Immer mehr Menschen sind von Einsamkeit betroffen. Bei der Bewältigung des zunehmenden Problems entwickeln Länder individuelle Ansätze.
Ist Einsamkeit wissenschaftlich messbar? Ja, sagen Forscher der Universität von Kalifornien, Los Angeles (UCLA) und haben schon 1978 eine Einsamkeitsskala, bekannt als „UCLA Loneliness Scale“, entwickelt. Die Skala arbeitet mit bis zu 20 Aussagen; „Ich habe zu niemandem eine enge Beziehung“ „Meine sozialen Beziehungen sind oberflächlich“ oder „Ich glaube, dass mich niemand wirklich versteht“, die der Proband je nach Empfinden für sich zutreffend mit „niemals“, „selten“, „manchmal“ oder „oft“ bewertet. Das „Sozio-oekonomische Panel“ (SOEP), die größte und am längsten laufende multidisziplinäre Langzeitstudie in Deutschland, hat schon im Januar und Februar 2021 in 30.000 Haushalten ermittelt, dass 42,3 Prozent der Befragten sich „mindestens manchmal einsam fühlen“. Diese doch erschreckend hohe Zahl ist sicher auch dem Erhebungszeitpunkt geschuldet, nämlich dem zweiten Corona-Lockdown und der hohe Wert ist wohl auch seither wieder zurückgegangen. Trotzdem: Nach der Vereinsamung in der Coronapandemie hat sich gezeigt, dass das Thema Einsamkeit von der Politik nicht mehr ignoriert werden kann und das Familienministerium (BMFSFJ) rief im August 2021 das „Kompetenznetz Einsamkeit“ (KNE) ins Leben. Die Bundesregierung hat im Dezember 2023 eine ressortübergreifende Strategie gegen Einsamkeit verabschiedet, die 111 Maßnahmen umfasst.
Andere Länder sind hier weiter: In Großbritannien wurde 2018 mit Tracey Crouch erstmals eine Ministerin für Einsamkeit ernannt. Auch Japan will mit einem eigenen Ministerium Einsamkeit bekämpfen und in den Niederlanden schmieden Regierung und Monarch Willem Alexander 2018 den „Pakt gegen die Einsamkeit“. Tracey Crouch war es von Anfang an wichtig zu signalisieren, dass ihr Ministerium dafür sorgen will, dass niemand, der unter Einsamkeit leidet, allein gelassen wird. Schon kurz nach der Pressekonferenz zu ihrer Ernennung konnte sich Crouch vor Anfragen kaum retten, erzählt sie der US-Zeitung „Huffington Post“ in einem Interview. „Viele Regierungen traten mit mir in Kontakt: Kanada, die Vereinigten Arabischen Emirate, Schweden, Japan. Mir fällt keine Region der Welt ein, die nicht nachfragte. Auch Deutschland zeigt massives Interesse. Wir wussten, dass europäische Medien anklopfen würden, aber auch eine große Zahl afrikanischer Länder berichten darüber“. In Deutschland hat sich das KNE zum Ziel gesetzt, „das bestehende Wissen zum Thema Einsamkeit zu bündeln, Wissenslücken zu schließen und gewonnene Erkenntnisse in die politische und gesellschaftliche Praxis einfließen zu lassen.“ Eine verbreitete Definition sieht „Einsamkeit als ein negatives subjektives Gefühl, das viele Personen als schmerzhaft empfinden. Einsamkeit entsteht bei einer wahrgenommenen Diskrepanz zwischen den gewünschten und den tatsächlichen sozialen Beziehungen einer Person“, erklärt Soziologe Axel Weber, wissenschaftlicher Mitarbeiter am KNE. Konkret heißt das, dass Menschen darunter leiden, zu wenige Beziehungen zu haben, nicht die Beziehungen haben, die sie sich wünschen oder ihre Beziehungen als zu oberflächlich empfinden.
Chronische Einsamkeit birgt ernsthafte gesundheitliche Risiken wie Bluthochdruck
Dass Einsamkeit traurig macht, haben wir wohl alle schon einmal empfunden. Doch lang anhaltende chronische Einsamkeit hat auch konkrete negative Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit. Sie fördert Depressionen, erhöht das Suizidrisiko, bewirkt Angststörungen und Schlafprobleme, begünstigt Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Demenz. Neben der Gesundheitsgefährdung für den Einzelnen haben die KNE-Forscher auch Risiken für die Demokratie ausgemacht: Wer sich einsam fühlt, geht seltener zu Wahlen, neigt stärker zu autoritären Einstellung und hat ein geringeres Vertrauen in staatliche Institutionen. Ein vom KNE konzipiertes wissenschaftliches Werkzeug ist das „Einsamkeitsbarometer“, das die Langzeitentwicklung der Einsamkeits- und Isolationsbelastungen innerhalb der deutschen Bevölkerung darstellen soll. Wie entwickelt sich Einsamkeit als soziales Phänomen? Wer sind vulnerable Gruppen, und was sind Vulnerabilitätsfaktoren? Die vom KNE gesammelten Daten sind Grundlage für politische und fachliche Entscheidungen zur Vorbeugung und Bekämpfung von Einsamkeit und sozialer Isolation. Hier unterscheiden die Forscher klar, erklärt Weber: „Soziale Isolation ist im Gegensatz zur Einsamkeit kein subjektives Gefühl, sondern wird als objektiver Mangel an sozialen Beziehungen und Kontakten verstanden. Sie geht nicht zwangsläufig mit negativen Gefühlen der Einsamkeit einher, erhöht aber das Risiko für Einsamkeitsempfindungen.“ Identifiziert als Risikofaktoren für Einsamkeit sind Armut, eine chronische Erkrankung und körperliche oder geistige Behinderung. Zu den Risikogruppen gehören unter anderem Menschen mit Migrationshintergrund oder Alleinerziehende. Mit dem Alter – ab 85 etwa – steigt das Einsamkeitsrisiko zunehmend. Doch während der Corona-Pandemie fühlten sich 48 Prozent der unter 30-Jährigen einsam. Grundsätzlich aber sind alle Altersgruppen von Einsamkeit betroffen. Wissenschaftlich abgegrenzt wird die Einsamkeit vom Alleinsein. Ein Begriff, der vielleicht im Deutschen negativer behaftet ist als das englische Wort „solitude“, das es auch im Französischen gibt und eher eine „gewollte Einsamkeit“ bezeichnet: die positive innere Einkehr, die bewusste Entscheidung des gesellschaftlichen Rückzugs, des sich Entziehens. Das Alleinsein als „Egoklausur“, wie es der Philosoph Rüdiger Safranski in seinem Buch „Einzeln sein“, nennt, die für intellektuelle und künstlerische Aktivitäten fast unumgänglich ist. Und umso wichtiger wird. Denn wir leben in einer durchdigitalisierten Welt. „Noch nie“ schreibt Safranski, sei die Gesellschaft „dem Einzelnen so dicht auf den Leib gerückt wie heutzutage und dringt mit ihren digitalen Gespenstern in jeden Winkel der Seele“.
Dass Einsamkeit aber kein Phänomen westlicher individualistischer Gesellschaften ist, zeigt ein Blick in andere Kulturen. In Südkorea gibt es „Honjok“: die bewusste Entscheidung für ein selbstbestimmtes und glückliches Alleinleben. In Japan kennt man das „Hikikomori“, das Wort beschreibt ein Leben in selbst verfügter Isolation, von Menschen, die sich Monate, Jahre oder Jahrzehnte in ihre Häuser oder sogar nur in ihre Schlafzimmer zurückziehen und keinen Kontakt zu Mitmenschen wollen. Oft leben sie noch bei den Eltern, aber auch zu diesen vermeiden sie den Kontakt. Zurück zu Deutschland: Dem KNE geht nicht nur um Forschung, sondern es will auch ein Ansprechpartner sein für Akteure, die sich im beruflichen Kontext zunehmend mit einsamen Menschen konfrontiert sehen. Nicht zuletzt ist das KNE auch da für Betroffene. Hilfesuchende finden eine Angebotslandkarte auf der KNE-Webseite: Niedrigschwellig durch Eingabe der Postleitzahl sieht man, welche von den mehr als 400 konkreten Hilfsangeboten, Organisationen, Netzwerken, Veranstaltungen es im eignen geografischen Umkreis gibt. Damit solche Angebote mehr wahrgenommen werden, betont Axel Weber, sei ein gesellschaftlicher Wandel nötig. Denn viele, die unter Einsamkeit leiden, empfinden deswegen Scham und Schuld und dass „Menschen sich selbst für die Situation verantwortlich machen, dass es ihnen schwerfällt, mit anderen Personen darüber zu sprechen, weil sie sich dafür schämen“. Hier braucht es Aufklärung und Sensibilisierung: „Es gibt ein gesellschaftliches Tabu: Es wird nicht gerne über Einsamkeit gesprochen und es ist schwer über Einsamkeit zu sprechen“. Hinzu kommt, dass die Wahrnehmung von sozialen Beziehungen bei Personen, die von Einsamkeit betroffen sind, tendenziell negativer ist. Scham und Tabuisierung führen in eine Abwärtsspirale, die es für den Einzelnen noch schwerer macht, aus der Einsamkeit herauszufinden. „Einsame Menschen nehmen alltägliche soziale Begegnungen und Interaktionen häufiger als bedrohlich wahr. Daraus resultiert oft ein eher negatives, feindseligeres oder distanziertes Verhalten, worauf wiederum das Umfeld mit Distanzierung reagiert.“ Was kann man tun, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen und Menschen aus der Isolation herauszuholen? Im Land der weltweit ersten Einsamkeitsministerin Tracey Crouch, in dem es laut einer Regierungsstudie für etwa 200.000 ältere Briten länger als einen Monat her ist, dass sie Gespräche mit Freunden oder Verwandten hatten, richtete die britische Kaffeekette „Costa-Coffee“ in 250 Filialen ein „Chatty Café“ ein. Zu bestimmten Zeiten wird dort ein Tisch aufgestellt. Gäste, die sich an ihn setzen, sprechen miteinander.
In den Niederlanden hat das Amsterdamer Van-Gogh-Museum mobile Ateliers für Mal-Workshops in Seniorenheimen im Einsatz. Der Schweizer Supermarktriese „Migros“ führt „Plauderkassen“ ein, wo die Kunden extra Zeit haben: fürs Einpacken, fürs Bezahlen und vor allem fürs Plaudern gegen die Einsamkeit. In Frankreich bietet die Post einen besonderen, wenn auch kostenpflichtigen, Service an. Der Postbote fungiert als Sozialarbeiter und Verbindung zur Außenwelt für seine Kunden. Er unterhält sich mit ihnen, fragt, ob sie etwas brauchen und organisiert notfalls Hilfe. Und auch in Deutschland tut sich was: In Stuttgart gibt es „Machen‐wir‐was!“. Ein kostenloses Angebot von „Kultur für Alle Stuttgart e.V“. Auf der Webseite können Menschen mit und ohne Behinderung einen Freizeitpartner finden und gemeinsame Aktivitäten verabreden. In Nürnberg und 16 weiteren bayerischen Städten entstand jetzt die Selbsthilfeaktion „Walk & Talk“ gegen die Einsamkeit: Bei einem gemeinsamen Spaziergang kann man ins Gespräch kommen und dabei neue Menschen kennenlernen. In Mannheim gibt es die Informationsplattform „KeinerBleibtAllein“. Das alles sind nur einzelne Steinchen in einem Maßnahmen-Mosaik.
Denn Einsamkeit ist ein vielschichtiges Problem. Dass jetzt in Berlin-Reinickendorf mit Annabell Paris erstmals in Deutschland der Posten einer Einsamkeitsbeauftragten besetzt wurde, ist ein gutes Zeichen, denn Einsamkeit, so Paris, ist „kein kleines Randthema, das man mal nebenbei bearbeiten kann“. Doch eine Beauftragte allein wird es nicht richten können. „Alle Menschen können etwas beitragen, indem sie Augen und Ohren offenhalten im eigenen Umfeld und vielleicht auch stärker auf andere Menschen zugehen“, findet Soziologe Axel Weber.