Andreas Heimer hat sich in seinem neuen Buch mit dem Verhalten von als schwierig geltenden Kindern auseinandergesetzt. Mit uns spricht er darüber, was die Sinne und Wahrnehmung der Kinder damit zu tun haben und welche Reaktionsmöglichkeiten es für das Umfeld gibt.

Herr Heimer, Sie beschäftigen sich mit dem Verhalten von Kindern, die als schwierig wahrgenommen werden. Jeder kennt wahrscheinlich selbst mindestens ein Kind, auf das Ihre Beschreibung zutrifft.
Oh ja, jeder Mensch kennt Kinder, für die Verhaltensbeschreibungen aus dem Buch „Euch nervt’s – für mich ist es sinnvoll“ zutreffen. Egal, in welchem Kontext ich vom Thema des Buches erzähle, ob mit Kolleginnen und Kollegen aus dem therapeutischen Bereich, Pädagoginnen und Pädagogen aus Schule und Kindergarten oder mit Eltern. Selbst Menschen ohne intensiveren Bezug zu Kindern erinnern sich ganz spontan an schwierige oder auch einfach rätselhafte Verhaltensweisen zum Beispiel irgendeines Nachbarjungen oder einer Nichte: „Der ist immer überall runtergesprungen“, „Die hat immer und überall ihre Schuhe ausgezogen“, „Der hatte ständig Unfälle“, „Das war ein extrem pingeliger Esser“, ... Teils liegen diese Erinnerungen sehr weit zurück. Dass sie in einem Moment, in dem das Thema Wahrnehmungsbesonderheit von mir erklärt wird, sofort wieder präsent sind, zeigt: Das Thema ist mitten im Alltag.
Sie nennen diese Kinder „wahrnehmungsbesonders“. Was genau ist damit gemeint?
Im Grunde ist jeder Mensch wahrnehmungsbesonders – und zwar in dem Sinne, dass Wahrnehmung eine ausgesprochen individuelle Angelegenheit ist. So wie es keine zwei Personen auf diesem Planeten mit demselben Fingerabdruck gibt, gibt es auch keine zwei Personen mit identischer Wahrnehmungsverarbeitung. Hinter menschlicher Wahrnehmung stehen komplexe Prozesse. Gleichwohl ist es mein Anliegen, diese Zusammenhänge zu vereinfachen und in unmittelbaren Bezug zu unseren verschiedenen Sinnen zu setzen, die ja für die Verarbeitung äußerer und auch innerer Reize zuständig sind. Und da Sinnesverarbeitung sich generell im Verhalten eines Menschen zeigt, in seiner Reaktion auf Reize, erlaube ich mir, ausgehend vom Verhalten, Rückschlüsse auf die einzigartige Wahrnehmung eines Menschen zu ziehen.
Wie ein Mensch die Welt wahrnimmt, liegt also daran, wie seine Sinne funktionieren? Im Buch werden zum Beispiel Kinder erwähnt, die einerseits große Angst vor gewissen Dingen haben und sich deshalb ausweichend verhalten. Andererseits geht es auch um Kinder, die umgekehrt kein Risiko zu kennen scheinen und sich kopfüber in waghalsige Situationen stürzen. Können Sie das genauer beschreiben?
Grob gesagt gibt es bei Wahrnehmungsbesonderheiten zwei Pole: zum einen eine Überempfindlichkeit bestimmten Reizen gegenüber. Der betroffene Mensch versucht, diese Reize zu vermeiden. Auf der anderen Seite steht die Unterempfindlichkeit gegenüber bestimmten Reizen. In diesem Fall ist der Mensch gierig und kreativ auf Reizsuche. Wahrnehmungsvorlieben oder auch -besonderheiten und in der Folge Strategien zu Suche und Vermeidung haben wir alle entwickelt. Die Frage ist aber: Ab welcher Ausprägung bereiten sie Stress? Und wem bereiten sie Stress? Häufig empfinden ja die Mitmenschen mehr Stress als die Betroffenen selbst. Ab wann muss vielleicht auch schon von einer Wahrnehmungsstörung gesprochen werden? Besteht Therapiebedarf? Oder darf ein Erscheinungsbild auch einfach als Wahrnehmungsvorliebe betrachtet und gelebt werden? Diese Fragen haben durchaus ihre Bedeutung, doch will ich mich wertfrei und lösungsorientiert mit ihnen beschäftigen – ohne vorhandene Probleme zu verniedlichen. Die Erfahrung zeigt, dass es den Umgang mit schwierigen Verhaltensweisen enorm erleichtert, wenn man – ob als Therapeut, Pädagoge oder auch in der Elternrolle – über Verständnis für schwieriges Verhalten Umgangsmöglichkeiten entwickelt. Das bedeutet nicht, dass jedes gezeigte Verhalten erduldet werden muss.
Wie sehen die Vorurteile aus, die wahrnehmungsbesonderen Kindern begegnen?

Meiner Erfahrung nach sind folgende Zuschreibungen typisch: Ein Kind, das intensiv Reize sucht, wird häufig als Provokateur oder Nervensäge wahrgenommen. Jene Kinder, welche darauf bedacht sind, Reize zu vermeiden, um sich vor einer Reizüberflutung zu schützen, hingegen werden als Verweigerer oder Angsthasen angesehen. Beides ist verletzend und bei eben einer genaueren Betrachtung zutiefst ungerecht.
Woher kommt es, dass Sie sich selbst mit diesem Thema beschäftigen?
Seit meiner Ausbildung zum Physiotherapeuten – und das ist jetzt 35 Jahre her – treibt mich der Zusammenhang von Wahrnehmung und Verhalten um. Eine spezialisierte Ausbildung zum Therapeuten für Sensorische Integration – das ist der Fachbegriff für Wahrnehmungsprozesse – beim Institut für Kindesentwicklung in Hamburg unter der Leitung der Wahrnehmungs-Erforscherin Dr. Inge Flehmig hat dieses Feuer weiter angefacht. Vorhandene Literatur und auch verschiedene Beobachtungsbögen waren hilfreich, oft aber ungenau. Das hat mich motiviert, das Thema in der praktischen physiotherapeutischen Arbeit mit wahrnehmungsbesonderen Kindern und während Seminartätigkeiten zu systematisieren. Dabei war das Ziel nicht objektive Wahrheitsfindung, die es ohnehin nicht gibt, sondern Handlungsfähigkeit über Beobachtung und Dialog. Es gibt einen schönen Satz des Schriftstellers Marcel Proust: „Eine Entdeckungsreise besteht nicht darin, nach neuen Landschaften zu suchen, sondern neue Augen zu bekommen.“ Das trifft meinen Ansatz perfekt.
Sie haben das Basissinn-Konzept entwickelt. Können Sie diesen zusammengesetzten Begriff aus „Basis“, „Sinn“ und „Konzept“ etwas näher erläutern?
Tatsächlich geht es mir zunächst einmal um folgende Bewusstmachung: dass wir neben dem Sehen, Hören, Riechen und Schmecken noch drei weitere Sinne zur Verfügung haben, von denen wir für unsere Entwicklung ganz besonders abhängig sind. Das sind das taktile System, also die Haut, das Gleichgewichtssystem und – großer Tusch! – die Tiefensensibilität. Gerade diese Tiefensensibilität wird in ihrer Bedeutung für unser Wohlbefinden noch immer extrem unterschätzt. Dabei ist es unser umfänglichster Sinn. Muskeln, Sehnen, Gelenke, die Knochenhaut, die Faszien und das Bindegewebe gehören dazu. Diese haben unfassbar viele Möglichkeiten, über ihre sogenannten Sensoren Reize zu empfangen. Einige Quellen zählen auch die tiefsten Hautschichten und unsere inneren Organe dazu. Und trotz dieser üppigen organischen und sensorischen Ausstattung ist dieser Sinn den meisten Menschen kaum bewusst. Im Sinne der Bewusstmachung all unserer drei Basissinne habe ich den Begriff „Das Basissinn-Konzept“ gewählt. Und natürlich ist das auch ein bisschen missionarisch. Meine große Überzeugung ist: Ein größeres Bewusstsein für die Bedeutung der Basissinne macht den Umgang miteinander, überhaupt das Leben und am Ende auch alle Bemühungen zu Inklusion leichter – und freudvoller!

Warum spielen gerade diese drei Basissinne eine so wichtige Rolle?
Man zählt sie im Gegensatz zum Hören, Sehen und Riechen zu den körpernahen Sinnen, es geht sozusagen um Empfindungen im Körper, nicht außerhalb. Zweitens beginnen die Basissinne ihre Aktivität bereits in einer sehr frühen Zeit der Schwangerschaft, nämlich bereits am Ende des zweiten Schwangerschaftsmonats. Zu diesem Zeitpunkt sind alle anderen Sinne noch von weit geringerer Bedeutung. Drittens kann man weder das taktile System, noch das Gleichgewicht oder die Tiefensensibilität „abschalten“. Augen, Ohren, Mund und Nase kann man beispielsweise ohne Mühe verschließen und dadurch die einströmenden Reize mindern. Das funktioniert bei den Basissinnen nicht. Deshalb braucht es extrem clevere Strategien, um mit einer Wahrnehmungsbesonderheit eines dieser drei Sinne klarzukommen. Es lohnt sich also, Strategien und Verhaltensweisen bei Kindern zu beobachten und einzuordnen, sie zu verstehen und uns zunutze machen, indem wir sie verstärken, gemeinsam mit dem Kind kreativ umwandeln oder auch einfach mal nur aushalten. Wie lässt sich beispielsweise ausgiebiges Herumhüpfen, das unstillbare Bedürfnis, barfuß laufen zu wollen oder jener Tic, immer etwas in der Hand halten zu müssen, wahrnehmungsmäßig einordnen – und schätzen lernen?
Sie haben gerade Beispiele wie Herumhüpfen oder ständiges Barfußlaufen erwähnt. In Ihrem Buch haben Sie noch viele andere Situationen beschrieben, angefangen bei Problemen beim Haareschneiden über extrem schüchternes und ängstliches Verhalten bis hin zu extremeren Vorlieben oder dem Werfen von Gegenständen.
Ja, 111 solcher Verhaltensweisen benennt der Beobachtungsbogen des Buches. Das sind 111 Möglichkeiten zu verstehen und in den Dialog zu gehen. Hier greift der Buchtitel: „Euch nervt’s – für mich ist es sinnvoll!“ Auf Knopfdruck funktioniert das selbstverständlich trotzdem nicht. Es ist ein manchmal mühsamer Prozess. Ein Prozess, bei dem sich alle Beteiligten entwickeln können.
Wie wichtig ist der adäquate Umgang mit Kindern, die als „schwierig“ wahrgenommen werden?
Ein angemessener Umgang basiert auf Neugier, Verständnis, Offenheit, Einfühlungsvermögen. Auch Gelassenheit hilft immer. Daraus ergeben sich Wertschätzung und Respekt vor all den cleveren Strategien, sprich: sichtbaren Verhaltensweisen, mit denen Kinder versuchen, ihre Schwierigkeiten in der Wahrnehmungsverarbeitung zu managen. Dieser Begriff gefällt mir gerade ganz gut: Die Kinder sind tatsächlich ihre eigenen Manager und darin beeindruckend kompetent. Doch zurück zu Ihrer Frage: Ja, es ist enorm wichtig, dass wir adäquat mit Kindern umgehen, die uns schwierig erscheinen. Entstandene Stress-Spiralen, oder sagen wir ruhig Teufelskreise, können dadurch unterbrochen werden. Wenn Sie einmal ein Kind erlebt haben, das einen solchen Befreiungsschlag spürt, wissen Sie, was ich meine.
An wen richtet sich Ihr Konzept?

Zuvorderst richtet sich das Basissinn-Konzept an Pädagoginnen und Pädagogen der Vorschule und Schule. Dort wird ja verhaltensauffälligen Kindern, sprich solchen, die schwierige Verhaltensweisen zeigen, schon seit Jahren eine deutliche Zunahme an Anzahl und Verhaltensintensität bescheinigt. Hier hege ich die große Hoffnung, dass neue Blickwinkel Entlastung verschaffen werden, neue Dialogmöglichkeiten eröffnen und sich am Ende nicht nur das persönliche Wohlempfinden betroffener Kinder steigert, sondern auch ihr Lernvermögen. Das Basissinn-Konzept ist somit ein Ansatz, inklusive Herausforderungen zu meistern. Auch die Ergo- und Physiotherapie ist vom Thema her naturgemäß eine sehr naheliegende Zielgruppe. Aber ich will mit dieser Idee professionsübergreifend zur Diskussion anregen. So könnte die Sprachtherapie, beziehungsweise Logopädie, ebenfalls davon profitieren. Die amerikanische Wahrnehmungs-Pionierin Anna Jean Ayres sprach beispielsweise schon Ende der 70er-Jahre von „Vestibulären Sprachstörungen“. Vestibulär ist der Fachbegriff für Gleichgewicht. Auch die Kinder- und Psychotherapie kann ihre Analyse schwieriger Verhaltensweisen mit einem Blick auf Wahrnehmung ergänzen. Was den Therapiebereich insgesamt eint, ist die Frage: Wo kommt das schwierige Verhalten her, wie kann ich das Kind unterstützen? Und wenn sich für jemanden nach der Beschäftigung mit dem Basissinn-Konzept ein paar neue Möglichkeitsräume eröffnen, bin ich ein glücklicher Autor. Wenn dazu auch Eltern von den Ideen und Erkenntnissen profitieren, könnte ich mein Glück kaum mehr fassen! Im Übrigen lerne auch ich bei jeder einzelnen Auseinandersetzung mit Wahrnehmungsbesonderheiten etwas hinzu. Und das ist definitiv ein großer Teil des Vergnügens, sich damit zu beschäftigen!
Was können Erwachsene von Kindern mit Wahrnehmungsbesonderheiten lernen? Oder auch vom Basissinn-Konzept?
Aufmerksamkeit. Genau hinschauen. Sich aus Denkspiralen befreien. Im Hier und Jetzt leben. Ausdauer, Beharrlichkeit. Kreativität. Ebenso: Toleranz, Wertschätzung, Respekt. Und am Ende könnte folgende Erkenntnis stehen: Vielfalt macht Spaß. Inklusion darf leicht sein. Und was im Übrigen uns Erwachsenen – ob wahrnehmungsbesonders oder nicht – auch gewiss guttut: uns selbst in unseren Bedürfnissen mehr zu vertrauen, mehr zu uns und unseren Eigenheiten und Vorlieben stehen. Das gelingt, indem wir unsere Sinne zu uns passend nutzen und unsere Aktivitäten dahingehend anpassen. Sei es, dass man sich beispielsweise wieder öfter traut, einfach mal barfuß zu laufen oder zu hüpfen, vielleicht neue Sportarten ausprobiert oder alte wieder aufgreift. Was vielen ja ebenfalls schwerfällt ist, sich im rechten Moment zurückziehen, wenn es uns zu viel wird. So will ich sagen: Wir können wahnsinnig viel lernen vom Authentisch-Sein, vom Im-Moment-Sein eines wahrnehmungsbesonderen Kindes.