Nur weil wir älter werden, schwinden nicht die Lust auf Sex und das Bedürfnis, sich nahe zu sein. Die Systemische Sexualtherapeutin Julia Henchen räumt im Interview mit Altersmythen auf, spricht über Verhütungsmethoden im Alter und gibt Sextipps für Menschen mit körperlicher Einschränkung.
Frau Henchen, Sex im Alter scheint für viele ein Tabuthema zu sein. Warum?
Ich finde das ist eine sehr spannende Frage. Zum einen hat das damit zu tun, wie wir in unserer Gesellschaft Sex bewerten. In unserer Vorstellung verbinden wir mit Sex junge, dynamische und schöne Menschen. In Pornos und Hollywoodfilmen sehen wir meist attraktive Menschen, die Sex haben und sich ineinander verlieben. Zweitens hängt das zusammen mit kirchlich geprägten Werten, Normen und Vorstellungen. Ab dem Zeitpunkt, wenn die Fortpflanzung nicht mehr nötig oder möglich erscheint, verliert der Sex seine Funktion. Im kirchlichen Verständnis ist Sex in Ordnung, wenn man Kinder zeugen möchte, aber eben nur dann. Deswegen fällt es vielen im Alter schwer, darüber offen zu sprechen. Und drittens hängt das mit dem Diskurs über Sex im Alter zusammen, zum Beispiel, dass wir denken, ab 60 beginnt das Sexualleben von älteren Menschen.
Auch ich habe unhinterfragt übernommen, dass Sex im Alter ab dem 60. Lebensjahr beginnt.
Das ist nicht meine erste Interviewanfrage zu Sex im Alter. Meistens wird davon ausgegangen, dass die Altersgrenze 60 ist. Was ich damit sagen möchte: Das ist ein Narrativ, was in unserer Gesellschaft immer wieder erzählt wird – und genau deshalb zur Realität wird. Für mich ist das Interessante daran: Warum denken wir, dass Sex im Alter ab 60 beginnt? Als ich mit jungen Menschen gearbeitet habe, dachten viele von ihnen, dass Sex im Alter schon ab 40 anfängt.
Wie wichtig ist für Seniorinnen und Senioren ein erfülltes Liebesleben für das körperlich-seelische Wohlbefinden?
Sexualität ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Ich meine nicht Sex, sondern das Gefühl nach Nähe, Verbundenheit und Zusammengehörigkeit. Sex und Sexualität begleiten und beeinflussen uns von der Geburt bis ins hohe Alter. Wenn wir den Bindungsaspekt betrachten, gibt es Untersuchungen, die klar zeigen, dass Menschen, die keine emotionalen Verbindungen zu anderen aufbauen und keine Sexualität leben, Depressionen entwickeln können. Das kann eine Folge sein von zu wenig Nähe. Ein weiterer Punkt kann sein, dass eine Person zum Beispiel keine Nähe aushalten kann.
Vor einigen Jahren belegte ein Wissenschaftlerteam der Uni Rostock gemeinsam mit britischen Kollegen, dass für ältere verheiratete Paare Zärtlichkeit eine höhere Priorität hat als Sex. Warum also verspürt man im Alter ein größeres Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Zärtlichkeit als nach Sex?
Viele Narrative spielen da hinein, glaube ich. Sex ist scheinbar nicht mehr so wichtig. Ich erlebe auch in meiner Arbeit als systemische Sexualtherapeutin, dass meine Klientinnen und Klienten Sex als sehr wertvoll und wichtig in ihrem Leben empfinden, aber zugleich erkannt haben, dass die eigentliche Nähe nicht unbedingt der Sex an sich ist, sondern sich nahe zu sein. Deswegen denke ich, dass Menschen, die über lange Jahre eine Beziehung führen, verstanden haben, dass Sex zwar eine Möglichkeit ist, dem anderen nahe zu sein, aber nicht ausschlaggebend ist. Ich erlebe sehr oft, dass vor allem jüngere Menschen versuchen am Sex abzulesen, wie gut eine Beziehung ist. Doch aus therapeutischer Sicht muss ich sagen, dass Sex kein Barometer für die Qualität einer Beziehung ist. Dennoch empfinden das viele so. Ich denke, dass sich der Blick darauf mit der Erfahrung verändert.
Ist der Gedanke, dass Sex wichtig für die Beziehung ist oder beziehungsfördernd sein muss, kulturell geprägt?
Ich würde sagen, dieses Denken ist von Medien gemacht. Natürlich prägen Medien unsere Kultur und umgekehrt. Wie häufig hören wir in Filmen, dass zwei- bis dreimal Sex in der Woche normal ist? Natürlich ist das völliger Nonsens. Aber viele denken das. Genauso prägen Kirchen unser Denken: Wenn man in einem bestimmten Alter ist, muss man Sex haben, um Kinder zu zeugen.
Einer Umfrage der AOK zufolge gibt jeder dritte Mann im Alter zwischen 70 und 79 Jahren an, sexuell aktiv zu sein, bei den Frauen sind es sogar noch mehr. In der Altersgruppe der Über-80-Jährigen sind es bei den Männern nur noch zehn Prozent, bei den Frauen noch fast jede Fünfte. Die sinkenden Zahlen sagen aber nichts über das sexuelle Verlangen, den Wunsch nach sexueller Befriedigung aus, oder?
Das ist richtig, die Zahlen sagen nichts darüber aus.
Wie verändert sich mit zunehmendem Alter der Wunsch nach sexueller Befriedigung und sich beim Sex nahe zu sein?
Meines Erachtens verändert sich der gar nicht. Das ist individuell, ob jemand zum Beispiel im Alter entscheidet nicht mehr sexuell zu sein. Allerdings ist das eine ganz bewusste Entscheidung, die durch Erziehung und Vorstellungen geprägt ist. Wenn ich zum Beispiel nie einen Zugang zu meiner Sexualität hatte und nie wusste, wie ich Sexualität so leben kann, dass sie meiner Lust dient und nicht nur den Männern beispielsweise, dann kann die Entscheidung entlastend sein.
Treffen eher Frauen oder Männer eine solche Entscheidung?
Das kommt auf die Generation an. Wenn wir uns die Altersgruppe der heute 70- bis 80-Jährigen anschauen, dann sind darunter viele Frauen, denn sie haben in ihrem Leben schlimmere Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen gemacht als Männer.
Wenn ältere Menschen aufgrund von Operationen an den Geschlechtsorganen, durch Harninkontinenz oder Krebs-OP eingeschränkt sind, müssen sie dann sexuell enthaltsam leben?
Nein, auf keinen Fall müssen sie das. Wenn sie es wollen, dürfen sie es natürlich. Auch die körperlichen Einschränkungen haben ja nicht zwangsläufig mit dem Alter zu tun. Natürlich kann es sein, dass sie im Alter häufiger vorkommen, aber das Problem ist das Gleiche. Sexualität im Alter bedeutet letztlich nur, dass man neue Ideen sammeln muss, wie man Dinge angehen und umsetzen kann. Das kann zum Beispiel damit anfangen, dass man unter das Gesäß ein Kissen unterlegt oder größere oder speziell geformte Sex Toys verwendet. Auch jüngere Menschen können erleben, dass eine Krankheit in ihr Sexleben eingreift. Das Spannende ist, dass wir Sexualität immer als etwas Außenstehendes betrachten. In Wirklichkeit hängt sie sehr viel mit unserer Identität, mit unserem allgemeinen Wohlbefinden zusammen. Es ist egal, welches Alter wir haben. Wenn es uns nicht gut geht mit dem wie es ist, müssen wir etwas verändern.
Wenn wir Sex und Sexualität als etwas betrachten, was außerhalb von uns ist, ist das eine verdinglichende Sicht?
Ich erlebe sehr häufig, dass sich Paare oft wünschen, dem Alltag zu entfliehen, dass Sex etwas ganz Besonderes sein soll. Trotzdem wünschen sie sich, dass er regelmäßig stattfindet, also etwas Alltägliches sein soll. Ich finde, Sex sollte ein Teil von unserem Leben sein. Wie auch immer das aussehen mag. Manche Paare haben einmal im Monat Sex, manche alle drei Monate, manche einmal in der Woche. Aber viel entscheidender als die Frequenz oder der Besonderheitsstatus ist, einen Rhythmus für sich selbst zu finden.
Auf welche körperlichen Besonderheiten sollten Seniorinnen und Senioren beim Sex achten?
Eine Möglichkeit wäre sich ein Kissen unter das Gesäß zu legen oder damit die Knie zu schonen. Achten sollte man auch darauf, wenn jemand Probleme hat auf dem Rücken zu liegen. Das ist aber nicht unbedingt ein altersbedingtes Problem. Bei Frauen ist wichtig danach zu schauen, wie die Klitoris gut stimuliert wird, damit ein Orgasmus erreicht werden kann. Da bräuchte man vielleicht eher ein Sex Toy als bei jemanden, der sich noch verrenken kann. Sinnvoll kann auch sein, sich näher mit dem Bett zu beschäftigen, etwa der Frage, ob man gut aufstehen kann. Die Verhütung spielt natürlich auch im Alter eine Rolle, denn Geschlechtskrankheiten wie Chlamydien, Gonorrhö und Syphilis sind sexuell übertragbar.
Wie verhütet man am besten im Alter? Würden Sie eine Empfehlung aussprechen?
Verhüten kann man mit einem Kondom oder einem Lecktuch, also ein Latextuch, das man zum Beispiel auf die Vulva auflegen kann, um sich vor sexuell übertragbaren Krankheiten zu schützen. Das Gleiche würde ich auch jüngeren Menschen empfehlen.
Was kann man gemeinsam mit seinem Liebes- und Ehepartner tun, damit das Sexualleben ab 60 immer noch erfüllt ist?
Das hat weniger mit dem Alter zu tun, als mit der Frage, wie lange ich in einer Beziehung bin und was für Bedürfnisse ich habe. Das ist eine sehr individuelle Angelegenheit. Letztlich geht es immer darum, welche Bedürfnisse ich mit Sex stillen will und wie ich Freude daran behalten kann. Wenn es Fragen zu Sex und Sexualität gibt, sollte man nicht davor zurückschrecken sich professionelle Hilfe zu holen. Das kann zum Beispiel sein, wenn beide Partner das Gefühl haben, dass das Sexleben eingeschlafen ist. Größere Themen wären zum Beispiel Erektions- und Orgasmus-Störungen sowie Affären.
Sollten ältere Menschen grundsätzlich die Möglichkeit haben, dass sie mit Ärzten über ihre Sexualität offen sprechen können?
Ja, natürlich. So wie alle anderen Menschen auch. Das ist auf jeden Fall ein Riesenproblem unseres Gesundheitssystems. Wenn man erkennt, dass Sexualität ein allumfassendes Thema für das gesamte Leben ist, ist verrückt, dass niemand danach fragt. Ich wurde von meinem Hausarzt noch nie nach meiner Sexualität gefragt. Das ist aber ein ganz wichtiger Bereich in jedem Alter. Vor allem wenn es für die heute ab 80-Jährigen darum geht, sich vor Geschlechtskrankheiten zu schützen, zumal damals die Aufklärung in der Schule noch nicht so weit war. Aus meiner Sicht sollten Ärztinnen und Ärzte – Gynäkologinnen und Urologinnen sowieso – die Thematik von sich aus ansprechen.
Menschen, die in Pflegeheimen leben, können nicht unbedingt ihre Sexualität so ausleben wie sie es gern tun würden, weil unter Umständen der Raum für Intimität fehlt. Müssen Pflegeeinrichtungen umdenken und akzeptieren, dass Sex im Alter nicht aufhört?
Es ist schon manchmal ein Problem, dass ein Rückzugsraum für Intimität fehlt. Aber eigentlich sollte das nicht sein, schließlich hat jeder ein eigenes Zimmer. Um zu vermeiden, dass sich Heimbewohner beim Sex gestört fühlen, wäre denkbar, ein Schild draußen an der Tür anzubringen. Aber zuallererst braucht es dafür in der Einrichtung ein offenes Pflegepersonal.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass diese Offenheit ganz oft fehlt. Egal, ob es Menschen mit Beeinträchtigung oder ältere Menschen sind – ihnen wird die Sexualität abgesprochen und das finde ich überhaupt nicht in Ordnung. Daher muss auf jeden Fall ein Umdenken stattfinden.