Losrennen, abheben und sich dann wie ein Spielball des Windes durch die Lüfte tragen lassen: So sieht er aus, der Traum vom Gleitschirmfliegen. FORUM-Autor Christian Haas hat ihn sich erfüllt – natürlich in Obhut eines Profis, der mehrere Weltrekorde hält.
Ob ich mich wirklich trauen soll? Einerseits juckt es mich seit Jahren, mal einen Gleitschirmflug auszuprobieren, andererseits ist da doch stets eine gewisse Ungewissheit. Warum sollte man sich aus Jux diesem Risiko hingeben? Sich einem fremden Tandempiloten ausliefern? Stürzen da nicht ständig Leute ab? Die Statistik sagt: In den vergangenen Jahren gab es in Deutschland im Durchschnitt jährlich 120 Gleitschirmunfälle mit insgesamt neun Todesopfern. Hm, ist das nun viel oder wenig? Bei Insektenstichen sterben statistisch 20 pro Jahr, im Straßenverkehr etwa 2.800, im Haushalt rund 8.000. Das Wichtigste ist ohnehin, sich in die Hände eines seriösen Piloten zu begeben. Mike Küng vom Tiroler Achensee ist das, allein aufgrund seiner mehr als 15.000 Flüge. Also bitte, was soll da schiefgehen?
Bei Gewittergefahr wird abgesagt
Nun, das Wetter. Den ersten Termin muss er leider absagen. Zu groß sei die Gewittergefahr. Er empfiehlt aber, schließlich sei man ja schon vor Ort, eine Art Flugaufwärmübung am Berg, den „Skyglider Air Rofan“ hoch über dem See. Also rauf mit der Gondel und rein in das außergewöhnliche Fluggerät, in dem vier, auf dem Bauch liegende Mitfahrer unter zwei riesigen Flügeln Platz finden. Rückwärts werden wir die 600 Meter bis fast zur Aussichtsplattform am Gschöllkopf – eine verflochtene Krone aus 15 Tonnen Metall in Form eines Adlerhorsts – hochgezogen, bevor wir mit rund 80 Sachen wieder hinabrauschen. Ein Erlebnis, das jede Menge Adrenalin freisetzt – und dennoch absolut ungefährlich ist. Mein Nachbar jauchzt: „Ich fühl mich wie ein Adler!“ Adler, ohnehin das große Thema in der Region. Zum einen kreuzt hier der mehr als 400 Kilometer lange Adlerweg, dessen Route wie die stilisierten Schwingen des majestätischen Alpentieres aussehen, den es im nahen Naturpark Karwendel live zu beobachten gibt. Das Schutzgebiet beheimatet eine der größten Steinadler-Populationen der Alpen.
Neuer Tag, besseres Wetter. Heute heißt es: fliegen, aber diesmal nicht am Seil, sondern frei wie ein Vogel. Das wollen auch andere. Bereits für die erste Gondelauffahrt des Tages stehen einige Gäste mit auffälligem „Buckel“ an. „Alles Paraglider“, meint Mike, „die das Zeitfenster nutzen. Wer weiß, wie sich das Wetter wieder entwickelt heute.“ Dann erzählt Mike, dass die Rofan-Bergstation einer der Top-Absprungplätze in Tirol ist. Bei gutem Wetter wimmelt es von Gleitschirmfliegern. Aber „nur“ die Gondelbahn nehmen, die wenigen Meter zum Startplatz schlappen und dann einfach runterfliegen, findet Mike „langweilig“. Der 1968 geborene Österreicher ist Aufregenderes gewohnt. Schließlich stellte er den Höhenflugweltrekord im Paragliden auf, indem er aus 10.100 Metern mit seinem Gleitschirm von einem Heißluftballon absprang. 2004 war das. 2008 landete er in einem Ferrari-Cabrio, nachdem er aus einem 300 Meter über dem Bodensee fliegenden Zeppelin NT hüpfte. Spektakulär waren auch die Überquerung des Ärmelkanals oder Absprünge mit dem Gleitschirm von Hubschraubern, Bergbahnen und Brücken. 2020 dann wieder ein Weltrekord: Diesmal ging es auf 7.100 Meter Höhe mit einem „Head Over“ kopfüber aus einem Heißluftballon. Ach ja, Akrobatikweltmeister – freilich in der Luft – darf sich Mike auch nennen.
Will man mit so jemandem einen Tandemflug unternehmen? Man sollte sogar, denn das „mad“ aus seinem Spitznamen „Mad Mike“ bezieht sich nicht auf etwaige fehlende Vorsicht. Im Gegenteil. Sein Wissen gibt er mittlerweile sogar als Lehrer weiter. In Kursen vermittelt Mike, wie man den Gleitschirm auch unter widrigen Bedingungen beherrscht. Sein Geld verdient er ohnehin damit, für Hersteller Schirme zu testen und neue Modelle für eine Zulassungsstelle zu prüfen. Manchmal macht er vier bis fünf Flüge am Tag. Und seit einigen Jahren, zumindest auf Anfrage, „Hike & Fly“. Sein Motto lautet „Erst der Ernst, dann der Spaß“. Sprich: Insbesondere bei der Vorbereitung und beim Absprung herrscht oberste Umsicht, um dann beim Flug – Stichwort Steilspiralen, Wing-Over und sonstige Scherze – alle Spaßregister zu ziehen. Rollercoasterfeeling vom Feinsten! Doch bevor man in den Genuss kommt, muss man sich diesen erarbeiten: Vor dem an sich gemütlichen Flug steht echte körperliche Anstrengung in Gestalt einer Wander- und Klettertour.
„Die Lunge bewusst mit Luft füllen“
Und so wird ein interessantes Kombi-Angebot draus, das Küng mit dem Achenseer Bergführer Andreas Nothdurfter seit einigen Jahren anbietet. Es heißt „Hike & Fly“, was bedeutet: Vor dem eigentlichen Flug wird gelaufen und geschwitzt. Auch wer als Beifahrer im Tandem mitfliegt, hat einiges zu tragen, in unserem Fall von der Rofan-Bergstation hinauf zum 2.261 Meter hohen Spieljoch. Und da der „normale“ Weg auch noch zu langweilig wäre, führt Andreas unsere kleine Gruppe über einen Klettersteig – mit einigen unförmigen Gepäckkilos hintendrauf – schließlich will der rund fünf Kilo schwere Gleitschirmgurt transportiert werden. Eigentlich sollte das Programm „Hike & Climb & Fly“ heißen … Ob er sich den Umweg jetzt heute extra für uns ausgedacht hat? Nein, sagt Nothdurfter „Wir wählen generell nicht immer den kürzesten Weg, sondern den schönsten“, sagt er. „Wir könnten sogar noch eins draufpacken: ausgesetzte Passagen, weitere Klettereien, Gehen in der Seilschaft. Aber für heute reicht es.“ Ob er damit auf die aufziehenden Wolken reagiert oder auf das Schnaufen, das manche beim Kletterhaken-Rumhantieren in der kleinen Steilwand von sich geben? Doch bald ist es geschafft und wir laufen auf einem wiesenhaften Gratweg entlang, ganz allein, ganz beschwingt.
Nach dem Gipfelfoto folgt Teil zwei: der Gleitschirmflug respektive dessen Vorbereitung. Da werden Rucksäcke ausgepackt, Schirme ausgerollt, Schnüre gerichtet. Und Passagiere beruhigt (warum bloß?). „Tieeeef einatmen. Die Lungen bewusst mit Luft füllen. Den eigenen Atem fühlen.“ Immer wieder sagt Mike das. Keine Frage, er wäre auch als Meditationstrainer nicht schlecht. Doch – merkt er meine klitzekleine Nervosität? – geht es ihm womöglich auch um Selbstschutz. Darum, dass sich sein Beiflieger beim Schraubendrehen nicht gleich der Magen mit umdreht. „Viele vergessen das Atmen und schon ist’s geschehen“, weiß der Voll-Profi. Auf die Frage, „Ob schon mal jemand …?“, nickt er nur beherzt. Wobei der Grund für seine sich verfinsternde Miene ein anderer sein dürfte. Während alle anderen Teilnehmer mit drei, vier ballettartigen Tappern über den Wiesenhang laufen und dann wie im Lehrbuch abheben und in den Tiroler Himmel gleiten, soll es bei uns, wir sind die Letzten, ganz anders kommen. Der Schuldige: klar, das Wetter! Frischt aber auch wirklich unerwartet rasch auf. Vom knallblauen Himmel, bis gerade noch Grund zur hellen Freude, sind nur noch einige Löcher übrig geblieben.
Der Wolkenanteil nimmt minütlich zu, am Guffert ein paar Kilometer weiter regnet es bereits ordentlich. Und die begleitenden Winde rascheln ordentlich durch die Strippen unseres gar nicht mehr am Boden liegen bleiben wollenden Schirms und machen den Start am geplanten Platz unmöglich. Auch ein paar Meter weiter unten wird nichts draus, einen geschmeidigen Abflug hinzulegen. Also weichen wir auf ein Plateau aus. „Es wird ein unkonventioneller Start“, warnt Mike mich vor.
In der Tat. Denn wir laufen gegen den Hang – aufgrund der veränderten Windverhältnisse. Doch selbst der Plan, nach links abzuheben, um dann in engem Bogen Richtung Tal und Achensee zu gleiten, wird spontan geändert. „Rechts, weiter nach rechts“, dirigiert Mike mich. Vorher hat er mich schon instruiert: „Wenn ich beim Start ,Lauf‘ sage, meine ich eigentlich ,Renn!‘“ Von Laufen ist jedoch rasch keine Rede mehr, mittlerweile brüllt er: „Renn! Nach! Rechts!“ Äh, wollten wir nicht nach links, denke ich, tu’ aber wie geheißen. Auch wenn da ein Schneefeld das Rennen erschwert, ein kleiner Felshaufen umkurvt werden will und die Kräfte des Windes in Gestalt des wild hüpfenden Schirmes für einen derart großen Widerstand sorgen, dass ich mir nicht vorstellen kann, noch länger als, sagen wir, 30 Sekunden diesen Kraftakt durchzuhalten.
Herrliche Entspanntheit
Muss ich auch nicht. Denn jetzt kommt da eine Kante. Eine Kante?! „Renn weiter“, macht Mike jede Spontanbremsgedanken zunichte. Vertrauen ist jetzt alles. Also renne ich weiter und so wird dieser Abflug ein Absprung. Denn der letzte Schritt geht ins Leere, darunter gähnt ein etwa 100 Meter tiefer Abgrund. Und endlich fliegen wir. Selten so erleichtert gewesen.
Es braucht noch ein paar Momente und tiefe Atemzüge und dann stellt sich eine herrliche Entspanntheit an. Und echtes Glück. Der Blick auf Karwendel, das Rofan-Gebirge und den in verschiedenen Grün- und Blautönen schimmernden Achensee tief unter uns ist ja auch atemberaubend und alles sieht tatsächlich so toll aus wie in den immer inflationärer auftauchenden Drohnenvideos. „Von hier oben haben wir in der Regel den direkten Anschluss an die Thermik“, erklärt Mike. Und so gleiten wir nicht runter, sondern immer weiter nach oben. Thermik schlägt Schwerkraft. Es geht sogar deutlich höher als die höchsten Gipfel im Rofangebirge. Mikes Höhenmesser zeigt mittlerweile 2.600 Höhenmeter, hui! Sorgen mache ich mir keine, dafür jede Menge Fotos. Bis Mike mich rügt: „Nicht dauernd am Handy rumhantieren, lieber genießen“, schimpft Mike. Alles klar, habe ohnehin Respekt, dass es runterfällt. Also weg damit und einfach nur in meiner gemütlichen Sitzposition Beine und Seele baumeln lassen. Mike hat schließlich alles im Griff, ich nur die Schnüre zum Festhalten.
Und da die Gewitterwolken in respektvollem Abstand bleiben, geht es weiter munter rauf und runter, mindestens eine halbe Stunde lang, die sich aber viel länger anfühlt. Als wir in einem weiteren „Bart“ nach oben kreisen, denke ich: So müssen sich Adler fühlen! Doch irgendwann müssen wir auch mal runter. Aber, ich flieg schließlich mit Mike, bitte in engen Kreisen, die mich zum Kreischen bringen. Keine Frage: Die Akrobatikeinlagen des Akrobatikweltmeisters setzen dem Flug die Krone auf. Schön auch das Finale: Just in dem Moment, als wir neben dem Bahnsteig in Pertisau auf einer Wiese landen, hält nebenan Europas älteste Dampfzahnradbahn an, die Achenseebahn. Ihr Motto prangt auf einem Banner: „135 Jahre und noch alle eigenen Zähne!“ Große Dampfwolken. Großes Kino. Große Erleichterung. Und erste große Regentropfen auf der Haut …