Die Mutter aller Pokal-Blamagen erlebte der FC Bayern im Jahr 1994 bei den Amateuren des TSV Vestenbergsgreuth. Diese steht bis heute als Synonym für Pokal-Sensationen. Doch es gab viele mehr.
Wenn Sie sich halbwegs für Fußball interessieren, wird Ihnen der TSV Vestenbergsgreuth etwas sagen. Dabei belegt der Club derzeit Rang zwölf in der Kreisklasse Erlangen-Pegnitzgrund 1. Doch an einem Abend vor rund 29 Jahren hat sich der TSV in den deutschen Fußball-Geschichtsbüchern verewigt. Wie davor und danach auch der SC Geislingen, der FV Weinheim, der SV Sandhausen, Eintracht Trier, der 1. FC Magdeburg oder der SSV Ulm oder nun schon mindestens zum zweiten Mal der 1. FC Saarbrücken. Wir schauen auf die größten Sensationen in der Geschichte des DFB-Pokals.

1984 / 85
Der SC aus Geislingen an der Steige ist gerade erst in die Oberliga Baden-Württemberg aufgestiegen. Das ist zwar damals die Dritte Liga, diese ist aber nicht eingleisig. Gleich acht Oberligen gibt es, die meisten Spieler sind tatsächlich Amateure und Feierabend-Fußballer. Und in der ersten Pokal-Runde empfängt Geislingen den Hamburger SV, der keine 16 Monate vorher noch Gewinner des Europapokals der Landesmeister war, der heutigen Champions League. Trainiert von Ernst Happel, mit Günter Netzer als Manager, Uli Stein im Tor, Manfred Kaltz in der Abwehr und Felix Magath im Mittelfeld. Offiziell sind es 7.000 Zuschauer, in Wahrheit aber wohl einige mehr. Bilder belegen, dass manch provisorische Tribüne nur von drei Kisten Bier und zwei Backsteinen gehalten wird. Manche Fans sitzen in den Bäumen. Und müssen aufpassen, vor Freude nicht herunterzupurzeln, als die Geislinger mit 2:0 gewinnen und die bis dahin wohl größte Sensation der Pokal-Geschichte schaffen. Trainiert werden sie von Jakob Baumann, dem Vater des späteren 5.000-Meter-Olympiasiegers Dieter Baumann, dessen Bruder Rolf zur Sieger-Elf gehört. Das Schlimmste für die Hamburger ist der Spott der Gewinner. „Das ist doch deren Beruf! Wenn ich so arbeiten würde, säße ich längst auf der Straße“, sagt Mittelfeldspieler Uli Haug, der als Industriekaufmann arbeitete. Wie der „Südkurier“ auflistete, bilden zudem zwei Sportartikel-Kaufleute, ein Grund- und ein Hauptschullehrer, ein Autolackierer, ein Postbeamter, zwei Studenten, ein Bäckermeister, ein Krankenkassen-Azubi, ein Kfz-Mechanikerlehrling und ein Metzgermeister das Sieger-Team.

1990 / 91
Am 4. August 1990 erlebt der FC Bayern München seine erste riesengroße Pokal-Blamage, ebenfalls bei einem Club aus der Oberliga Baden-Württemberg. Zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte scheitern die Münchener in der ersten Runde und zum ersten Mal an einem Amateurverein. Und auch die Münchener begleitet nach der 0:1-Pleite der Spott des Underdogs. Der Vereinspräsident des FV 09 Weinheim, Wolfgang Daflinger, schenkt Bayern-Trainer Jupp Heynckes einen Bildband mit dem Titel „Weinheim einst und heute“. Warum? „Damit ihre Spieler sich über unsere Stadt informieren können. Denn einige haben vor der Begegnung nicht gewusst, wo Weinheim liegt“, sagt Daflinger. Doch die Bayern-Profis spotten auch selbst. „Gestern Weltmeister, heute Hausmeister“, sagte Libero Klaus Augenthaler. Der war 27 Tage vorher zusammen mit seinen Bayern-Kollegen Raimond Aumann, Jürgen Kohler, Stefan Reuter, Hans Pflügler und dem in Weinheim nicht eingesetzten Olaf Thon in Rom Weltmeister geworden. Die Weinheimer haben offenbar gar nicht mit der Sensation gerechnet. Das 15.000 Fans fassende Stadion ist bei knapp 40 Grad nur etwas mehr als halb ausverkauft. Siegtorschütze Thomas Schwechheimer ist von Beruf Feinblechner – und eigentlich Bayern-Fan.
1994 / 95
Die Mutter aller Pokal-Blamagen: 350 Einwohner zählt Vestenbergsgreuth damals, aber 7,5 Millionen Menschen sehen an diesem 14. August 1994, wie der fränkische Club deutsche Fußball-Geschichte schreibt. Durch ein 1:0 werfen die Amateure mit dem heutigen Heidenheimer Bundesliga-Trainer Frank Schmidt und dem späteren Lautrer Kult-Verteidiger Harry Koch in der Abwehr den FC Bayern im ersten Spiel unter dem neuen Trainer Giovanni Trapattoni aus dem Pokal. Torschütze Roland Stein, der später als Aufzugsmonteur arbeitet, erinnert sich, dass die Bayern nicht mal gratulieren. „Mit Abklatschen war nicht viel drin“, sagt er: „Bis wir wieder in der Kabine waren, waren die Bayern schon im Bus zurück in die Heimat.“ Keine zwei Jahre später tritt die Fußballabteilung des TSV übrigens der SpVgg Fürth bei. Der Club heißt seitdem SpVgg Greuther Fürth, spielt heute in der Zweiten Liga und schaffte sogar zweimal den Bundesliga-Aufstieg. Den „1:0-Tee“ aus Hibiskus, Apfelstücken, Hagebuttenschalen, Orangenschalen und Holunderbeeren kann man bis heute im „Greuther Teeladen“ bestellen.

1995 / 96
Der Sportverein aus der 15.000-Einwohner-Gemeinde Sandhausen ist inzwischen jedem Fußball-Fan ein Begriff. Doch erst 2012 steigen die Kurpfälzer in die Zweite Liga auf, aus der sie erst im Sommer 2023 wieder absteigen. Im Sommer 1995 kennen nur Experten den Club. Und rechnen ihm in der ersten Pokalrunde gegen den VfB Stuttgart mit dem „magischen Dreieck“ aus Krassimir Balakow, Giovane Elber und Fredi Bobic keine Chance aus. Stuttgarts Frank Verlaat sieht zwar schon in der achten Minute Rot, doch der VfB führt zweimal – und kassiert zweimal den Ausgleich. Ehe sich das legendärste Elfmeterschießen der Pokalgeschichte entwickelt: 25 Elfmeter hintereinander werden verwandelt. Zwei Spieler jedes Teams müssen ein zweites Mal ran, nachdem alle Spieler inklusive der jeweiligen Torhüter, geschossen haben. Den 26. Schuss setzt der Stuttgarter Hendrik Herzog an den Pfosten. Sandhausen gewinnt 13:12.
1997 / 98
Dass Eintracht Trier als Regionalligist bis ins Halbfinale einzieht, ist an sich schon eine Sensation. Das Ganze ist aber noch unglaublicher, weil die Moselaner nach einem 2:1 gegen Zweitligist SpVgg Unterhaching erst den aktuellen Uefa-Cup-Sieger FC Schalke 04 durch ein 1:0 rauswerfen und dann gar den amtierenden Champions-League- und Weltpokal-Sieger Borussia Dortmund mit 2:1. Im Halbfinale scheitert die Eintracht erst durch ein 9:10 im Elfmeterschießen an Bundesligist MSV Duisburg, weil Torhüter Daniel Ischdonat den elften Elfmeter knapp neben das Tor setzt. In der 90. Minute bejubeln die Trierer Fans den vermeintlichen Siegtreffer, der wegen einer Abseitsstellung aber nicht gilt. Eine Final-Teilnahme hätte für die Trierer auch die Teilnahme am Europapokal der Pokalsieger bedeutet, weil der spätere Sieger FC Bayern über die Liga für die Champions League qualifiziert war. Unvergessener Pokalheld jener Saison ist Rudi Thömmes, der das goldene Tor gegen Schalke schießt und auch gegen Dortmund trifft. „Dortmund hat uns gnadenlos unterschätzt. Wir waren nicht völlig blind, wir konnten auch etwas kicken. Aber das ist denen wohl zu spät aufgefallen”, sagt er.

2000 / 01
Unter den Pokal-Pleiten des FC Bayern ist die folgende bemerkenswert. Denn es ist bis zu jener in Saarbrücken die letzte Niederlage des Vereins bei einem Club, der unterhalb der Zweiten Liga spielt. Der 1. FC Magdeburg sorgt damals für die große Sensation am 1. November in der zweiten Runde – wie Saarbrücken kurioserweise gerade ebenfalls. Auch bemerkenswert: Damals wie heute treffen die Bayern drei Tage später am 4. November auf Borussia Dortmund, auch damals gewinnen sie mit vier Toren Unterschied (6:2). In Magdeburg heißt es zunächst nach 90 und 120 Minuten 1:1, dann hält Bayern-Torhüter Oliver Kahn keinen von vier Elfmetern, bei den Bayern vergeben mit Jens Jeremies und Giovane Elber zwei der vier Schützen. Kahn kann der Niederlage dennoch schnell was Positives abgewinnen. „Jetzt können wir uns auf Bundesliga und Champions League konzentrieren“, sagt der Torhüter. Und tatsächlich holen die Münchener am Ende dieser Saison beide Titel. Auch für Magdeburg endet die Saison positiv: Der FCM steigt von der Oberliga in die Regionalliga auf.
2001 / 02
Dass der SSV Ulm gegen den 1. FC Nürnberg mit 2:1 gewinnt, klingt zunächst nicht allzu spektakulär. Und doch war es ein historisches Spiel. Denn die Ulmer waren im Sommer aus der Zweiten Liga abgestiegen und wegen der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in die Verbandsliga durchgereicht worden. Ihr Sieg damals ist der erste und bis heute einzige eines Fünftligisten gegen einen Bundesligisten. Und für Nürnbergs Trainer Klaus Augenthaler ist er auch verdient. „Ulm hätte sogar höher siegen können“, sagt er: „Meine Spieler sind 20-mal ins Abseits gelaufen, das zeigt, dass der Kopf nicht frei war. Wenn die so weitermachen, dann können wir uns gleich für die Bayernliga melden.“ Den finanziell gebeutelten Ulmern rettet das Weiterkommen den kompletten Saison-Etat.

2003 / 04
Als klar ist, dass der FC Bayern zum Pokal-Viertelfinale an den Tivoli kommt, sprechen sie in Aachen vom „Spiel des Jahrzehnts“. Heute bezeichnen viele es als das größte der Vereinsgeschichte. Durch ein Tor von Erik Meijer besiegt der Zweitligist das Münchener Star-Ensemble mit 2:1, zieht durch ein 1:0 im Halbfinale gegen Borussia Mönchengladbach sogar ins Endspiel gegen Werder Bremen ein und darf trotz der dortigen 2:3-Niederlage als Zweitligist im Uefa-Cup starten. Wo die Alemannia sogar die Gruppenphase übersteht, obwohl sie ihre Heimspiele in Köln austragen muss. Davon beschwingt holt Aachen den wohl durch die kraftzehrende Pokal-Reise verpassten Bundesliga-Aufstieg nach und schreibt auch sein ganz eigenes Bayern-Märchen fort. Sowohl beim Wiedersehen im Pokal im Achtelfinale 2006 (2:4) als auch in der Liga (0:1) verlieren die Münchener am alten, kultigen Tivoli. Auf dem neuen gewinnen sie dann 2011 im Pokal-Viertelfinale mit 4:0. Dass der alte abgerissen ist, wird in München deshalb wohl kaum jemand bedauern. Die Alemannia fristet unterdessen ein Schattendasein in der Regionalliga West.
2019 / 20

Saarbrückens Vereins-Ikone Dieter Ferner übertreibt nur ein wenig. „Das ist die größte Sensation seit Christi Geburt“, sagt Ferner nach dem Sieg des FCS im Viertelfinale gegen Bundesligist Fortuna Düsseldorf. Der gelang nicht nur in einem legendären Elfmeterschießen, in dem sich Saarbrückens Torhüter Daniel Batz mit vier gehaltenen Schüssen nach einem parierten Strafstoß im Spiel in die Geschichtsbücher einträgt und nachher feststellt: „Fünf Elfmeter – das ist mehr, als ich vorher in meiner ganzen Karriere zusammen gehalten habe.“ Noch historischer ist dieser Sieg, weil Saarbrücken der erste Viertligist ist, der den Einzug ins Halbfinale schafft. „Das hier ist einfach geiler Scheiß“, sagt Saarbrückens Trainer Lukas Kwasniok: „Ich habe weinende Erwachsene gesehen, die schon schwere OPs über sich ergehen lassen mussten und viele Schlachten geschlagen haben.“ Bitter jedoch: Das Halbfinale gegen Bayer Leverkusen muss Saarbrücken wegen der Corona-Pandemie vor leerem Haus austragen und ist beim 0:3 chancenlos. Ein unwürdiges Ende einer unglaublichen Geschichte. Zuvor war wochenlang darum gerungen worden, ob der Pokal-Wettbewerb annulliert werden würde. Wenigstens das blieb dem FCS erspart.
2020 / W21
So etwas wie Saarbrücken wird es nie wieder geben, denken 2020 viele. Doch nur ein Jahr später wiederholt Rot-Weiss Essen die Geschichte – fast. Auch RWE ist Regionalligist, schlägt die Bundesligisten Arminia Bielefeld und Bayer Leverkusen sowie den Zweitligisten Fortuna Düsseldorf und ist als Viertelfinalist nur noch einen Schritt von einer Wiederholung des Saarbrücker Coups entfernt. Nach dem Achtelfinale gegen Leverkusen stellt Club-Chef Marcus Uhlig klar: „Mit Essen spielt man nicht.“ Und Trainer Christian Neidhart verrät, dass er schon ein Zimmer für das Finale in Berlin gebucht hat. Das sei „schon ernst gemeint“ gewesen, sagt er später: „Wenn man so eine Vorlage bekommt, kann man versuchen, sie zu nutzen.“ Wie das Märchen der Saarbrücker endet auch das der Essener durch ein 0:3 zu Hause ohne Zuschauer, Endstation ist der Zweitligist Holstein Kiel. Im Gegensatz zu Saarbrücken hat Essen aber alle Heimspiele vor leerem Haus austragen müssen.