Vor 50 Jahren versuchte das „Kommando Holger Meins“ der Rote Armee Fraktion (RAF), die Freilassung inhaftierter Mitglieder zu erpressen. Und das nicht etwa auf dem Territorium der Bundesrepublik, sondern in der deutschen Botschaft in Stockholm. Die linksradikale Terrororganisation ging dabei äußerst brutal vor.

Es war der 24. April 1975, als sechs bewaffnete Mitglieder der Rote Armee Fraktion (RAF) die deutsche Botschaft in Stockholm stürmten und zwölf Personen als Geisel nahmen. Ziel der Terroristen war es, die Bundesregierung zur Freilassung von 26 inhaftierten RAF-Gesinnungsgenossen zu zwingen. Vor allem ging es um die führenden Köpfe der Organisation, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof. Diese saßen bereits seit 1972 im Gefängnis, wo sie mit Hungerstreiks gegen die aus ihrer Sicht repressiven Haftbedingungen protestierten.
Holger Meins, dessen Name für das Stockholmer Kommando verwendet wurde, stieg in den Augen vieler Linksradikaler zum Märtyrer auf, da er sich tatsächlich zu Tode hungerte. Allerdings traf auch den deutschen Staat eine Schuld: Meins wurde zwar zwangsernährt, aber mit zu kleinen Portionen. Als er am 9. November 1974 starb und das Foto seines ausgemergelten Leichnams rundging, löste das bei vielen Gesinnungsgenossen blinde Wut auf den Staat aus. Einige davon wie die spätere Terroristin Susanne Albrecht gingen deshalb in den Untergrund: „Es kann nicht zugelassen werden, dass hier noch mehr Gefangene sterben“, begründete sie ihren Schritt.

Nachdem der Hungerstreik nur zum zweifelhaften Erfolg eines Märtyrertods führte, musste die RAF andere Wege suchen, um die inhaftierten Mitglieder aus dem Knast zu befreien. Vorgemacht hatte es die „Bewegung 2. Juni“, eine Art linksextreme RAF-Konkurrenz, mit der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz im Februar 1975. Der Krisenstab der Bundesregierung ließ sich damals auf die Forderungen der Entführer ein. Lorenz wurde unversehrt freigelassen, nachdem fünf inhaftierte Terroristinnen und Terroristen in den Südjemen ausgeflogen worden waren. Die Geiselnehmer von Stockholm befanden sich bereits in der Planung, als sie die Lorenz-Entführung mitbekamen. „Ich hörte die Meldung mit widersprüchlichen Gefühlen. Würde die Bundesregierung ein zweites Mal nachgeben?“, erinnert sich Ex-Terrorist Lutz Taufer, heute 81 Jahre alt, in seiner Autobiografie.
Terroristen schätzten Polizei völlig falsch ein

Wie Taufer entstammten die Geiselnehmer Siegfried Hausner und Hanna Krabbe dem Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK) in Heidelberg. Diese Organisation verstand psychische Krankheit als Folge der kapitalistischen Gesellschaft. Als das Kollektiv verboten wurde, versammelten sich einige der Mitglieder im „Antifolterkomitee Heidelberg“, so auch Terrorist Ulrich Wessel. Eine gleichnamige Organisation gab es auch in Hamburg, aus ihr gingen die Mittäter Karl-Heinz Dellwo und Bernd Rössner hervor. „Das Heidelberger und das Hamburger Komitee waren neben einer ganzen Reihe anderer Komitees die aktivsten und radikalsten“, schreibt Taufer. Als sich die sechs Terroristen zum Kommando Holger Meins zusammenschlossen, kannten sie sich seit Jahren.
Die Gruppe mietete zwei konspirative Wohnungen in Köln und Frankfurt an, traf sich aber niemals zu sechst. Man habe sich darüber verständigt, dass man bei der Aktion umkommen könne, erinnert sich Taufer. Auch dass man die Erschießung von Botschaftsangehörigen androhen, diese dann letztlich aber auch vollziehen müsse, sei der Gruppe vorher klar gewesen. Allerdings begingen die Terroristen auch eine grobe Fehleinschätzung: Sie glaubten, dass der liberale Staat Schweden mit dem Sozialdemokraten Olof Palme an der Spitze nicht die Polizei zum Sturm auf das Botschaftsgebäude losschicken würde.

Taufer war es, der das Gebäude ausspionierte. Ein einfacher Vorwand habe ausgereicht, um in die Botschaft zu kommen, schreibt er. Der Terrorist besorgte auch Sprengstoff aus Göteborg, schlief auf der Fahrt nach Stockholm am Steuer ein und landete im Straßengraben. Bevor die Polizei eintraf, versteckte er die beiden Taschen mit dem TNT und fand sie später tatsächlich wieder. Am Mittag des 24. April 1975 trafen die RAF-Mitglieder paarweise nacheinander in der Botschaft ein. Mit Waffengewalt verschafften sie sich Zugang zum abgesperrten dritten Stock des Gebäudes und nahmen dort elf Geiseln. Als die Polizei entgegen der vorherigen Einschätzung die Treppe hochstürmte, drohten die Terroristen mit der Erschießung des Militärattachés Andreas von Mirbach. Dieser musste selbst mit der Polizei verhandeln, konnte aber nicht die Forderung der RAF-Leute nach einem Abzug der Beamten durchsetzen. Deshalb wurde der zweifache Vater mit fünf Schüssen von hinten erschossen – von wem genau, wurde nie bekannt.
Mythen um Explosionsgrund
Die schwedische Polizei zog sich daraufhin zurück. Erst eine Stunde nach den Schüssen konnten zwei Polizisten, die sich dafür bis auf die Unterhose entkleiden mussten, den sterbenden Militärattaché bergen. Doch für ihn kam jede Hilfe zu spät. Taufer schreibt dazu: „Die Befreiungsaktion war mit diesem sterbenden Botschaftsangehörigen bereits gescheitert.“ Die Bundesregierung habe auch aus diesem Grund die Freilassung der 26 Gefangenen ablehnen müssen.

In Bonn war ein Krisenstab zusammengerufen worden, den Bundeskanzler Schmidt mit folgenden Worten eröffnet haben soll: „Meine Herren, mein ganzer Instinkt sagt mir, dass wir hier nicht nachgeben dürfen.“ Das wurde auch den Geiselnehmern mitgeteilt. Diese erschossen, um den Druck zu erhöhen, um 22.20 Uhr den Wirtschaftsattaché Heinz Hillegaart. Auch bei diesem Mord ist bis heute unklar, wer genau ihn begangen hat. Die Bundesregierung blieb dennoch hart. Somit wurde den Terroristen klar, dass weitere Morde als Druckmittel vergeblich sein würden.
Bei allem, was man heute über die Geiselnahme in der Botschaft in Stockholm erfährt, bleibt eine Frage immer offen: Wer oder was löste die verheerende Explosion aus, die am Ende dieser nervenzerreibenden Stunden jenes Tages stand? Um 23.45 Uhr explodierten die 15 Kilogramm TNT, die Taufer von Göteborg nach Stockholm gebracht hatte. Er selbst könne über die Ursache der Explosion nur Vermutungen anstellen, schreibt er. Bei der Gerichtsverhandlung im Jahr 1977 behaupteten die vier überlebenden Terroristen noch, die schwedische Polizei hätte den Sprengstoff mit Genehmigung der Bundesregierung gezündet. Der Terrorist Hans-Joachim Klein, der allerdings nie der RAF angehörte, sagte aus, dass einer der Terroristen über einen Draht gestolpert sei und dadurch versehentlich die Explosion auslöst wurde.
Keinerlei Entschuldigung
Wie auch immer es gewesen sein mag: Ulrich Wessel starb zwei Stunden später im Krankenhaus, wohl auch deswegen, weil er zum Zeitpunkt der Explosion eine Handgranate in der Hand hielt. Die übrig gebliebenen Botschaftsangehörigen sowie die anderen fünf Terroristen konnten sich teilweise schwer verletzt aus dem Gebäude retten. Mysteriös ist der Tod Siegfried Hausners: Zusammen mit Taufer schleppte er noch den verletzten Bernd Rössner aus der brennenden Botschaft. Er habe ein handtellergroßes Loch mit glimmenden Rändern auf dem Rücken gehabt, erinnert sich Taufer. Dennoch wurde Hausner zunächst ins Klinikum Köln und später ins Gefängnis Stuttgart-Stammheim verlegt, wo er zehn Tage später verstarb. Ein schwedischer Arzt soll den Krankentransport als „reines Todesurteil“ bezeichnet haben. Die RAF gab 1977 der Aktion zur Entführung von Hanns Martin Schleyer den Namen „Kommando Siegfried Hausner“. Im Nachhinein forderte die Stockholmer Geiselnahme noch ein weiteres Opfer: Der Konsulatsmitarbeiter Ernst Peterlechner starb 1988. Wie es auf der Webseite des Auswärtigen Amtes heißt, stand seine schwere Erkrankung, an deren Folgen er starb, in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Überfall.

Die Reue der beteiligten Terroristen ließ zum Teil lange auf sich warten, zum Teil gab es sie nie. Taufer schreibt: „Es dauerte lange, bis ich in meinem Fühlen und Denken zulassen konnte, dass die Tötung zweier Geiseln … ein Verbrechen ist, das durch nichts zu rechtfertigen ist.“ Rössner dagegen sprach 2007, 13 Jahre nach seiner Freilassung, von „einem Krieg, in dem es eben Opfer gebe“. Hanna Krabbe, die heute 79 Jahre alt ist, wurde 1996 aus dem Gefängnis entlassen und trat seither nicht mehr öffentlich in Erscheinung. Taufer kam 1995 frei und lebte danach lange in Südamerika. 2017 veröffentlichte er seine Autobiografie mit dem Titel „Über Grenzen“. Dellwo, heute 73 Jahre alt, arbeitete nach seiner Haftentlassung 1995 als Dokumentarfilmer, Autor, Verleger und Gastronom in Hamburg. Er sagte 2007 in einem Interview mit dem NDR, dass er die Geiselnahme „nicht legitimieren“, gar „verwerfen“ wolle. Sich bei den Angehörigen der Opfer zu entschuldigen, sei ihm aber nie in den Sinn gekommen. Auch gestand Dellwo den Hinterbliebenen kein Recht darauf zu, die Mörder von Hillegaart und von Mirbach namentlich zu kennen. Wahrscheinlich nehmen die vier überlebenden Terroristen ihr Wissen darüber mit ins Grab. Übrigens: Mit dem Stockholm-Syndrom hatte die Geiselnahme der RAF nichts zu tun – der Name bezieht sich auf eine Geiselnahme in einer Bank der schwedischen Hauptstadt, die 1973 von zwei herkömmlichen Verbrechern verübt wurde.