Graham Hill gilt neben Jim Clark als erfolgÂreichster britischer Motorsportler seiner Zeit. Vor 50 Jahren starb der ehemalige Formel-1-Weltmeister am Steuer – nicht auf der RennÂstrecke, sondern beim Absturz seines Flugzeugs.
Die weißrote Piper Aztec PA-23-2500 schaffte spielend 300 km/h. Bald würde sie im Norden Londons landen, auf dem Elstree Aerodrome. Das provenzalische Le Castellet hingegen, mit seinen milden Wintern, malerischen Olivenbäumen und seinen um diese Jahreszeit abgeernteten Weinhainen, es lag schon etliche Stunden und über 1.000 Kilometer hinter ihnen. Sie hatten es am Nachmittag verlassen. Good old England hatte sie jetzt wieder. Die sechs Mannen an Bord, alle miteinander Mitglieder des Embassy Hill Teams, unter ihnen ein vielversprechendes Nachwuchstalent, der 23-jährige Rennfahrer Tony Brise, der in diesem Jahr schon zehn Formel-1-Teilnahmen verbuchen konnte. Sie alle hatten einen wohltuend ermüdenden Arbeitstag hinter sich gebracht, fatigant, wie es in Frankreich heißt. Namentlich Testfahrten mit einem neuen Rennmodell auf dem dortigen Circuit Paul Ricard bei Marseille. Eine behagliche Vorfreude auf die herannahenden Feiertage ergriff sie.
Es ist Samstag, der 29. November 1975. Und es dunkelt jetzt mehr und mehr. Nebelschwaden flattern schemenhaft an den acht Acrylglasscheiben der zweimotorigen Propellermaschine entlang. Eine undurchdringliche, vorwinterliche Wand baut sich vom Boden her unentrinnbar auf. Jetzt sind mehr denn je die Geschicklichkeit und Erfahrung, das Gespür des Piloten gefragt. Gegen 21.30 Uhr reißt unvermittelt der Kontakt zum Tower ab. Die Verbindung zum Leben ist gekappt – und wird es für immer sein. Die Piper stürzt ab. Bald züngeln nur noch Flammen, knistert Unterholz. Aufgrund einer – so vermuten die Havarie-Inspektoren später – verhängnisvollen Überschätzung des Piloten hatte die Maschine, schon für die Landung vorbereitet, plötzlich Baumwipfel gestreift, schmierte kurz darauf gänzlich ab. Und ging in einer Flammenhölle auf …
Weltweite Anteilnahme nach tragischem Absturz
Ein Bild der Verwüstung bot sich den überbürdeten Helfern in einem düsteren Waldstück auf dem unwegsamen Arkley-Golfplatz. Und dies fatal verspätet, um Stunden gar, da es dem Rettungstrupp fast unmöglich war, zum hügeligen Unglücksort zu gelangen. Denn er blieb in den zahlreichen sandigen Golfbunkern und -schikanen stecken. Die Piper war durchaus schon mit einem Autopiloten ausgerüstet, der Flieger war seit Langem versiert, ein verantwortungsvoller, fitter Pilot, vielseitig beschlagen; er flog die stets bis ins kleinste Detail gut gewartete Maschine immerhin seit nahezu zehn Jahren. Bei jeder Gelegenheit und leidenschaftlich gerne. Und hatte unter anderem eine Nachtflugausbildung absolviert. Allerdings – nicht als Gefahrenherd zu unterschätzen – hatte der angesteuerte Flugplatz 1975 weder ein Instrumentenlandesystem noch Radar, keine Funkbake (directional radio beacon), nur eine Nachtlandebahn.
Graham Hill, der Pilot, kannte die Gegend wie seine Westentasche. Sein Haus in Shenley, in einer ruhigen Gegend nahe London gelegen, in der er mit seiner Familie wohnte, befand sich unweit seines Geburtsortes Hampstead. Überhaupt – signifikant oder nicht: Alle Örtlichkeiten waren in dieser Nacht oder für Hill lebensgeschichtlich miteinander eng verwoben: Sein Geburtsort, sein Wohnort, sein angestrebter Flughafen, die Unglücksstelle – sie waren sämtlich beim Absturz bloß eine Handvoll Meilen voneinander entfernt. Es blieb für viele Fachleute rätselhaft, warum Hill keinen risikoärmer ausgestatteten Flugplatz ansteuerte. Möglicherweise kostete diese Entscheidung ihn und die Crew das Leben.
Die Nachricht über seinen Tod erschütterte nicht nur die Welt des Motorsports, sondern das gesamte britische Königreich. Selbst weit darüber hinaus, bis hin zu den USA, waren die Menschen betroffen – jene, die ihn kannten, die ihn bewunderten. Die Gazetten, darunter die „New York Times“, widmeten Graham Hill umfangreiche Reminiszenzen. Rennkollege Jackie Stewart strich in seinem persönlichen Nachruf heraus, dass Graham ihn 1966 beim Grand Prix in Belgien aus seinem verunglückten Wagen gerettet hatte – und sich selbstlos dadurch die Chance nahm, das Rennen fortzusetzen. Diesen Gentleman an den Steuerrudern, man kannte ihn also in der ganzen Welt, nicht bloß des Sports, nur zu gut. Er war inzwischen 46 Jahre und noch vier Monaten zuvor ein aktiver Motorsportler von höchsten Graden.
Indes: Das herannahende Alter hatte schon länger seinen Tribut gefordert. Vier Monate zuvor hatte er dann seine einmalige, etliche Jahre lang atemberaubende Karriere eher still beendet. Für die Annalen: Graham Hill war der einzige Rennfahrer, der sowohl die Formel-1-Weltmeisterschaft (1962 und 1968), das 24-Stunden-Rennen von Le Mans (1972, mit Henri Pescarolo) wie auch das Indianapolis-500-Meilen-Rennen (1966) siegreich beendet hatte. Bei letzterem waren 380 km/h keine Seltenheit und mit seinem Boliden hätte er seine hochfliegende Piper hinter sich gelassen.
Der Tod freilich kannte kein Mitleid, keine Siegerkränze – Graham konnte nach dem Absturz nur noch anhand seiner Zahnreihen identifiziert werden. Neben Norman Graham Hill, so sein vollständiger Name, kamen an diesem unheilvollen 29. November Nachwuchsfahrer Tony Brise, Hills Manager Ray Brimble sowie weitere drei geschätzte Angestellte seines Teams ums Leben: die Mechaniker Tony Alcock und Terry Richards sowie Car Designer Andy Smallman.
Zuweilen hört man von Menschen, die dem Lebensende entronnen sind, dass im Augenblick des Sterbens das Leben in Sekundenbruchteilen, wie ein Filmstreifen, an ihnen vorbeigezogen sei. Wie wäre er wohl bei Graham Hill abgelaufen?
Er startete mit einer Lehre als technischer Auszubildender beim Automotive-Instrumenten-Hersteller Smiths, anschließend leistete er seiner Dienstzeit bei der Marine, als Maschinenraum-Techniker im Rang eines Unteroffiziers. Danach wurde er Rennwagenmechaniker bei Lotus. Es bedurfte indes all seiner Überredungskunst, um am 18. Mai 1958 – mit inzwischen fast 30 Jahren – erstmals in der Formel 1, eben bei Lotus, starten zu dürfen. Den Führerschein erwarb Spätstarter Hill ebenfalls erst mit 24 Jahren. Zum Vergleich: Sein Kollege Stirling Moss, berühmt nicht nur durch Bill Ramseys Führerscheinbegehr, erwarb die Fahrerlaubnis dank einer Sondergenehmigung bereits mit 15 Jahren.
Hill siegte alleine fĂĽnfmal in Monaco
Die schwarzweiĂź-karierte Zielflagge wurde fĂĽr Hill dann erst nach vier Jahren als Sieger geschwenkt: 1962 in Zandvoort/Niederlande. Sein erster Grand Prix-Erfolg, mit 33 Jahren also. Es sei nicht verschwiegen: nach vier Jahren mit entweder gar keinen oder wenig ĂĽberzeugenden ZielankĂĽnften. Aber dann der diametrale Umschwung: Im selben Jahr noch konnte er sich zum ersten Mal mit dem Weltmeisterkranz schmĂĽcken. Er hatte den begehrten Gipfel aller Rennfahrer erklommen.
Den fahrerisch unvergleichlich anspruchsvollen Monaco-Grand-Prix gewann er allein fünfmal, wonach ihm der inoffizielle Titel „Mister Monaco“ verliehen wurde. Nach Lotus, dem er nur noch bis 1959 treu blieb, entschied er sich 1960 für Brabham, um anschließend 1972 als längst Arrivierter zu Lotus zurückzuwechseln. Anschließend gab er nur noch relativ kurze Gastspiele auf Shadow und Lola.
Er und Jim Clark, sie beide waren zweifellos die überragenden britischen F1-Piloten der 1960er-Jahre. Clark trug sich 1963 und 1965, sein Teamkollege Hill 1962 und 1968 in die Siegerliste ein. Beide Volant-Artisten waren auch privat befreundet. Auf einem privaten Foto sieht man sie auf einer Kirmes Boxautos steuernd, lachend und feixend – neben zwei heiter gestimmten Beifahrerinnen.
Allein während Hills Formel-1-Rennfahrerjahren von 1958 bis 1975 ließen heute schier unfassbare 69 Kollegen ihr Leben. Viele Dutzend junger Männer, die der Geschwindigkeitsrausch das Leben kostete. Von den für ihr Leben lang Gezeichneten wie dem Österreicher Niki Lauda (1949–2019) oder dem Schweizer Clay Regazzoni (1939–2006) ganz zu schweigen.
Hill – unter diesen Bedingungen höchst erstaunlich – überstand seine gefahrvollen 176 Grands Prix fast unbeschadet. Er war ein Meister des kalkulierten Risikos. Er, der seine Rennen im Gegensatz zu seinen Kollegen doch fast immer ohne größere Blessuren beendet hatte – abgesehen von den beiden schweren Beinbrüchen 1969 beim Formel-1-Rennen in Watkins Glen/USA –, er hatte Ängste nicht gezeigt oder nicht gekannt, obschon ihn das Schicksal in die gefährlichste Rennsport-Ära platziert hatte. Sein Freund Jim Clark starb 1968 bei einem niederrangigen Formel-2-Rennen.
Doch nach den beiden heftigen Frakturen konnte Hill an seine überragende Souveränität nicht mehr anknüpfen. Fünf Jahre lang dümpelte er meist auf Plätzen zwischen 13 und 21 umher und konnte sich zuletzt nicht einmal mehr qualifizieren. Still stieg er aus. Nach 14 Siegen und 36 Podestplätzen.
Sein Sohn Damon trat in seine FuĂźstapfen
1955 hatte Graham die bezaubernde Bette geheiratet. Alldieweil er wie ein Hasardeur alle seine Ersparnisse für seine Rennsportkarriere aufgebraucht hatte, konnte von betucht keine Rede sein. Unter diesen Umständen spendierte seine Zukünftige eben selbst die Hochzeit. Der glücklichen Ehe mit Bette, die ihre beiden Männer stets nachhaltig in der Boxengasse anfeuerte, entsprangen drei Kinder. Zwei Mädchen, Bridget und Samantha. Und Hills einziger Sohn: Damon. Dieser erlitt einen lebenslang nachhallenden Schock, als er 1975 im Fernsehen zufällig vom Unfalltod seines Vaters erfuhr. Wie zuvor Graham biss auch er sich eisern durch. Es war beileibe kein unbeschwertes Leben, zumal sein Vater zum Zeitpunkt des Unfalls stark unterversichert war, was die Familie in arge Nöte stürzte.
1996 errang Damon, der seinen Daddy über alles liebte und seinen frühen Verlust als – so wörtlich – „emotionale Atombombe“ empfand, den Weltmeistertitel in der Formel 1. Welch ein bewegender und nicht zuletzt tränenreicher Triumph. Ein Denkmal für seinen Vater Graham wurde auf dem Friedhof seines letzten Wohnorts Shenley errichtet.
By the way: Der Name Shenley stammt aus dem Irischen und trägt zwei Bedeutungen: „Uralt“ oder „Alter Held“. Uralt war Graham nun nicht vergönnt, doch auf „Alter Held“ sollten wir uns fraglos einigen können.