Die Berliner Festspiele laden vom 9. Oktober bis zum 25. Januar zur Performing Arts Season. Schwerpunkt des Festivals ist Tanz, daneben gibt es auch Schauspiel.
Berlin ist mit international hochkarätigen Gastspielen nicht eben verwöhnt. Das betrifft insbesondere den Tanz. Der, so sieht es auch Matthias Pees, Intendant am Haus der Berliner Festspiele, nicht einmal über eine eigene, für die Präsentation großer Kompanien taugliche Spielstätte verfügt. Viele wichtige Entwicklungen machen dadurch um die Hauptstadt geradezu einen Bogen. Ein Äquivalent etwa zum Theatertreffen, das alljährlich wegweisende Inszenierungen im deutschsprachigen Raum nach Berlin einlädt, sucht man im Tanz vergebens – sieht man vom Tanztreffen der Jugend als Podium für den gehobenen Amateurbereich ab.
Gute Resonanz im vergangenen Jahr
In diese Bresche springt bereits im zweiten Jahr die Performing Arts Season, situiert im und ausgerichtet vom Haus der Berliner Festspiele. Sieben namhafte Ensembles aus Belgien, Frankreich, Israel, Deutschland und den USA stellen sich mit acht Produktionen vor, verteilt über einen Zeitraum von vier Monaten, eine echte Saison also. Erfreulich klar liegt diesmal der Schwerpunkt auf dem Tanz. Von Oktober bis Januar haben deshalb Fans dieser Form des künstlerischen Ausdrucks Hochzeit.
Eine formale Beschränkung, ästhetische oder ideologische Grenzen, so Pees, gebe es bei der Performing Arts Season nicht. Vielmehr knüpfe sie an ihre Vorgänger an, die Berliner Festwochen und die „spielzeit’europa“, überlasse jedoch die Auswahl der Gastspiele ansonsten dem künstlerischen Leiter Yusuke Hashimoto. Die überwältigende Resonanz auf das Season-Debüt 2023 ermutige zur Fortsetzung. Über der aktuellen Ausgabe steht als Leitgedanke das Thema Erinnerung in der so flüchtigen darstellenden Kunst, wie sie bereits Nele Hertling mit ihren wiederentdeckenden Gastspielen in der Akademie der Künste, später im Hebbel-Theater initiiert hatte. Die Programme der geladenen Kompanien lassen sich unter einem Aspekt sehen: wie sich aus der Avantgarde der 1960er und 1970er der zeitgenössische Tanz von heute speist und entwickelt hat, wie aus Tradition Zeitgenossenschaft wird.
Älteste unter den Choreografinnen, deren Ensembles zu sehen sein werden, ist Trisha Brown (1936 – 2017). Konsequent hat sie sich kleinsten Gesten und streng komponierten geometrischen Bewegungsrastern im Raum verschrieben. Ein Solo 1961 in der New Yorker Judson Church führte mit zur Gründung des legendären Judson Dance Theater als Keimzelle des postmodernen Tanzes. Brown ließ auf Hausdächern agieren, an Seilen Hausfassaden herunterspazieren, auf Flößen tanzen.
In Berlin ist die Trisha Brown Company mit zwei Signaturwerken ihrer Gründerin vertreten: „Glacial Decoy“ (1979) in der Ausstattung von Robert Rauschenberg und zu Projektor-Geräusch sowie „Working Title“ (1985). Ergänzt wird der Abend durch die 2023 entstandene Kreation „In the Fall“ des Franzosen Noé Soulier, der Brown zitiert und fortschreibt.
Auch Lucinda Childs (geboren 1940) stieß nach Unterricht unter anderem bei der Wigman-Schülerin Hanya Holm und bei Merce Cunningham zum Judson Dance Theater. Stark reduziert und bestechend einfach sind ihre Choreografien, haben den bewegten Menschen als Botschaft. Sie choreografierte für Robert Wilson und schuf mit Philip Glass, dessen Musik sie prägte, sowie dem Konzeptkünstler Sol LeWitt 1979 das minimalistische Werk „Dance“, das sie in Berlin zeigen wird. „Schlacken- und schnörkellose Ästhetik“ attestiert ihr die Presse. Ein zweites Programm enthält „Four New Works“, in denen man Childs, die Arbeiten auch für Ensembles von Paris bis Mailand entworfen hat, selbst auf der Bühne erleben kann.
Wie sehr die Erfindung dieser und weiterer Pioniere jener New Yorker Avantgarde bis in die Gegenwart nachwirkt, kann man an zwei Kreativen der Gegenwart studieren. Den Tanzreigen bei der Performing Arts Season einleiten wird die Belgierin Anne Teresa De Keersmaeker (geboren 1960) mit ihrer fein gefilterten Bewegungssprache. Gemeinsam mit vier Tänzern ihrer Kompanie Rosas und dem Marokkaner Radouan Mriziga setzt sie sich mit Antonio Vivaldis Zyklus „Die vier Jahreszeiten“ auseinander.
Zwei Theaterstücke als Ergänzung
„Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“ thematisiert die beunruhigenden Entwicklungen von Mensch und Natur und die zunehmende Nivellierung eben der Jahreszeiten. Den Season-Abschluss bilden Ohad Naharin und die Batsheva Dance Company aus Israel mit „Momo“. Naharin (geboren 1952) gilt als Godfather des zeitgenössischen Tanzes nicht nur in seiner Heimat, war von 1990 bis 2018 Artistic Director bei Batsheva und ist dort seither Hauschoreograf. Seine auch politisch engagierten Stücke werden weltweit gespielt. „Momo“ setzt Musik von Laurie Anderson und dem Kronos Quartet sowie Philip Glass ein, changiert zwischen Trauer und Schönheit und wurde von der Kritik als eine seiner schönsten Shows gefeiert.
Flankiert wird der Tanz von zwei prominenten Schauspielproduktionen. Thorsten Lensing (geboren 1969), längst einer der führenden deutschen Regisseure, tritt mit dem Dreieinhalb-Stunden-Marathon „Verrückt nach Trost“ (2022) auch als Autor in Erscheinung. Darin zeichnet er den Lebensweg zweier Kinder bis zum Alter nach und konfrontiert sie auf ihrer Wegsuche mit den merkwürdigsten Gestalten und Tieren. Vier erstrangige Akteure tragen den Abend, „Schauspielkulinarik vom Feinsten“ urteilte die Presse. „Garten der Lüste“ des Franzosen Philippe Quesne (geboren 1970), uraufgeführt beim Festival in Avignon, fußt auf dem gleichnamigen, rätselumwobenen Altar-Triptychon (vor 1500) von Hieronymus Bosch. Acht Personen stranden bei Quesne mit ihrem Reisebus in einer unwirtlichen Gegend, singen Arien, zitieren Shakespeare und Dante, sinnieren über Darm, Fliege, Weichtiere, erörtern bilderreich den Sinn des Lebens sowie unser Verhältnis zur Natur.
Eröffnet wird die Performing Arts Season von einem grellbunten Spektakel aus New York. In „Bark of Millions“ zelebrieren die renommierten Aktivisten Taylor Mac (geboren 1973) und Matt Ray (geboren 1995) mit 13 Performern und acht Musikern vierstündig die Freuden der Queerness. Ihre 55 Songs erinnern an die Jahre seit den gewalttätigen Stonewall-Unruhen zwischen LGBT-Personen und Polizei 1969 in New York. Oper, Theater, Show, Musical und Konzert mischen sich hier so unterhaltsam, wie die gesamte Season zu werden verspricht.