Die Öffentlichkeit kennt zwei Joachim Deckarms: Den hochtalentierten Weltklasse-Handballer, dem alles leicht zu fallen scheint. Und den unermüdlichen Kämpfer, der auf dem schweren Weg zurück ins Leben nicht aufgibt. Doch Normalität wird es für ihn nicht mehr geben.
Mitleid“, sagte Joachim Deckarm einmal, „ist das Letzte, was ich will“. Auch deshalb suchte der frühere Weltklasse-Handballer nach seinem schrecklichen Schicksalstag am 30. März 1979 immer wieder die Öffentlichkeit – trotz seiner unübersehbaren Beeinträchtigungen. Er wollte den Menschen zeigen, dass es sich zu kämpfen lohnt, dass er Ziele hat, dass das Leben auch für jemanden in seinem Zustand noch lebenswert sein kann. So wie bei seinem Besuch der TV-Show „Na siehste!“ zehn Jahre nach seinem tragischen Unfall. Gastgeber Günther Jauch – der damals mit frecher Igelfrisur und mit weißen Tennissocken in schwarzen Slippers moderierte – erfüllte Deckarms großen Wunsch. Er behandelte den Ex-Sportler nicht wie einen Patienten, sondern wie einen willkommenen Gast mit einer interessanten Geschichte.
Jauch nannte Deckarm einen „Weltmeister im Gesundwerden“, nachdem dieser nach 131 Tagen im Koma wegen eines schweren Schädel-Hirn-Traumas „geistig und körperlich auf dem Stand eines Neugeborenen“ gewesen sei: „Es ist unglaublich. Sie können heute wieder alleine gehen, alleine essen, allen Dingen folgen. Sie können sprechen, lesen.“ Deckarm lauschte den warmen Worten des Moderators ohne erkennbare Emotionen, die beiden kräftigen Pranken in die Sitzlehne des türkisenen Sessels gekrallt. „Man muss einen unbändigen Willen haben und auch durchtrainiert sein“, erklärte er. Als Jauch ihn fragte, was er sich für die Zukunft wünsche, zögerte der 104-malige Nationalspieler einen kurzen Moment mit der Antwort. „Ich möchte vollständig gesund werden, einen Beruf erlernen und eventuell auch eine Familie gründen“, sagte er dann. Knapp 35 Jahre später lässt sich feststellen, dass sich seine größten Wünsche nicht erfüllt haben. Joachim Deckarm, der einst vor Kraft nur so strotzende 1,94-Meter-Koloss, ist weiterhin ein Pflegefall und schwerstbehindert. Obwohl er selbst das so nicht sagen würde. „Das Wort ‚behindert‘ möchte Joachim bis heute nicht in den Mund nehmen“, sagt sein Bruder und Betreuer Herbert Deckarm: „Alleine verlässt er das Heim zwar nicht, aber er hat fast jeden Tag Besuch.“
Keine wirkliche Normalität mehr
Deckarm hatte sich zurück ins Leben gekämpft, mit dem eisernen Willen eines Leistungssportlers. „Ich kann, ich will, ich muss“ – so lautet sein Lebensmotto. Aber wirkliche Normalität wird es für „Jo“ nicht mehr geben. Öffentlich spricht und zeigt sich der frühere Welthandballer kaum noch. Wie es Joachim Deckarm geht? „Das ist von seiner Tagesform abhängig“, antwortet Heiner Brand: „Er ist witzig, kann auch herzhaft lachen, wenn wir Würfelspiele machen. Er hat sein Schicksal schon immer bewundernswert angenommen, wobei ich nicht weiß, wie er seine Situation selbst wirklich wahrnimmt.“ Deckarms früherer Mitspieler beim VfL Gummersbach kümmert sich rührend um den Teamkollegen, der seit dem Unfall 1979 auf Hilfe angewiesen ist. „Ich bin ja immer direkt mit ihm und seinem Lebenslauf konfrontiert“, sagte Brand der „Sport Bild“. Eine tiefe Freundschaft ist aus diesem Schicksal entsprungen. Eine Freundschaft, die nicht mehr großer Worte bedarf. „Er spricht gelegentlich etwas undeutlich, wenn er müde wird. Ansonsten funktioniert es“, berichtet Brand: „Das Problem ist sein Kurzzeitgedächtnis. Er vergisst schnell Dinge und weiß nicht mehr, wer ihn zuvor besucht hat.“
Das Evangelische Seniorenzentrum in Gummersbach verlässt Joachim Deckarm aber noch – vor allem für Handballspiele. „Joachim kann auch heute noch dem Spiel längere Zeit konzentriert folgen, aber niemals verlässt er vor dem Schlusspfiff die Halle“, berichtete sein Bruder. Die Anerkennung, die er bei den Spielen erfährt, scheint Joachim Deckarm zu genießen. So wie bei seinem hochemotionalen Besuch der Heim-WM 2019 in der Kölner Lanxess Arena, als sich 20.000 Zuschauer von ihren Plätzen erhoben und dem Stargast im Rollstuhl ein Ständchen zum 65. Geburtstag sangen. Auch zum 70. Geburtstag am 19. Januar wird der gebürtige Saarbrücker von der Handball-Szene geehrt – er ist unvergessen. Der Handball-Verband Saar veranstaltet für sein Ehrenmitglied erneut ein öffentlichkeitswirksames Event, frühere Handballstars wie Christian Schwarzer, Markus Baur und Henning Fritz haben zugesagt. Und natürlich ist auch Heiner Brand dabei. „Sein Schicksal wird mir jede Woche vor Augen geführt, wenn ich ihn im Seniorenheim in Gummersbach besuche“, sagte Brand.
Das Handball-Event zu Deckarms Ehren findet in einer Spielstätte in Saarbrücken statt, die inzwischen seinen Namen trägt: „Joachim-Deckarm-Halle“. Auch die Politik ist mit an Bord, die Schirmherrschaft hat Saarlands Ministerpräsidentin Anke Rehlinger übernommen. Der Saarländische Rundfunk überträgt das Hauptspiel live im Fernsehen. Sollte die Veranstaltung einen Gewinn erzielen, dürften die Erlöse ganz sicher in die Deckarm-Fonds der Deutschen Sporthilfe fließen. Die wurden nach der umfangreichen Rehabilitation gegründet, um die aufwendigen Behandlungen, Medikationen, Therapien, Rehamaßnahmen und Kuren mitzufinanzieren. „Das Fonds-Kapital nährt sich seither aus Spenden und den Erlösen zahlreicher Benefizspiele – vor allem von und mit seinen Mannschaftskameraden aus dem WM-Team von 1978“, heißt es dazu auf der Internetseite der Deutschen Sporthilfe.
„Deckarm-Zertifikate“
„Es sind ja vom ersten Tag an wahnsinnig viele Spenden eingegangen“, bestätigt Brand. Für Ex-Weltmeister Schwarzer ist Hilfe in diesem Fall eine Selbstverständlichkeit: „Handball ist ein Mannschaftssport, wo einer dem anderen hilft. Das gilt nicht nur auf dem Platz. Jo braucht unsere Hilfe, und wir helfen gern.“ Auch die Handball-Bundesliga (HBL) hat mit Solidar-Aktionen ihren Beitrag geleistet. So wurden die Profivereine zum Beispiel beim Verkauf der Deckarm-Zertifikate „Weltmeister für Weltmeister“ eingebunden. „Herausragende Spielerpersönlichkeiten wie Jo Deckarm haben den Boden bereitet für den professionellen Handballsport, von dem Spieler und Clubs heute profitieren“, begründete HBL-Geschäftsführer Frank Bohmann.
Ohne den schrecklichen Unfall im Halbfinal-Rückspiel des Europacups der Pokalsieger beim ungarischen Club Banyasz Tatabanya hätte Deckarm neue Grenzen im Handballsport gesetzt, da sind sich die Experten einig. Er war damals der beste Handballer der Welt, dynamisch, wurfstark und extrem ehrgeizig. Aus einer Gummersbacher Top-Mannschaft mit Ausnahme-Handballern wie Heiner Brand, Claus Fey und Erhard Wunderlich stach Deckarm noch mal heraus. Die Nummer 11 zeichnete vor allem eine ausgeprägte Spielintelligenz aus, die nicht von ungefähr kam: Joachim Deckarm war hochintelligent, er spielte leidenschaftlich gern Schach und studierte Mathematik sowie Sport. Sein Ziel: Lehrer werden. Doch dazu kam es nicht mehr. Stattdessen musste er selbst lernen – und zwar die simpelsten Dinge des Lebens: sprechen, essen, gehen.
Bei seinem Weg zurück ins Leben war die Hilfe seines früheren Trainers Werner Hürter für Deckarm ein Segen. Dieser hatte mit gezielten Therapien und Trainingsprogrammen bei seinem Schützling Fortschritte erzielt, die die meisten Ärzte für unmöglich gehalten hatten. „Viele solcher Fälle werden früh zum Pflegefall abgeschoben“, sagte der 1995 gestorbene Hürter damals in der TV-Sendung „Na siehste!“ als Deckarms Begleitperson: „Wenn man jemanden liegen lässt und ihn nur bedauert, löst es genau das Gegenteil aus.“ Für einen wie Joachim Deckarm war das genau der richtige Ansatz, auch wenn es einer Schinderei glich. „Werner hat wirklich das Maximale aus Joachim herausgeholt. Er hat den starken Willen meines Bruders gespürt“, sagt Herbert Deckarm. Sein Bruder sei Mitte der 80er sogar in der Lage gewesen, im Leichtathletik-Stadion einen 400-Meter-Lauf zu absolvieren. „Er ist gelaufen, komplett ohne fremde Hilfe.“ Zwischen Lauf- und Schwimmtraining sowie Fahrradfahren arbeitete Deckarm auch an seinem behindertengerechten Computer, gelegentlich kloppte er mit dem früheren Fußball-Bundestrainer Jupp Derwall, der ganz in der Nähe wohnte, auch Skat.
Noch immer ist es „sein“ VfL
Bis 2007 bewohnte Joachim Deckarm die erste Etage in der Wohnung seiner Eltern. Der Tod seiner Mutter im Alter von 88 Jahren nahm ihn sehr mit, sie war seine wichtigste Bezugsperson. „Er hat Mutters Tod hingenommen wie einst seinen Unfall“, erzählt sein Bruder. Der Handball-Held zog danach in ein Saarbrücker Seniorenheim mit Pflegestation. 2018 holte Herbert Deckarm seinen Bruder aber nach Gummersbach, weil diesem die Bezugspersonen fehlten. „Und hier in Gummersbach ist ja auch ‚sein‘ VfL.“ Dass der einstige Serienmeister nach einer langen Krise sportlich wieder positive Schlagzeilen schreibt, dürfte Deckarm gefallen. Genauso wie seine Aufnahme in die „Hall of Fame des deutschen Sports“ im Mai 2013. „Joachim ist stolz“, sagte Herbert Deckarm damals, „von der Öffentlichkeit noch derart gewürdigt zu werden“.
Vor allem die 78er-Weltmeister haben ihn nicht vergessen. Beim jährlichen Treffen des Teams ist Deckarm dabei, sofern es die Gesundheit zulässt. „Wie ein Weltmeister“ fühle er sich in dieser Runde, sagte er einmal. Gefühle wie Wut oder gar Hass auf den Ungarn Lajos Panovics, mit dem er an jenem schicksalshaften 30. März 1979 folgenschwer zusammengeprallt war, sind ihm dagegen fremd. Deckarm versuchte gar, den jahrelang von Depressionen geplagten Panovics emotional aufzurichten. In seinem Zimmer im Seniorenzentrum in Gummersbach hängt gar ein Wimpel des Clubs Banyasz Tatabanya. Dieser Mann hat ganz offensichtlich sein Schicksal akzeptiert. „Mitleid und übertriebene Fürsorge“, bestätigt Brand, „wollte Joachim nie“.