Die EU hat die Schuldenregeln modernisiert – viele Länder werden bald wieder sparen müssen. Kritiker befürchten, dass nun weniger Geld in Klimaschutz und Sozialsysteme fließen könnte. Denn nur wenige können sich diese Ausgaben innerhalb der EU-Kriterien leisten.
Lange geplant, ist sie nun endlich da: die Reform der EU-Staatsschulden und Haushaltsdefizite der Mitgliedsländer. Die reformierten Regelungen schreiben den Staaten unter anderem Obergrenzen für Schulden vor. Demnach sollen künftig etwa klare Mindestanforderungen dafür gelten, wie hoch verschuldete Länder ihre Schuldenstandsquoten senken. Gleichzeitig soll bei EU-Zielvorgaben die individuelle Lage von Ländern stärker berücksichtigt werden.
Das Regelwerk soll die Budgetdisziplin der Länder sichern und damit solide öffentliche Finanzen garantieren. Diese gelten als wichtige Voraussetzung für die Stabilität in der EU und im Euroraum. Bei Übertreten der Obergrenzen können Schulden-Strafverfahren, sogenannte Defizitverfahren, eingeleitet werden. Dann muss ein Land Gegenmaßnahmen einleiten, um Verschuldung und Defizit zu senken.
Die bisherigen Regeln aus den 1990er- Jahren wurden von Kritikern seit langem als zu kompliziert und zu streng angesehen. Es galt eine jährliche Defizitgrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) und eine Staatsverschuldungsgrenze von 60 Prozent des BIP. Länder, die diese Latte rissen, mussten die Verschuldung um ein Zwanzigstel pro Jahr in Richtung 60 Prozent reduzieren. Zuletzt waren die Strafverfahren wegen der Corona-Krise sowie der Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine aber ganz ausgesetzt. Vor allem 2020 lagen die Defizite in fast allen EU-Ländern deutlich über der Drei-Prozent-Marke.
Grundsätzlich soll nun die 60-Prozent-Marke weiter gelten. Zudem soll das gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit – also die vor allem durch Kredite zu deckende Lücke zwischen den Einnahmen und Ausgaben des öffentlichen Haushalts – unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gehalten werden. Die Defizitgrenze von drei Prozent des BIP bleibt ebenfalls bestehen, kann aber vorübergehend überschritten werden, wenn die Verschuldung zufriedenstellend sinkt. Eine neue Defizitgrenze von 1,5 Prozent gilt in Zeiten guter Wirtschaftslage, um einen Puffer aufzubauen.
In Zukunft soll den Plänen nach aber unter anderem die individuelle Lage von Ländern stärker berücksichtigt werden, indem sie in Risikogruppen eingeteilt werden. Wenn Mitgliedstaaten glaubhafte Reformpläne vorlegen, soll auch der Zeitraum zur Schuldenverringerung verlängert werden können. Länder verhandeln nun individuelle vier- bis siebenjährige Programme mit der EU, um die Schulden- und Defizitziele zu erreichen, statt eines einheitlichen Ansatzes. Darüber hinaus sind unter anderem Schutzmaßnahmen geplant: Hoch verschuldete Länder mit einem Schuldenstand von mehr als 90 Prozent sollen ihre Schuldenquote jährlich um einen Prozentpunkt senken müssen, Länder mit Schuldenständen zwischen 60 und 90 Prozent um 0,5 Prozentpunkte. Letztlich sollen die Länder mehr Spielraum für Investitionen im Zusammenhang mit der grünen Transformation oder der Verteidigung erhalten.
Im Wesentlichen zielen die neuen Regeln also auf eine deutlich maßgeschneiderte Fiskalpolitiken, mehr Investitionsflexibilität und eine Abkehr von der ausschließlichen Konzentration auf Defizitzahlen hin zur Analyse der Schuldentragfähigkeit ab.
Doch sind Kritiker nicht davon überzeugt, dass die neuen Regeln die Investitionen etwa in Klimaschutz oder in den sozialen Bereich, die in den kommenden Jahren nötig sein werden, in Betracht ziehen. Eine Analyse seitens des Europäischen Gewerkschaftsbundes und der New Economics Foundation war Anfang April zu dem Ergebnis gekommen, dass bei Einhaltung der geplanten Regeln ab 2027 nur noch Dänemark, Schweden und Irland in der Lage seien, sich die dafür notwendigen Ausgaben zu leisten. Der Rest muss sparen. Auch in Deutschland würden demnach Investitionen stark gehemmt, hieß es, und auch die Grünen im Europaparlament sehen die Reform daher sehr kritisch. Sie werde den Bedürfnissen der Zeit nicht gerecht, sagte die Europaabgeordnete Henrike Hahn.
Bundesfinanzminister Lindner spricht von „Stabilität“, er ist mit dem Signal aus Brüssel zufrieden. Dabei sind die vorliegenden Zahlen ökonomisch nicht hinreichend begründet. Vielmehr sei die 60-Prozent-Marke der durchschnittliche Schuldenstand der EU-Länder im Jahr 1990 gewesen, mithin eher zufällig gewählt, heißt es in einem Aufsatz des Ökonomen Jan Priewe. Überzeugende Gründe für die Drei-Prozent-Grenze des Defizits: ebenfalls Fehlanzeige.
Sparpolitik nutzt extremen Parteien
Dabei könnte genau jenes Spargebot mitverantwortlich für den Aufstieg vor allem extrem rechter Parteien in der EU sein. Dies legen mehrere Studien nahe. 2022 veröffentlichte das Center for Economic Policy Research (CEPR), eine politisch unabhängige Non-Profit-Organisation, eine Studie vor. Sie sieht die Austeritätspolitik der EU-Länder in direktem Zusammenhang mit dem Erstarken von extremen Parteien: In vielen Industrieländern haben seit der Rezession 2007 bis 2009 populistische und Anti-Establishment-Parteien deutlich an Zustimmung gewonnen. Höhere Wahlergebnisse für diese Parteien führten zu mehr Parteienfragmentierung und politischer Polarisierung. Die Studie zeigt einen kausalen Zusammenhang zwischen strikter Sparpolitik und dem Erstarken extremer Parteien auf. Ökonomisch betrachtet verursachten die Sparmaßnahmen laut der Studie Rezessionen mit Einbrüchen bei Produktion, Beschäftigung, Investitionen, Konsum und Löhnen auf regionaler Ebene. Diese sogenannten „Austeritäts-Rezessionen“ verstärkten die politischen Kosten wirtschaftlicher Abschwünge, indem sie das Misstrauen in die Politik und Institutionen erhöhten.
Strikte Sparpolitik, so legt die Studie nahe, sei nicht nur ökonomisch kostspielig, sondern trage auch zur politischen Polarisierung bei, indem sie populistischen Kräften Auftrieb verleihe. Die Autoren warnten daher vor den politischen Risiken übermäßiger Haushaltskonsolidierung, die zu Frust in der Bevölkerung und Untergrabung des Vertrauens in die demokratischen Institutionen führen kann. Ihre Sicht wird durch mehrere weitere Studien untermauert. Forscherinnen und Forscher der Universität Cambridge beispielsweise untersuchten 166 Wahlen weltweit seit 1980 und schlossen aus den Ergebnissen, dass Sparpolitik zu einer Zunahme der Polarisierung und des Stimmenanteils für nicht-etablierte Parteien, auch jenen an den extremen Rändern, führt.
In Frankreich wird 2027 ein neuer Präsident oder eine neue Präsidentin gewählt. Beste Chancen hat im Augenblick laut aktuellen Umfragen Marine Le Pen vom rechtsextremen Rassemblement National, während Emmanuel Macron seit Beginn seiner Amtszeit eine strikte Sparpolitik verfolgt. Nun verlangt der französische Notenbankchef François Villeroy de Galhau, dass Frankreich angesichts hoher Schuldenberge von derzeit 98 Prozent des BIP seine Haushaltsausgaben weiter herunterfährt. Nach Berechnungen des französischen Think Tanks Bruegel müsste das Land 30 Milliarden Euro einsparen, will es nach den neuen EU-Regeln kein Defizitverfahren gegen sich eröffnet sehen.
Dass Geld alleine Extremismus eindämmt, so einfach ist die Formel sicherlich nicht. Ein polarisierendes Element und die nachfolgenden unweigerlich erfolgenden Verteilungsdebatten aber wären damit entschärft.
In der deutschen Debatte rund um die Schuldenbremse gilt diese als alternativlos. Das Bundesverfassungsgericht hatte den Plan der Bundesregierung, CoronaHilfsgelder an der Schuldenbremse vorbei umzuwidmen, einkassiert, also muss woanders gespart werden. Jene Alternativlosigkeit des Sparens wird vom Wähler laut wissenschaftlichen Studien als extrem negativ wahrgenommen. Wer trotzdem simple Alternativen hierzu anbietet, und dies tun populistische Parteien, steht bei Wahlen klar politisch höher im Kurs. In Deutschland müsste daher die Schuldenbremse mindestens reformiert werden. So wie diese aktuell gesetzlich geregelt ist, findet sie keine Antworten auf Langzeitauswirkungen von Notlagen, die, wie derzeit, staatliche Ausgaben zum Ankurbeln der Wirtschaft erfordern, so unter anderen der Experte für öffentliche Finanzen Stefan Korioth im „Tagesspiegel“. Durch die individuelle Betrachtung des jeweiligen Landes sind die neuen EU-Regeln zwar ein Schritt in die richtige Richtung. Politisch aber bedeutet Sparen zur falschen Zeit, dass die extremen Ränder in wirtschaftlich schwierigen Zeiten gestärkt werden. Und dies wird die EU auch am 9. Juni schwarz auf weiß sehen.