Wäre der Boom der Selbstoptimierung und Schönheitsoperationen auch ohne Social Media entstanden? Kann Selbstoptimierung gefährlich werden? Und was erhoffen wir uns eigentlich davon? Diese Fragen hat uns die Psychologin Prof. Dr. Ada Borkenhagen beantwortet.
Wie hat sich das Streben nach Perfektion und nach Schönheit in den letzten zehn Jahren verändert?
Ein attraktives Aussehen wird heute immer stärker eine Frage des Geldes. Man muss es sich leisten können, sich gut zu ernähren und die richtigen Produkte zu kaufen. Dazu zählen auch schönheitsmedizinische Eingriffe – vom Bleachen der Zähne bis zum Botox-Spritzen. Es gehört heute zum guten Ton, etwas an sich machen zu lassen. Die körperliche Erscheinung ist immer weniger Schicksal oder Sache der Gene, sondern ein gepflegtes und attraktives Aussehen ist heute das Ergebnis einer beständigen Arbeit am eigenen Körper.

Viele Menschen leiden unter ungesunden Körperbildern und Essstörungen. Welche Gründe können diese haben?
Studien belegen, dass in westlichen Gesellschaften die Zufriedenheit mit dem Körper bei beiden Geschlechtern, insbesondere aber bei Mädchen, stark sinkt. Ursache dafür sind Schönheits- und Körperideale wie Schlanksein bei den Frauen und ein muskulöser Körper bei den Männern. Bei beiden Geschlechtern gilt ein jugendliches Aussehen als attraktiv. Dabei werden die zumeist unrealistischen Schönheitsideale vor allem durch die Medien verbreitet.
Inwiefern beeinflussen denn Medien und Social-Media-Plattformen wie Instagram, auf denen man permanent mit vermeintlich erfolgreichen und schönen Menschen konfrontiert wird, das eigene Körperbild?
Vor allem die foto- und videobasierten Social-Media-Plattformen wie Instagram und Tiktok haben diesen Trend verstärkt. Zum einen kommunizieren wir heute immer stärker mit Selfies und Videos, also mit unserem Abbild. Dadurch sind wir auch immer häufiger mit unserem eigenen Aussehen konfrontiert und auch mit sehr attraktiv aussehenden Menschen. Dass es sich bei diesen Bildern attraktiver Personen häufig um gefakte, also bearbeitete Fotos oder Videos handelt, vergessen wir dabei aber schnell.
Gerade bei Instagram scheint es bei vielen Accounts vor allem um die Themen Selbstoptimierung und Schönheitseingriffe zu gehen – halten Sie das für gefährlich?
Ja. Selbstoptimierung – also das Streben nach einer kontinuierlichen Verbesserung – sei es des eigenen Körpers oder der mentalen Fähigkeiten, ist heute nahezu zu einer Religion geworden und wird von vielen wie ein Heilsversprechen angestrebt. Wird dieses Streben übertrieben oder wird es sogar der einzige Lebensinhalt, so ist das sicherlich bedenklich. Und ganz sicher macht es nicht glücklich! Eine weitere Gefahr liegt darin, dass wir unser Schönheitsideal nicht mehr an realen Menschen bilden, sondern dass wir es heute mit KI-generierten Schönheitsidealen zu tun haben, die nichts mehr mit realen Menschen zu tun haben. Wir sind immer stärker mit den Bildern schöner Menschen konfrontiert, die nicht nur ein bisschen retuschiert sind, sondern die es gar nicht gibt. Und es sieht danach aus, dass immer mehr Menschen diesen KI-generierten Körper- und Schönheitsidealen nacheifern werden und ihre Körper und Gesichter diesen künstlichen Vorbildern auch mittels Schönheitsmedizin angleichen lassen.
Von Gesichtsverjüngung über Nasen-Korrektur und Brust-OP –manche Frauen haben sich der Schönheit wegen schon über zehnmal operieren lassen, und Beauty-Behandlungen und Schönheitsoperationen nehmen immer weiter zu. Wäre dieser Boom auch ohne Social Media entstanden?
Social Media haben den Trend zur Körperoptimierung lediglich verstärkt, wobei es sich keineswegs um ein neues Phänomen handelt. Denken Sie an die „Trimm Dich“- Bewegung der 70er und die Aerobic- oder Fitnessbewegung der 80er-Jahre. Social Media und vor allem die Beautyfilter haben diesen Trend lediglich revolutioniert. Auch muss man sich klar machen, dass es in der Natur aller reversiblen schönheitsmedizinischen Eingriffe wie zum Beispiel der Hautfiller (unter anderem Hyaluron) oder der Behandlung von Mimikfalten mittels Botulinum-Toxin (Botox) und diverser anderer non- und minimalinvasiver Eingriffe liegt, dass sie, um ein dauerhaftes Ergebnis zu erzielen, in regelmäßigen Abständen wiederholt werden müssen. Das heißt, es ist zu einfach, wenn man meint, nur weil eine Person sich bereits zehnmal innerhalb von fünf Jahren Botulinum-Toxin hat spritzen lassen, dass dies per se pathologisch sei. Anders sieht es sicherlich aus, wenn sich jemand im gleichen Zeitraum aus rein ästhetischen Gründen zehn Mal die Nase hat korrigieren lassen. Auch hierfür kann es aber durchaus auch bei einer verpfuschten ersten Nasenoperation gute Gründe geben, aber das wären dann sehr seltene Ausnahmen.

Ab wann kann man beim Streben nach Perfektion und nach Schönheit von einer Sucht sprechen?
Wenn sich das Leben zunehmend nur noch um das Schönsein dreht und die betroffene Person dauernd mit vermeintlichen Schönheitsmakeln beschäftigt ist. Das andauernde Überprüfen des Aussehens im (Handy-)Spiegel und das Meiden von sozialen Situationen gehört dazu. Auch wenn jemand nicht akzeptieren kann, dass er nicht ewig wie eine zwanzigjährige Person aussehen kann.
Ist Schönheitswahn nur bei Frauen oder auch bei Männern zu beobachten?
Auch für Männer ist das körperliche Aussehen in den letzten Jahrzehnten wichtiger geworden. Aber es sind immer noch deutlich mehr Frauen, die sich schönheitsmedizinischen Eingriffen unterziehen. Das Verhältnis ist relativ konstant bei 80 Prozent Frauen zu 20 Prozent Männern. Dabei muss man aber auch beachten, dass sich die Schönheitsideale bei Männern mehr auf den Körper beziehen und sich oft leichter durch Training erreichen lassen. Das zeigt sich zum Beispiel bei den grauen Haaren, die bei Männern oft als sexy gelten, wie auch dezente Falten im Gesicht.
Kleine Nase, volle Lippen – bereits junge Frauen lassen sich für dieses Idealbild operieren, oft spricht man schon von einem Einheitsgesicht. Wird Individualität in unserer Gesellschaft immer unwichtiger?
Es hat auch schon früher sehr einheitliche Schönheitsideale innerhalb der Epochen oder Generationen gegeben. Durch Social Media und Beauty-Filter sind diese sicherlich noch einheitlicher geworden. Und wenn sich Menschen, vor allem Frauen, sehr einem einheitlichen Schönheitsideal anpassen wie dem Instagramface, wird dies irgendwann langweilig werden und die Gesichtsmode wird sich ändern. So wird sich auch das derzeit im Trend liegende Instagramgesicht mit seinen eher südamerikanischen Zügen – wie jede andere Mode auch – ändern und dann werden vielleicht der asiatische „Kirschmund“ oder die schmalere Oberlippe der Nordeuropäerinnen (wieder) Mode werden. Auch geht es beim einheitlichen Instagramface um „Hübschheit“, also um eine überdurchschnittliche Attraktivität, und nicht um Schönheit in einem starken Sinn des Wortes. Schönheit ist immer eine kleine Abweichung von der Norm, also nie nur der Durchschnitt. Das heißt nicht, dass es nicht universelle Schönheitsmerkmale gibt, die sicherlich auch noch in 100 Jahren ihre Gültigkeit haben werden.

Sehen Sie auch eine Gegenbewegung zu Selbstoptimierungs- und Schönheitswahn?
Als Gegenbewegung zum Schönheitswahn hat sich die Bodypositivity-Bewegung vor allem in den sozialen Netzwerken entwickelt, um die Selbstakzeptanz und Selbstliebe von Frauen zu stärken. Aber Bodypositivity ist schnell auch von Bekleidungs- und Kosmetikfirmen vereinnahmt worden. In den Mode- und Kosmetikkonzernen hat man schnell bemerkt, dass, wenn man die Frauen sich gut fühlen lässt, sie auch die eigenen Produkte kaufen. Fast jede größere Bekleidungsmarke bietet daher heute auch Kleidung für die curvy Figur an. So rettete zeitweise die Kleidungsfirma Aerie mit ihrer Bodypositivity-Kampagne dem Mutterkonzern American Eagle die Bilanzen. Mehr und mehr Kosmetik- und Modeunternehmen kommen der Forderung der Bodypositivity-Bewegung nach und werben mit deutlich diverseren Körpertypen, von schwarz bis weiß, dick bis dünn, europäisch bis asiatisch, und vergrößern so das Identifikationsangebot für ihre Kundinnen. Als einen wirklich ernstzunehmenden Gegentrend zur Selbstoptimierung sehe ich die Bodypositivity-Bewegung jedoch nicht. Zwar wird das vorherrschende Schlankheitsideal angeprangert, aber zugleich werden andere Körperideale wie Jugendlichkeit offensiv zur Schau gestellt.
Wie ist Ihre Prognose: Wird der Boom der Schönheitsindustrie noch stärker werden, und werden wir uns in Zukunft noch mehr über Schönheit definieren?
Ja. Ich sehe noch nicht das Ende dieses Trends. Im Gegenteil – gehypt durch die Tech-Millionäre wird Longevity und damit das Ideal des jugendlichen Aussehens eher noch stärker werden, zumal in den alternden westlichen Gesellschaften. Jugendlichkeit wird in den nächsten Jahrzehnten in fast allen Industrieländern aufgrund der alternden Bevölkerung ein noch selteneres Gut werden, und damit auch ein jugendliches Aussehen.
Was macht es mit uns, wenn wir die Ideale, nach denen wir streben, nicht erreichen?
Eine starke Unzufriedenheit mit unserem körperlichen Erscheinungsbild kann zu massiven Selbstwertproblemen führen und auch zu diversen psychischen Störungen.
Sollte man sich, wenn sich eine Sucht nach Schönheit und nach Operationen entwickelt, behandeln lassen, beziehungsweise welche Möglichkeiten gibt es hier?
Ja, wenn schönheitsmedizinische Eingriffe tatsächlich zur Sucht werden oder wenn die Gedanken einer Person permanent um das eigene Aussehen kreisen, dann sollte diese Person psychotherapeutische Hilfe suchen. An einigen Universitätskliniken gibt es bereits Spezialambulanzen für Körperdysmorphe Störungen.

Warum streben wir eigentlich derart nach Perfektion und Erfolg, sei es beruflich oder optisch – was erhoffen wir uns davon?
Selbstoptimierung ist zu einer Ersatzreligion geworden. Viele Menschen verbinden mit der beständigen Arbeit am eigenen Körper oder dem eigenen Aussehen eine Art Heilsversprechen. So ist es gar nicht so selten, dass in dem Fit-Halten des eigenen Körpers oder dem Erhalt eines jugendlichen Aussehens auch die Hoffnung mitschwingt, dem Tod ein Schnippchen schlagen zu können. Und in gewisser Weise stimmt dies ja auch. So hat sich ja nicht nur unsere Einstellung zum Alter geändert, sondern das hat auch das Lebens- und Selbstgefühl älterer Menschen mehrheitlich positiv beeinflusst. Und tatsächlich gelingt es ja heute immer mehr Menschen, vor allem in der westlichen Welt, lange auf einem Alterungsplateau fit und gesund zu bleiben, bevor dann der Alterungsprozess relativ spät mit diversen schweren Erkrankungen einsetzt. Die Menschen werden nicht nur immer älter, sondern bleiben auch häufig deutlich länger gesund und fit. Aber die kontinuierliche Verbesserung des eigenen Körpers oder des eigenen Selbst macht als solches nicht glücklich. So ist gerade Schönheit lediglich ein Versprechen des Glücks und nicht das Glück selbst. Ein schöner Körper macht eventuell zufrieden, aber nicht per se glücklich. Glücklich machen meist gelungene Beziehungen zu anderen Menschen. Und hier kann ein attraktives Aussehen mal hilfreich sein wie auch hinderlich.
Denken Sie an sehr schöne Menschen, die oft nicht sicher sind, ob sie wirklich um ihrer selbst willen gemocht werden oder wegen ihres attraktiven Aussehens.