Bayer Leverkusen eilt gerade von Sieg zu Sieg und von Rekord zu Rekord. So steht die Werkself in der Bundesliga auch vor dem FC Bayern. Doch der lässt sich nicht abschütteln. Und könnte mit einem Sieg im direkten Duell am Samstag vorbeiziehen.

Irgendwie ist der FC Bayern München gefühlt schon die ganze Saison in der Krise. Dabei sagen die Zahlen – abseits vom Pokal-Aus in Saarbrücken – etwas anderes. 50 Zähler haben die Münchener aus 20 Spielen geholt. Im Vorjahr waren es gerade mal 43. Und in der Rekord-Saison 2012/13, als die Bayern am Saisonende 91 Punkte holten und mit 25 Zählern Vorsprung Meister wurden, war es mit 51 ein Pünktchen mehr.
Der Grund, dass sich in München alles nach Krise anfühlt, ist die Tatsache, dass der Meister der vergangenen elf Jahre nicht auf Platz eins steht. Dass es einen Konkurrenten gibt, der noch erfolgreicher – und dabei nüchtern betrachtet auch deutlich attraktiver spielt. 52 Punkte hat Bayer Leverkusen aus 20 Spielen geholt. Hat nie verloren und 16-mal gewonnen. Die Leverkusener, die noch nie Deutscher Meister wurden, wirken unter Trainer Xabi Alonso ungemein gefestigt und konnten bisher auch mit dem Druck umgehen, der schnell aufkam, weil sie vom Start weg als Meister-Kandidat identifizierbar waren.

Am Samstag kommt es in Leverkusen nun zum echten Showdown. Bayer gegen Bayern, Erster gegen Zweiter, das Duell der beiden besten Offensiv-Reihen und der beiden besten Defensiven der Liga – mehr geht nicht. Zwei Punkte Vorsprung haben die Leverkusener aktuell. Ob es nach dem Spiel weiter zwei sein werden oder aber fünf oder ob die Bayern mit einem Sieg vorbeiziehen werden, das könnte bei danach noch 13 Spielen vorentscheidende Bedeutung, mindestens aber Signalwirkung haben. Wir vergleichen die beiden Rivalen vor dem großen Duell:

Mannschaft
Natürlich hat der FC Bayern mit einem Marktwert von 965 Millionen Euro immer noch den exklusivsten Kader. Doch laut transfermarkt.de folgt Bayer Leverkusen mit rund 570 Millionen nun schon direkt dahinter, knapp 100 Millionen vor Borussia Dortmund. Und der Bayer-Kader wirkt aktuell zumindest ausgewogener. Vor der Saison haben die Leverkusener unfassbar gut eingekauft. Granit Xhaka, Jonas Hofmann, Victor Boniface und Alejandro Grimaldo behoben zielsicher die Schwachstellen und wurden direkt zu Stammspielern und Leistungsträgern. Im ersten Saison-Drittel ließ Trainer Xabi Alonso fast durchgängig immer dieselbe Stammelf spielen. Doch die Saison zeigte, dass Bayer weit mehr ist als elf Spieler. Zu Beginn fehlten mit Patrik Schick, Robert Andrich, Piero Hincapie und Amine Adli vier Stützen, zuletzt fielen wegen Sperren, Verletzungen und Abstellungen für den Afrika-Cup bis zu fünf Stammspieler aus. Dennoch ist Leverkusen nach 29 Pflichtspielen vom Start weg immer noch ungeschlagen, was deutscher Rekord ist. Zwar fehlten zuletzt ein paar Möglichkeiten nachzulegen, aber unter den ersten 17, 18 Spielern besteht eine gute Kader-Dichte, wer reinkommt, fügt sich schnell ins Alonso-System ein. Mit Xhaka gibt es einen echten Leader, in Jonathan Tah einen Abwehrchef, der stark wie nie ist und sich in die Nationalmannschaft zurückkämpfte und in Grimaldo oder Florian Wirtz echte Einzelkönner, die Spiele entscheiden können. Dazu in Schick und Boniface gleich zwei echte Torjäger. Und weil in der Saison quasi immer einer ausfiel, holte Bayer im Winter noch den spanischen Nationalstürmer Borja Iglesias.

Bei den Bayern gibt es in Harry Kane einen noch eiskalteren Torjäger. Torhüter Manuel Neuer hat nach seiner langen Verletzung erstaunlich schnell seine Form zurückgefunden. Jamal Musiala ist vor, nach oder neben Wirtz das größte deutsche Talent, auch sonst gibt es viele herausragende Spieler. Doch nachdem die Rufe von Trainer Thomas Tuchel nach punktuellen Verstärkungen vor der Saison relativ ungehört verhallten oder nicht umgesetzt werden konnten, entstanden tatsächlich positionsbedingt große Probleme. So fielen zuletzt fast alle Sechser oder Rechtsverteidiger aus. Offensiv fehlt Serge Gnabry weiter, auch Kingsley Coman wird nun lange ausfallen. Zudem gibt es in München traditionell viel mehr Personal-Diskussionen. Dass Thomas Müller wenig spielt, wird beispielsweise mehr und mehr zum Politikum, ähnlich sieht es mit dem aktuell verletzten Joshua Kimmich aus. Die Probleme nahmen dem Münchener Spiel etwas Selbstverständlichkeit und auch etwas den Schrecken bei der Konkurrenz. Der FC Bayern gewinnt meistens, aber er glänzt zu selten. Für die äußeren wie für die eigenen Ansprüche.

Trainer
Der frühere Bayern-Star Alonso, als Spieler Weltmeister und je zweimal Europameister und Champions-League-Sieger, hat rund um Leverkusen für große Euphorie gesorgt. Die Mannschaft geht für ihn durchs Feuer, der Club zieht bundesweit wie international großes Interesse auf sich, in der manchmal belächelten Fan-Szene hat sich enorm viel entwickelt. Auch, wenn er in Club-Chef Fernando Carro und Sportchef Simon Rolfes kongeniale Chefs hat, ist Alonso das Gesicht des Erfolges. Die meisten Neuen kamen vor der Saison auch oder sogar hauptsächlich wegen ihm. Einziges Störfeuer sind die ständigen Gerüchte um Alonso. Erst gab es monatelang welche um Real Madrid, seit der Rücktritts-Ankündigung von Jürgen Klopp nun um den FC Liverpool. Klar scheint: Alonso ist gierig, in Leverkusen Historisches zu erreichen und braucht keinen Zwischenschritt. Außer seinen drei großen Clubs als Spieler könnte ihn aktuell wenig reizen.

Doch zu diesen gehört neben Real und Liverpool eben auch der FC Bayern. Damit wird Alonso auch immer als Schatten-Trainer für Thomas Tuchel genannt, was ein Problem ist für beide Coaches und beide Clubs. Tuchel ist sicher nicht wie von Sky-Experte Dietmar Hamann behauptet und widerrufen „das größte Missverständnis seit Jürgen Klinsmann“ in München. Dennoch fremdeln beide Seiten immer noch miteinander. Tuchel ist fraglos einer der größten Fachmänner weltweit. Und er wirkt auch öffentlich sehr gereift und längst nicht mehr so verbissen. Doch er ist von Chelsea, wo er die Champions League gewann, und Paris Saint-Germain, wo er mit Lionel Messi, Neymar und Kylian Mbappé arbeitete, noch mehr Qualität gewohnt. Und weil er vor allem in England als Manager mehr Mitspracherecht hatte, drängt er auch darauf. Das führt zu Spannungen mit der Club-Führung. Und mit Spielern wie Kimmich oder Leon Goretzka, die sich durch den Ruf nach Verstärkung auf ihrer Position geschwächt fühlen.

Stimmung und Druck
Wie schon bisher zwischen den Zeilen erkennbar: Trotz des knappen Abstands zwischen beiden schwebt Bayer gefühlt auf Wolken, die Bayern sind gefühlt in der Dauer-Krise. Das ist so extrem natürlich Quatsch, wird aber wohl intern zumindest annähernd auch so empfunden. Den Druck, nach Jahren des Vizekusen-Spotts nun endlich was gewinnen zu können und irgendwie jetzt auch mal zu müssen, haben sich die Leverkusener bisher nicht anmerken lassen. Spannend wird es in der Hinsicht aber vor allem nach dem Spitzenspiel, wenn sie entweder vom Gejagten zum Jäger werden oder wegen des Vorsprungs tatsächlich was zu verlieren haben. Schafft Alonso es, die Euphorie am Leben zu halten, könnte sie Bayer zum ersehnten ersten Titel überhaupt nach 1993 führen. Im Idealfall sogar zu einem Triple. Doch genau diese Dreifach-Belastung kann auch zum Problem werden, denn Leverkusen kann es sich nicht erlauben, eine der Chancen abzuschenken. Und über genau dieses Problem stolperten sie schon 2002, als der Vizekusen-Kult durch drei zweite Plätze entstand. Der Druck liegt eigentlich immer bei den Bayern, Bayer bleibt grundsätzlich der Herausforderer und Außenseiter. Ein Titel, vor allem in der Bundesliga oder Europa League, könnte den Club auf Jahre wachsen lassen. Diese Saison, mit dieser Ausgangsposition, diesem Kader und diesem Trainer, gänzlich ohne Titel zu beenden, wäre aber ganz sicher auch eine Enttäuschung, die ähnlich nachhaltig wirken könnte wie vor 22 Jahren.
Bei den Bayern geht es aber auch um mehr als nur die Fortsetzung der seit 2012 dauernden Meisterserie. Als Tuchel im vergangenen März Julian Nagelsmann ablöste, waren noch alle drei Titel möglich. Es blieb eine Last-Minute-Meisterschaft. Würde er nun komplett ohne Titel bleiben, wäre er wohl kaum haltbar. Von der Trainer-Frage hängt aber auch das Ausmaß und die Gestaltung des Umbaus ab. Der kommen muss und kommen wird. So oder so.