Was für den einen der „heiße Herbst" ist, ist für den anderen der „solidarische Herbst". Proteste wegen sozialer Schieflagen in der Energiekrise und Forderungen gibt es viele, aber auch Widersprüche.
Für Antje von Brook ist es ein guter Tag. „Heute ist der Schulterschluss von Klimabewegung und gesellschaftlichen Vertretern für soziale Gerechtigkeit", freut sich die Geschäftsführerin vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND)am Rande der ersten gemeinsamen Großdemonstration in Berlin. Der „solidarische Herbst" wurde mit bundesweiten Demonstrationen in fünf deutschen Großstädten ausgerufen. Initiatoren sind neben dem BUND auch der Paritätische Gesamtverband Deutschland. Beide Verbände allein könnten schon aufgrund ihrer hohen Mitgliedszahlen gut und gern eine Million Menschen auf die Straße bringen. Zu diesem neuen Bündnis für klimasoziale Energiegerechtigkeit riefen auch die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, die GEW, die Bürgerbewegung Campact oder Attac auf. Doch die Resonanz war dann angesichts der organisierten Kraft eher verhalten. Bei der zentralen Großveranstaltung in Berlin zählte die Polizei nicht mal 5.000 Teilnehmer.
Bundesweite Demonstrationen
Für Irritationen hatte offensichtlich die Aussage des Hauptgeschäftsführers des Paritätischen Gesamtverbandes Deutschland, Ulrich Schneider, geführt. Der Mann mit dem markanten Backenbart hat in den Tagen vor dem Start des „solidarischen Herbstes" mehrfach erklärt, schon mit der Begrifflichkeit wolle man sich von „heißen Herbst", den Linke und die AfD ausgerufen hatten, absetzen. „Das klingt zu aggressiv. Das, was da auf uns zukommt, können wir nur gemeinsam, mit- und nicht gegeneinander regeln. Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit sind zwei gleichberechtigte Forderungen."
Im Vorfeld des Auftaktes stellt Schneider im FORUM-Gespräch klar, wen er auf den bundesweiten Demonstrationen nicht sehen will. Zum Beispiel Menschen, die für ein Ende der Sanktionen gegen Russland werben. Für Schneider gilt die uneingeschränkte Solidarität mit der Ukraine, auch wenn das erhebliche Energie-Nachteile für Deutschland bringt, die wiederum erhebliche soziale Probleme nach sich ziehen. Bei der Nachfrage nach Lieferungen von deutschen Schützenpanzern an die Ukraine bleibt der 64-jährige Sozialexperte im Ungefähren. Für ihn geht es jetzt darum, vor allem den Menschen aus der Ukraine zu helfen. Der Hintergrund dieser von Schneider so explizit geforderten politischen Maxime: Schneider war noch bis September in der Linkspartei und deren sozialpolitisches Gesicht. Doch nach der „Russlandrede" von Linken-Ex-Fraktionschefin Sarah Wagenknecht im Bundestag verließ er, mit viel Aufsehen, die Partei und versucht sich nun auch politisch abzugrenzen. Möglicherweise hat das den ein oder anderen abgeschreckt. Da hilft es wenig, dass Ulrich Schneider nicht nur an die geflüchteten Ukrainer denkt, sondern selbstverständlich auch an die von explodierenden Kosten geplagten Menschen hierzulande. Die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze um 52 Euro ab Januar ist für ihn ein schlechter Witz. „Wir fordern die Erhöhung der Sätze jetzt und sofort um mindestens 200 Euro". Eine Forderung, die auch seine ehemaligen Parteigenossen erheben.
Längst geht es aber nicht mehr nur darum, dass die sozial Schwachen gestützt und geschützt werden müssen. Auch die immer mehr verblassende Mittelschicht muss in den Fokus des „solidarischen Herbstes" rücken. Doch hier gibt es wenige bis gar keine Antworten. BUND-Geschäftsführerin Antje von Brook urteilt etwa: „Die Gaspreisbremse ist völlig unausgegoren und die ‚Gießkanne für alle‘ sozial überhaupt nicht vertretbar". Doch bei konkreten Vorschlägen, wie es besser gemacht werden könnte, wird es bei der engagierten Umwelt- und Naturschützerin dünn. Da werden Steuermodelle für soziale Klimagerechtigkeit ins Feld geführt, doch wer die deutsche Steuerrechtsprechung kennt, weiß, das wäre – wenn überhaupt – ein Projekt für kommende Jahrzehnte.
Keiner der Akteure im „solidarischen Herbst" traut sich an das vermutlich heikelste Thema ran: Weniger ist mehr. Das Modell einer ständig nur auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaft steht infrage, nicht erst seit dem Ukraine-Krieg.
Mit der Vorstellung von Wachstums- und damit Wohlstandsverzicht tun sich auch Klimaaktivisten schwer. Seien es nun die Aktivsten vom solidarischen Herbst, Scientists oder Parents for Future oder andere. Bei Fridays for Future, Extinction-Rebellion oder Letzte Generation gibt es kaum schlüssige Vorstellungen darüber. Der vorherrschende Grundtenor ist eher, möglichst wenig zu ändern, bloß die Energie anders herzustellen – statt fossil eben regenerativ. Die Forderung nach konsequentem Wohlstandsverzicht gilt auch dort als ziemlich extreme Haltung. Die Widersprüche, die daraus notwendigerweise resultieren, werden den Aktivisten immer wieder vorgehalten – und bringen sie nicht selten in Erklärungsnotstand.
Der politische Betrieb, gegen den sich viele Proteste richten, liegt da gar nicht so weit weg, wie es manche Bilder nahelegen. Nur dass Realpolitik eben doch etwas anderes ist, als Forderungen in Reinkultur zu formulieren.
Viele Forderungen, wenige Konzepte
Allerdings bringt interessengeleitete Realpolitik auch absurde Blüten hervor. Ein eindrucksvolles Beispiel lieferte kürzlich Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP). Auf einer Pressekonferenz musste er den „Masterplan 2" der Bundesregierung für eine Mobilitätsgesellschaft vorstellen, die ziemlich einseitig auf E-Mobilität setzt. Es ging um den flächendeckenden Ausbau von Ladestationen für Elektroautos. Die Planzahlen erweckten schon bei der Vorstellung den Eindruck, einigermaßen illusorisch und bis 2030 nicht umsetzbar zu sein. Der von der Ampel vorgelegte Plan sieht vor, innerhalb der kommenden acht Jahre Tankstellen an den Autobahnen und Autohöfen an Hochspannungsleitungen anzuschließen, um damit die Giga-Ladestationen mit Strom zu versorgen. Auf Nachfragen wurde dann der Verkehrsminister mehr als schmallippig, das Unbehagen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Kein Wunder. Deutschland hat es in beinahe 20 Jahren nicht geschafft, den Wind-Strom von der Küste per 380-KV-Hochspannungsleitungen in den Süden des Landes zu bringen. Jetzt sollen bundesweit Tankstellen, Rastplätze und Autohöfe innerhalb von nicht mal acht Jahren mit eigenen Leitungen verbunden werden. Da bleiben viele Fragen offen.
Was bei solchen Plänen der Bundesregierung noch mehr irritiert: Bereits seit dem Spätsommer werden bundesweit von vielen Kommunen Anträge auf Ladestationen für E-Autos unter Verweis auf die Energiesicherheit nicht mehr bewilligt und auf irgendwann aufgeschoben. Zumindest Landräte und Bürgermeister vor Ort haben die Brisanz erkannt. Abgedunkelte Innenstädte, drohende Stromsperren für Privathaushalte und Blackouts sind ein klarer Widerspruch zum Ausbau der Ladestationen mit gigantischem zusätzlichem Stromverbrauch. Zumindest die Kommunalpolitiker fragen sich, was jetzt wichtiger ist: Funktionierende Strom-Infrastruktur und warme Wohnungen oder E-Auto fahren?