Im August 1924 startete in Berlin die elektrisch betriebene Stadt-Schnellbahn. Sie ist damit die älteste S-Bahn Deutschlands. Ihre Geschichte ist eng mit dem Schicksal der lange geteilten Stadt verknüpft.

Eine defekte Weiche, ein gestörtes Signal, ein Zug, der repariert werden muss, eine ausgefallene Klimaanlage, ein Polizeieinsatz, eine Bahn, die mitten auf der Strecke stehen bleibt. „Bitte bewahren Sie Ruhe und warten Sie die Anweisungen des Bahnpersonals ab“, lautet die Anweisung der Berliner S-Bahn zum „Verhalten bei Betriebsstörungen“. Manchmal würden die Berlinerinnen und Berliner das Bahnpersonal – vor allem das in der Chefetage – aber lieber auf den Mond schießen. Mit dem eigenen Verkehrsmittel käme das S-Bahn-Management sogar bis zum Mars.
Rechnet man alle von der Berliner S-Bahn gefahrenen Strecken eines Jahres zusammen, dann kommt man auf 32,52 Millionen Kilometer. Das ist die Länge der Strecke vom Bezirk Köpenick bis zum Mars, hat die S-Bahn-Kommunikationsabteilung festgestellt. Davon, dass das Tochterunternehmen der Deutschen Bahn AG eine Mars-Mission plant, ist bisher allerdings nichts bekannt. Schließlich haben die 3.005 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, von denen 1.278 S-Bahnen fahren, auf der Erde genug zu tun. Zum Beispiel, jeden Tag rund 1,5 Millionen Fahrgäste zu befördern sowie das 340 Kilometer lange Streckennetz mit 168 Bahnhöfen in Berlin und den Vororten in Brandenburg instand zu halten.
Auf 16 Linien sind rot-gelbe Züge, die in Berlin zum Stadtbild gehören, unterwegs. Die S-Bahn gehört zu Berlin. Und sie ist seit einem Jahrhundert ein Teil der Stadtgeschichte. Am 8. August 1924 fuhr der erste elektrische Zug vom Stettiner Vorortbahnhof, dem heutigen Berliner Nordbahnhof, nach Bernau. Bis dahin wurden die Züge mit Dampflokomotiven bewegt. Die Entscheidung zugunsten eines Wechselstromsystems hatte die Deutsche Reichsbahn in ihrer Gründungsphase nach dem Ersten Weltkrieg getroffen beziehungsweise erneuert. Denn bereits seit 1900 wurden mehrere Versuche mit elektrischem Bahnbetrieb unternommen. Und schon 1913 gab es die Grundsatzentscheidung, Züge in Berlin mit Strom zu betreiben. Im Bezirk Pankow standen schon einige Fahrleitungsmasten. Doch dann kam der Krieg und die Arbeiten wurden unterbrochen.
Seit 1900 Versuche mit Elektro-Zügen
In Hamburg wurde zwar bereits einige Jahre früher elektrisch gefahren. In Berlin entstand aber das erste Stadt-Schnellbahn-System. Ab 1930 wurde dafür die Kurzform S-Bahn verwendet. Mit diesem Begriff bezeichnete die Deutsche Reichsbahn ab 1934 auch ihre Hamburg-Altonaer Stadt- und Vorortbahn. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Berliner S-Bahn von der Deutschen Reichsbahn (DR), die nun Staatsbahn der DDR war, weiterbetrieben – und zwar auch im Westteil der Stadt. „Die Bahn war beliebt, auch wegen der kürzeren Fahrzeiten und der niedrigen Preise: 20 Pfennig kostete eine Einzelfahrt damals – das war deutlich günstiger als das Konkurrenzangebot der BVG“, heißt es in der Chronik der S-Bahn. Die BVG sind die Berliner Verkehrsbetriebe, die U-Bahn und Tram sowie das Busnetz betreiben.

Für die DDR sei die S-Bahn „ein lohnendes Geschäft“ gewesen, weil die Fahrkarten im Westteil der Stadt mit Westmark bezahlt werden mussten und auf diese Weise dringend benötigte Devisen eingenommen wurden – bis plötzlich alles anders war. „Gegen Mitternacht des 13. August 1961 platzte Otto Arndt, Direktionspräsident der Deutschen Reichsbahn (DR) der DDR, die in jenen Tagen das Gesamtberliner S-Bahn-Netz betrieb, in die Leitstelle. Seine unglaubliche Nachricht: Der Verkehr mit West-Berlin wird sofort eingestellt!“, heißt es in der Chronik.
Zur gleichen Zeit öffnete der Fahrdienstleiter am Bahnhof Friedrichstraße einen Brief mit derselben Nachricht und stellte das Ausfahrtsignal auf Halt. „Schlag auf Schlag wurden in den kommenden Stunden Eingänge zugemauert, Stromschienen abgebaut und Gleisstücke herausgesägt, um den Verkehr von Ost nach West zu unterbrechen. Ganze Bahnhöfe wurden von einem Tag auf den anderen stillgelegt und verkamen zu Geisterbahnhöfen, die ohne Halt durchfahren wurden“, schreiben die S-Bahn-Historiker. Zwei voneinander getrennt betriebene Teilnetze entstanden, beide allerdings gehörten der Deutschen Reichsbahn. So endeten auf dem Grenzbahnhof Friedrichstraße die Züge aus West-Berlin auf einem anderen Gleis als die Züge aus Ost-Berlin. Eine Wand wurde eingezogen, um Sichtkontakt zu verhindern und Fluchtversuche zu unterbinden. Die empörte Reaktion aus dem Westen ließ nicht lange auf sich warten: Mit Slogans wie „Wer S-Bahn fährt, bezahlt Ulbrichts Stacheldraht“ riefen Westberliner Gewerkschaftler und Politiker wie Willy Brandt zum Boykott des Verkehrsmittels auf. Parallele Bus- und U-Bahnlinien wurden eingerichtet und alle Hinweise auf das S-Bahnnetz von den Bahnhöfen und Haltestellen getilgt. Die S-Bahn-Wagen im Westteil Berlins fuhren nun oft leer, was der DDR-Reichsbahn herbe finanzielle Verluste bis 140 Millionen Westmark pro Jahr bescherte.
Massenansturm in der Nacht des Mauerfalls

Im Ostteil der Stadt blieb die S-Bahn dagegen ein wichtiges Verkehrsmittel. „Die Boykott-Disziplin der West-Berliner hielt lange: Noch bis Anfang der Achtziger galt es als verpönt, mit der ,Honecker-Bahn‘ zu fahren – was aber nicht alle abschreckte: Einige Zehntausend pro Tag nutzten das günstige Verkehrsmittel, selbst wenn die Bahnhöfe immer weiter verkamen und immer mehr Strecken geschlossen wurden. Der S-Bahn-Streik von 1980, der mit der Entlassung vieler Westberliner Mitarbeiter und weiteren Streckenstilllegungen endete, brachte das Thema zurück auf die politische Tagesordnung und Bewegung in die Lage. Nach vergleichsweise wenigen Verhandlungsrunden übernahm der West-Berliner Senat in den frühen Morgenstunden des 9. Januar 1984 mit der BVG den Betrieb des westlichen S-Bahn-Netzes von der DDR-Reichsbahn.
Und dann kam wieder eine Nacht, in der die S-Bahn-Mitarbeiter zeigen mussten, was sie draufhaben: Der Mauerfall am 9. November 1989 traf auch die geteilte S-Bahn völlig unerwartet. „Wie schnell und unbürokratisch damals gehandelt wurde, um dem Massenansturm Herr zu werden, zeigt: Eisenbahner bleibt Eisenbahner – egal ob Ost oder West“, heißt es in der Chronik. Es gab nur eine Schnittstelle zwischen Ost und West: den Bahnhof Friedrichstraße. 28 Jahre lang hieß es dort aber sowohl aus Richtung Westen wie aus Richtung Osten: „Dieser Zug endet hier und fährt zurück“. Einer der Triebfahrzeugführer aus dem Osten, Dieter Müller, erinnert sich so an diese Nacht: „Der Bahnsteig in Friedrichstraße war schwarz vor Menschen!“ Müller gehörte zu den wenigen Ost-Eisenbahnern, die die Staatsgrenze zwischen Ost- und West-Berlin überqueren durften. Doch statt sich in die jubelnden Massen einzureihen, blieb Müller auf seinem Posten. „Ich hatte zum Schluss keinen Hut mehr auf, keinen Knopf mehr an der Jacke, ich sah wie Schlumpi aus und war mit Sekt bespritzt von Hacke bis Nacke“, erzählte er.

„So wie Müller verhielten sich viele Lokführer – im Osten wie im Westen. Sie meldeten sich freiwillig zu Zusatzdiensten – oder konnten freundlich dazu überredet werden – und legten zahllose Überstunden ein“, beschreiben die Chronisten die ersten Tage nach dem Mauerfall. Auch auf Leitungsebene wurde gemeinsam gehandelt. Die Reichsbahn stellte der BVG zusätzliche S-Bahn-Wagen zur Verfügung, gemeinsam organisierte man den Takt zwischen Ost und West – und wieder zurück. „Der Tagesspiegel“ vom 11. November berichtet von chaotischen Zuständen und Gedrängel auf den Bahnsteigen der Friedrichsstraße – wohlgemerkt in beide Richtungen – und zitiert einen älteren Herren: „Det hab ick ooch noch nich erlebt, dass ma anstehen, um wieder rin zu kommen.“
Mit der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 wurden die Karten komplett neu gemischt. Das Schienennetz der S-Bahn, wie es 1961 bestand, sollte wieder hergestellt werden. 1994 fusionierten die Deutsche Bundesbahn und die Deutsche Reichsbahn zur Deutschen Bahn AG. Das neue Unternehmen gründete die S-Bahn Berlin GmbH. Rund 15 Jahre hat es gedauert, bis alle brachliegenden Strecken wieder in Betrieb genommen waren. Beendet sei die Arbeit damit aber nicht, sagt das S-Bahn-Management, denn: „Noch heute arbeiten wir jeden Tag daran, ein bisschen besser zu werden – für die Fahrgäste Berlins und des Umlandes.“ Und wenn das mal nicht so klappt wie geplant: „Bitte bewahren Sie Ruhe und warten Sie die Anweisungen des Bahnpersonals ab.“