staaten eine Absichtserklärung, gemeinsam neue Seeminen für die Ostsee zu beschaffen.
Der Ostseerat – ein Gremium bestehend aus Deutschland, Dänemark, Estland, Finnland, Litauen, Lettland, Polen, Schweden, Island, Norwegen und der EU – diskutiert regelmäßig die Abwehr russischer Angriffe. „Wir haben hier nicht den Luxus zu denken, dass uns der Krieg nichts angeht“, sagte die finnische Außenministerin Valtonen beim letzten Treffen im Juni.
Auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sprach sich bei dem Treffen für eine engere Zusammenarbeit aus: „Wenn Russlands Nadelstiche versuchen, uns zu spalten, rücken wir enger zusammen.“ Konkret nannte die Grünen-Politikerin die sogenannten hybriden Bedrohungen, die „von GPS-Störungen über Sabotage an Unterwasserkabeln bis zu Desinformationskampagnen in sozialen Medien“ reichten. Kurz zuvor waren russische Kampfflugzeuge mehrere Kilometer in den finnischen Luftraum eingedrungen, wie das „Handelsblatt“ berichtet. Die Nato wiederum reagiert mit einem großangelegten Säbelrasseln – zuletzt etwa beim Ostsee-Manöver „BALTOPS“ im Juni. Nach Militärangaben nahmen rund 9.000 Soldatinnen und Soldaten an der Übung teil. Dies sei auch als „klare Botschaft der Abschreckung“ zu verstehen, verkündet die Bundeswehr auf ihrer Website, wenngleich Russland namentlich nicht genannt wird.
Völlig neu sind solche Machtdemonstrationen nicht. In ihrer Studie „Uncomfortable Neighbors“ (unangenehme Nachbarn) beschreiben die Greifswalder Politik-Wissenschaftler Margit Bussmann und Andris Banka, wie sich die militärische Lage in den vergangenen Jahren zugespitzt hat: „In den frühen 2000er-Jahren dienten die Übungen vor allem dazu, die baltischen Truppen zu modernisieren“, heißt es. Im Laufe der folgenden Jahre sei die Zahl der beteiligten Soldatinnen und Soldaten kontinuierlich angestiegen – bei manchen Manövern um das Zehnfache.
In den betroffenen Städten stoßen solche Szenarien nicht überall auf Gegenliebe. „In der Stadtgesellschaft gibt es sehr gemischte Gefühle, was den Ausbau der Marine angeht“, sagt Rostocks Oberbürgermeisterin Eva-Maria Kröger. Zwar sei die Stadt ein traditioneller Marinestandort und Nato-Hub. „Neben viel Wohlwollen gibt es aber auch Verunsicherung bis hin zu kriegskritischen Haltungen“, sagt die Linken-Politikerin.
Zur Übung Fregatte versenken
Als Stadtverwaltung pflege sie einen offenen Austausch mit der Bundeswehr; man spreche über alles. „Trotzdem fragen sich die Leute, ob die Marinepräsenz vielleicht auch ein Sicherheitsrisiko darstellt.“ Anders gesagt: Man hat Angst, zur Zielscheibe zu werden. Und dann sind da noch die ökologischen Folgen. Jahrelang hatte die Bundeswehr etwa auf Sprengübungen in der Ostsee verzichtet, weil diese eine zu große Gefahr für die marine Tierwelt darstellen könnten. Erst 2018 waren 18 Schweinswale im Fehmarnbelt gestorben, nachdem die Marine dort alte Seeminen gesprengt hatte – als Vorbereitung auf eine Nato-Großübung.
Im Lichte der Zeitenwende ist es mit dieser Zurückhaltung nun offenbar vorbei. Im kommenden Oktober will die Bundeswehr zur Übung eine ausgemusterte Fregatte in der Ostsee versenken. Die in der Region lebenden Schweinswale sollen zuvor zum eigenen Schutz vergrämt werden.
Weniger Naturschutz, mehr Militär: Die Zeichen, dass sich an der Küste etwas verändert, sind nicht zu übersehen. Doch eine positive Nachricht gibt es: Von einem „echten“ russischen Angriff, der über die hybriden Bedrohungen hinausreicht, geht die Bundeswehr derzeit nicht aus. „Eine zweite Front gegen die Nato zu eröffnen würde aus russischer Sicht keinen Sinn ergeben“, schreibt das Marinekommando. Immerhin.