Prof. Dr. Jürgen Schäfer und sein Team vom Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Gießen-Marburg (ZusE) beschäftigen sich mit der Diagnose und Weiterbehandlung von Patienten. Ein Einblick in die Arbeit eines solchen Zentrums und in die Lage von Betroffenen.
Herr Prof. Dr. Schäfer, haben viele Ihrer Patienten schon eine Verdachtsdiagnose?
Normalerweise haben Patienten, die sich an uns wenden, bereits eine Vielzahl anderer Ärzte und auch Krankenhäuser kontaktiert. In der Regel werden die vorherrschenden Symptome dann auch einer Verdachtsdiagnose zugeordnet. Entsprechend umfassend sind dann auch die Vorbefunde und Verdachtsdiagnosen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Extrem hilfreich – und von uns daher auch erbeten – ist dabei die Einschätzung des betreuenden Hausarztes, der seine Patienten ja mit Abstand am besten kennt und deren Krankheitsverlauf über lange Zeit mitverfolgt. Sagen die Hausärzte zu uns „irgendwie passt das alles nicht zusammen“, dann steckt da oftmals eine seltene oder unerkannte Ursache dahinter. Die Psychosomatik spielt gerade bei Menschen mit seltenen und/oder unerkannten Erkrankungen eine wichtige Rolle. Leider passiert es gar nicht so selten, dass wenn man scheinbar keine somatische Ursache findet, dann alles auf die Psyche geschoben wird. Das wird aber weder dem Patienten noch der Psychosomatik gerecht, da auch psychosomatische Erkrankungen bestimmte Symptome, Lebensereignisse, seelische Traumata und Verläufe vorweisen müssen und keine Erkrankungen sind, die als Lückenfüller genutzt werden dürfen.
Wie genau gehen Sie vor?
Früher hatten wir Patienten zu uns in die Ambulanz einbestellt, was aufgrund von tausenden Anfragen im Verlauf für unser kleines Zentrum nicht mehr zu stemmen war. Derzeit sichten wir im Sinne eines Zweitmeinungsverfahrens vor allem die Akten der Patienten und bestellen nur in Ausnahmefällen Patienten ein. Dabei gehen wir ganz akribisch die bereits zahlreich erfolgten Untersuchungen durch und diskutieren kritisch die dort erhobenen Befunde. Auch die umfassende Krankengeschichte sowie die Einschätzung des behandelnden Hausarztes sind für uns immer ganz wichtig. Manchmal wurde einfach nicht an eine Medikamentennebenwirkung gedacht, manchmal wurde ein Laborbefund übersehen, der zur Klärung helfen kann.
Werden manchmal auch weitere Wissenschaftler hinzugezogen und tauschen Sie sich auch mit anderen ZusE aus?
Unser ZusE ist integraler Bestandteil unserer Universitätsklinik und arbeitet zum einem mit sämtlichen klinischen Fächern eng zusammen sowie zum anderen auch mit einer ganzen Reihe von Grundlagenwissenschaftlern. Als universitäre Einrichtung sehen wir uns auch der medizinischen Forschung verpflichtet. Nur so kommt medizinischer Fortschritt zustande und in der Tat konnten wir eine ganze Reihe von ungewöhnlichen Erkrankungen nur durch die enge Zusammenarbeit mit unseren Grundlagenwissenschaftlern aufklären. So hatten wir vor einigen Jahren einen Patienten, den seit 50 Jahren zunehmend fast jeden Nachmittag schwerste Lähmungserscheinungen heimsuchten. Letztendlich hat der Patient selbst seine Diagnose gestellt, indem er uns darauf hinwies, dass er das Gefühl habe, dass die Lähmungen mit seiner Ernährung zusammenhängen können.
Wie ging es dann weiter?
Die konsequente Führung eines Ernährungs-/Befindlichkeitstagebuches des hochmotivierten Patienten ergab tatsächlich einen Zusammenhang mit der Kaliumzufuhr durch die Nahrung. Unser Physiologe-Prof. Decher, der ein ausgewiesener Kanalforscher ist, untersuchte gemeinsam mit unserem ZusE-Labor die Kalium-Kanäle und so konnten wir einen bis dahin unbekannten Defekt aufklären – einen Befund, den wir dann auch international publizieren konnten. Ohne die enge Zusammenarbeit mit Grundlagenwissenschaftlern hätten wir dieses Krankheitsbild nicht aufklären können. Das Schöne an diesem Beispiel ist die Tatsache, dass bei dem Patienten nach Aufklärung des Defektes die sehr schweren Lähmungsattacken durch eine entsprechende Kontrolle der Kaliumwerte seit etwa zehn Jahren nicht mehr aufgetreten sind. Dies ist aber auch ein Beispiel dafür, warum gerade in der universitären Medizin eine Vernetzung zwischen Grundlagenwissenschaftlern und Ärzten so wichtig ist. Zudem sind alle Zentren für seltene Erkrankungen sehr eng vernetzt und arbeiten auch vertrauensvoll zusammen.
Gibt es an Ihrem ZusE Spezialisierungen auf bestimmte Erkrankungen oder Forschungsschwerpunkte?
Wie an jeder Universitätsklinik gibt es auch bei unserem Klinikum sogenannte B-Zentren, die sich auf bestimmte seltene Erkrankungen spezialisiert haben. Hier finden sich ausgewiesene Experten für seltene Fettstoffwechselstörungen, seltene neurologische Erkrankungen, seltene Hauterkrankungen, seltene Gefäßmalformationen, seltene Leukämieformen, seltene gastrointestinale Tumore, familiäre Fiebersyndrome, seltene Nierenerkrankungen bei Kindern und vieles andere mehr.
Welche seltenen Erkrankungen sind bei Ihnen am häufigsten vertreten?
Bedingt durch die gerade erwähnten unterschiedlichen Schwerpunkte unseres Hauses sehen wir einige der seltenen Erkrankungen tatsächlich relativ häufig, so zum Beispiel neuroendokrine Tumore, Alpha-1-Antitrypsin-Defekte, blasenbildende Hauterkrankungen, Morbus Osler, Morbus Addison, Pankreastumore, seltene Verlaufsformen des Parkinson, familiäre Fiebersyndrome, homozygote familiäre Hypercholesterinämien sowie seltene Kardiomyopathien. Dies hat aber vor allem damit zu tun, dass wir hier überaus engagierte Kollegen und Kolleginnen haben, wegen denen die entsprechenden Patienten aus ganz Deutschland nach Marburg kommen.
Bei wie vielen Patienten kann ungefähr eine Diagnose gestellt werden?
Genaue Zahlen haben wir hierzu nicht. Wir gehen davon aus, dass wir bei etwa zwei Dritteln aller Patienten zur Diagnosefindung beitragen konnten, was allerdings nicht bedeutet, dass es in diesen Fällen auch immer eine Heilung oder Therapie gibt.
Konzentrieren Sie sich dann vor allem auf eine gesicherte Diagnose beziehungsweise wie geht es danach für die Patienten weiter?
Früher waren Zentren für seltene Erkrankungen vor allem für die Patienten gedacht, bei denen bereits eine seltene Erkrankung diagnostiziert worden war. Es hat sich aber herausgestellt, dass vor allem der Weg zur Diagnose einer seltenen Erkrankung eine Herausforderung darstellt, weswegen sich die meisten Zentren auch um die Diagnosefindung bemühen. Sobald eine seltene Erkrankung diagnostiziert ist, suchen die Zentren nach den entsprechenden Experten, die dann die Therapie übernehmen.
Existieren für seltene Erkrankungen denn größtenteils Therapien/Medikamente?
Leider gibt es für die wenigsten seltenen Erkrankungen eine kurative Therapie. Für die etwa 6.000 bis 8.000 unterschiedlichen seltenen Erkrankungen stehen derzeit EU-weit lediglich 154 zugelassene Medikamente als „Orphan Drugs“ zur Verfügung (siehe: www.vfa.de/de/arzneimittel-forschung/datenbanken-zu-arzneimitteln/orphan-drugs-list). Oftmals lassen sich aber auch die Symptome mildern. Allerdings bleibt zu hoffen, dass gerade die neueren Entwicklungen im Bereich der Gen-Therapie hier eine spürbare Verbesserung bringen werden.
Was macht man beim Fehlen von geeigneten Therapien – behandelt man dann zum Beispiel einzelne Symptome oder arbeitet man mit Medikamenten, die bei ähnlichen Erkrankungen eingesetzt werden – wie kann man sich das vorstellen?
In der Tat werden auch viele Medikamente eingesetzt, die primär keine Zulassung für die zu behandelnden Patientengruppen haben. Oftmals sind es „Off-Label-Use“-Therapien – auch, weil die Zulassung für die Behandlung von Kindern fehlt. So haben zum Beispiel manche Cholesterinsenker keine Zulassung bei Kindern, sondern nur bei Jugendlichen und Erwachsenen. Hier sind dann oftmals langwierige Auseinandersetzungen mit den Krankenkassen erforderlich, die ja nur Medikamente für den zugelassenen Indikationsbereich bezahlen dürfen. Man darf aber nicht vergessen, dass oftmals bereits die Kenntnis der Krankheitsursache für viele Patienten ganz wichtig ist. Denn selbst wenn es – bis jetzt noch – keine Therapie gibt, ist der medizinische Fortschritt doch enorm und vielleicht gibt es in wenigen Jahren bereits ganz andere Möglichkeiten. Zudem gibt eine Diagnose der Krankheit ein Gesicht – man weiß, was die Ursache für die Beschwerden ist. Viele Patienten ohne Diagnose werden als Simulanten diffamiert oder als „Psycho“ abgestempelt, haben Probleme mit ihrer Krankenkasse und fühlen sich allein gelassen. Darum ist die Kenntnis einer korrekten Diagnose selbst dann wichtig, wenn wir noch keine Therapie dagegen haben.
In Deutschland gibt es aktuell über 30 Zentren für seltene Erkrankungen (ZSE). Wie hoch ist die Auslastung, wie lange muss man auf Antwort oder gar auf einen Termin warten?
Derzeit sind es 37 Zentren für seltene Erkrankungen, die man auf der sehr hilfreichen Homepage vom SE-Atlas (siehe: www.se-atlas.de) finden kann. Mittlerweile haben alle Universitätskliniken ein solches Zentrum aufgebaut. Die meisten Zentren sind durch die Vielzahl von Hilfeersuchen sehr stark belastet. Da die Befassung mit einem einzigen Patienten zum Teil mehrere Tage ärztliche Arbeitszeit in Anspruch nehmen kann, sind die Wartezeiten aufgrund der komplexen Bearbeitung in aller Regel sehr lang. Befinden sich die Patienten hingegen in stationärer Behandlung in einer Universitätsklinik, dann kann sich die Wartezeit gelegentlich verkürzen, wenn das ZSE-Team zur konsiliarischen Vorstellung in domo hinzugezogen wird. Dennoch sind die Wartezeiten, die oftmals sehr viele Monate betragen, ein sehr großes Problem und extrem belastend für alle Beteiligten. Wichtig ist zudem, dass die Anfragen von dem betreuenden Hausarzt aus erfolgen und dieser dem ZSE-Team sämtliche Befunde verfügbar macht.
Was müsste sich verbessern für Betroffene von seltenen Erkrankungen?
Oh je, da gibt es wirklich sehr viel zu tun – und zwar auf vielerlei, zum Teil völlig unterschiedlichen Ebenen. Vorneweg müssten die Universitätskliniken gestärkt werden, die sich primär um die seltenen Erkrankungen kümmern. Das allein ist jedoch nicht ausreichend bei all den Problemen – um das umfassend zu beantworten, reicht der Platz hier nicht aus. Wir haben einige Aspekte zu Papier gebracht (siehe: www.change4rare.com/whitebook), wobei dies zugegebenermaßen nur eine Auswahl von Problemfeldern darstellt, die es zu beheben gilt. Ganz generell gesehen brauchen wir wieder „Kümmerer“ für unsere Patienten, wie es früher durchaus üblich war. Diese Kümmerer brauchen wir jedoch nicht nur im hausärztlichen Bereich, sondern auch in Krankenhäusern brauchen wir wieder richtige „Kümmerer-Stationen“, die vollumfassend für die Menschen sorgen. Dem steht das derzeitige Fallpauschalen-System im Wege, wobei seltene Erkrankungen naturgemäß nicht in Pauschalen passen. Gerade für die Seltenen ist aber auch der Zugang zu einer umfassenden Gendiagnostik wichtig, was derzeit in Deutschland auch vorangebracht wird (siehe: www.genom.de). Ohnehin ist ein wichtiger Punkt, dass auch die gesundheitspolitisch Verantwortlichen die vielfältigen Probleme von Menschen mit seltenen Erkrankungen erkennen und sich für Verbesserungen starkmachen. Erste Schritte sind hier schon erkennbar.
Inwiefern?
So wurde beispielsweise die „Stärkung der Zentren für unerkannte und seltene Erkrankungen“ erstmalig in den hessischen Koalitionsvertrag aufgenommen und – ebenfalls ein Novum für Deutschland – ein hessenweiter Förderverein für unerkannte und seltene Erkrankungen (FusE Hessen e.V., siehe: www.fuse-hessen.de) gegründet, deren Schirmherrin Frau Raab-Rhein ist, die Ehefrau des hessischen Ministerpräsidenten. Auch die ACHSE e.V. (siehe: www.achse-online.de) ist für Betroffene eine überaus hilfreiche Einrichtung, die mit Rat und Tat den Patienten und auch den Angehörigen zur Seite steht. Auch hier haben wir das Glück, dass wir mit Frau Eva Luise Köhler eine renommierte Schirmherrin und Unterstützerin für die Sache der Seltenen haben, die gemeinsam mit ihrem Mann, unserem früheren Bundespräsidenten Horst Köhler, sogar eine eigene Stiftung für die Forschung im Bereich der Seltenen gegründet hat (siehe: www.elhks.de/seltene-erkrankungen).
Insofern gibt es für die Seltenen zwar noch viel zu tun, aber es bewegt sich auch einiges in die richtige Richtung. Hoffen wir, dass dies auch zu nachhaltigen Verbesserungen führen wird.