Unbeirrt arbeitet die saarländische Stahlindustrie an ihrer Dekarbonisierung. Viele Fragen zu Strombedarf und Wasserstoff bleiben derzeit offen. Einen Weg zurück aber gibt es nicht.

Zischend und dampfend schlittern knapp 100 Meter lange Schienen am Beobachter vorbei – die Walzstraße des Stahlwerks läuft auf Hochtouren. Hunderte Male am Tag pressen Maschinen die Stahlstränge auf den Walzstraßen des seit 2021 zu Saarstahl gehörenden Schienenwerks im französischen Hayange in Profilform. Aus mehreren Tausend täglich angelieferten Stahlblöcken, sogenannten Blooms, entstehen hier zwischen 100 und 130 Kilometer Schienen pro Woche, unter anderem für die französische Staatsbahn SNCF, jede Schiene zwischen 18 und 108 Meter lang. Saarstahl-Chef Stefan Rauber, der mit französischen Politikern den Liefervertrag im Wert von einer Milliarde Euro mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit auf die Schiene gesetzt hat, sieht an jenem Tag der Vertragsunterzeichnung gelöst aus. Ein Problem weniger. Dieses Geschäft sorgt für ein Drittel der Werksauslastung, die 450 Jobs in Hayange sind in den kommenden Jahren sicher, ebenso jene im Elektrostahlwerk Saarstahl Ascoval, das die Blooms für das Schienenwerk herstellt.
Kreislaufwirtschaft als strategische Maßnahme
Bis zu 60.000 Tonnen Schienen und Schienenschrott werden jährlich am Standort Ascoval bei Lille eingeschmolzen und dann nach Hayange transportiert. Mit diesem Prozess der Kreislaufwirtschaft spart SNCF Réseau, die Infrastrukturgesellschaft der französischen Staatsbahn, 70 Prozent des CO2 ein, das ansonsten bei der Neuproduktion von Schienen angefallen wäre. Denn Klimaschutz bestehe nicht nur aus der Rettung der Umwelt, so die französische Umweltministerin Agnès Pannier-Runacher. Es gehe um „Souveränität, Arbeitsplätze und die Verringerung der Abhängigkeit Frankreichs von externen Akteuren durch Kreislaufwirtschaft“.
Für die französische Staatsbahn ist die Umstellung auf CO2-reduzierte Schienen ein Muss. Vergibt sie einen Auftrag, richtet sich die Vergabe zu 60 Prozent nach dem Preis, zu 40 Prozent jedoch nach Klimaschutzaspekten wie dem CO2-Fußabdruck. Etwas, wovon sich eine andere Bahngesellschaft noch eine Scheibe abschneiden könnte, heißt es bei der Vertragsunterzeichnung. Gemeint ist die Deutsche Bahn, die noch immer auf die möglichst günstige Schiene setzt. Nachhaltigkeit spielt da keine Rolle.
Es fehlen also deutsche Leitmärkte, eine Idee, die schon seit Jahren existiert und aus Sicht der europäischen Stahlindustrie dringend umgesetzt werden müsste. Das „Handlungskonzept Stahl“ wurde vor fünf Jahren entwickelt. Darin enthalten sind zum Beispiel Forderungen nach verbindlichen Umweltstandards, etwa über den Low Emission Steel Standard (LESS) zur transparenten Kennzeichnung von Stahl mit geringem CO₂-Fußabdruck. Dieser wurde 2024 eingeführt. Im Konzept enthalten ist jedoch auch die Forderung, dass öffentliche Auftraggeber wie Bund, Länder und Kommunen sich verpflichten, ausschließlich oder bevorzugt zertifizierten grünen Stahl zu verwenden, etwa mithilfe einer Quotenregelung – ein grüner Leitmarkt. Hier lagen bislang die Hoffnungen auf der neuen EU-Kommission. Der Clean Industrial Deal, den Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kürzlich vorstellte, soll nun jene Leitmärkte eröffnen.

Aber die Forderungen gingen noch weiter. Es brauche CO2-Grenzausgleichsmechanismen (CBAM), die die Preisvorteile importierter Stahlprodukte aus Ländern mit laxeren Umweltauflagen ausgleichen.
Seit 2023 läuft hier eine Übergangsphase, ab 2026 müssen jene Unternehmen bei der Einfuhr den Ausgleich in Form von CBAM-Zertifikaten zahlen. Noch wichtiger, so Saarstahl-Chef Rauber, seien CBAMs mit einem Mechanismus, der es erlaube, grünen Stahl auch günstiger zu exportieren. Denn solange die Gesetzgebung keine Exportlösung vorsieht, müssten die europäischen Stahlproduzenten weiterhin die CO2-Kosten ihrer Exporte alleine tragen. Dadurch aber werde ihre Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten noch weiter eingeschränkt und die Stahlproduktion von rund 19 Millionen Tonnen sei gefährdet, heißt es seitens des EU-Stahlverbandes Eurofer.
Deutschen grünen Stahl wettbewerbsfähig machen
Die Wirtschaftsthemen, die den Bundestagswahlkampf begleitet haben, sind Wirtschaftsthemen des Saarlandes: Transformation, Bürokratieabbau, Energie, Außenhandel, Wettbewerbsfähigkeit. Sie sind auch die Themen von Vorstandschef Stefan Rauber. Der viertgrößte deutsche Stahlkonzern befindet sich mitten im technologischen Umbruch und stellt im laufenden Betrieb auf CO2-reduzierten Stahl um. So, als würde man auf der Autobahn während der Fahrt einen Motor austauschen. Die konzerninterne Transformation nimmt Gestalt an, und das in atemberaubender Geschwindigkeit. Fördergelder sind zugesagt, die Anlagen bestellt, die Flächen werden vorbereitet. „Wir dekarbonisieren – das wollen die Kunden, das will die Politik. Es gibt keinen Weg zurück, das wäre finanziell auch nicht machbar“, sagt Rauber.
Die Umstellung geht nicht über Nacht und anfangs nicht zu 100 Prozent mittels erneuerbarer Energien. Zwar schließt die saarländische Stahlindustrie immer wieder Stromlieferverträge mit Windparks. Aber: „Der Hochlauf der Erneuerbaren geht viel zu langsam“, sagt Rauber. Die grüne saarländische Stahlproduktion braucht in Zukunft achtmal so viel Strom wie heute und übertrifft damit den Jahresstromverbrauch des Saarlandes um ein Vielfaches. Woher soll also der Strom kommen? Aus Frankreich zum Beispiel, genauer aus Cattenom. Weil Deutschlands Energieversorgung mitten im Umbruch steckt, bleibt für die Elektrostahlherstellung derzeit nur der „Umweg“ über Atomkraft. Auch fehlen noch genügend Batteriespeicher, um sogenannte Dunkelflauten aufzufangen. Aber auch Atomkraftwerke sind fehleranfällig, können ausfallen, wie sich 2022 in Frankreich zeigte – weil dringend benötigte Wartungen anstanden oder Kühlwasser aufgrund des heißen Sommers fehlte. Überall Fragezeichen, auf Seiten des benötigten Stroms für Elektrolichtbogenöfen wie auf Seiten des benötigten Wasserstoffs für die Eisenerzreduktion. Der Ausbau von Wasserstoffliefernetzen ist angeschoben, Gespräche mit Produzenten laufen.

Größtes Problem aber bleibt bislang die massive Überproduktion von Stahl aus China – nicht notwendigerweise, weil sie deutschen Stahl vom deutschen Markt verdrängt. Vielmehr verdrängt chinesischer Stahl denjenigen anderer asiatischer Hersteller wie etwa vietnamesischer oder koreanischer aus ihren Heimatmärkten. Die suchen sich wiederum andere Wege, beispielsweise nach Europa. Hochsubventionierter Stahl aus China profitiert hierbei doppelt, nicht nur von Staatsgeldern, sondern auch von derzeit günstiger Kokskohle aus Russland. Ob dies so bleibt, hängt an der Wirksamkeit internationaler Sanktionen gegen Russland, die auch die dortige Kohleindustrie und ihre Exporte treffen. China importierte zwar massiv aus Russland, die Kohleimportmengen fielen jedoch 2024, meldete die oppositionelle „Moscow Times“.
Die weltweiten Überkapazitäten in der Stahlproduktion haben 550 Millionen Tonnen überschritten, und bis zum nächsten Jahr sind weitere 150 Millionen Tonnen Kapazität vorgesehen. Das entspricht mehr als dem Vierfachen der Stahlproduktion der EU. Nun kommen voraussichtlich US-Handelszölle hinzu, die die Warenströme erneut umleiten werden.
EU-Kommission startet Dialog mit der europäischen Stahlbranche
Um die europäischen Märkte vor den mit geringeren Umweltstandards hergestellten und daher billigeren ausländischen Stahlprodukten zu schützen, so wünscht es sich Stefan Rauber, sollten die EU-Safeguards, Stahl-Schutzzölle, im Sommer verlängert werden. Diese werden derzeit von der EU überprüft. Zusätzlich startet am 4. März der sogenannte „strategische Dialog“ der europäischen Stahlindustrie mit der Kommission, an dessen Ende ein Aktionsplan für die Branche stehen soll. Sie steht europaweit unter Druck: Die Nachfrage fehlt, die Strompreise sind zu hoch. Ein Industriestrompreis von vier Cent pro Kilowattstunde könnte helfen, ebenso die Maßnahmen der EU zur Schaffung grüner Leitmärkte. Der europäische Lobbyverband Eurofer will weiter für eine Verschärfung der aktuellen Schutzmaßnahmen werben, um sie an die „Marktrealität anzupassen“, sowie für die Entwicklung eines „robusteren und umfassenderen Zollsystems, um die Spillover-Effekte der globalen Stahlüberkapazitäten zu stoppen, bevor die Schutzmaßnahmen im Juni 2026 auslaufen“. Außerdem solle Eisenschrott als strategische Ressource anerkannt werden. Denn die Umstellung auf eine Kreislaufwirtschaft erfordert es, den Schrott nicht wie aktuell in Länder zu exportieren, die billig Stahl herstellen, sondern er müsse in der EU verbleiben.

SNCF Réseau ist da im Kleinen schon einen Schritt weiter. Die Franzosen planen alle austauschbaren Teile aus der Infrastruktur der Bahn – Schienen, Schwellen, Schotter, Oberleitungsdrähte – nach und nach der Kreislaufwirtschaft zuzuführen und ihnen einen neuen Lebenszyklus zu ermöglichen. Jedes Jahr werden so 94 Prozent der alten Schienen recycelt, der Rest wiederverwendet. Schotter kann teilweise wiederaufbereitet werden, der Rest wird als Straßenbauunterlage verwendet. Immer mehr Oberleitungsdraht wird recycelt und zu neuen Drähten verarbeitet. So spart das Unternehmen nach eigenen Angaben pro Jahr 220.000 Tonnen CO2 und sichert dabei Arbeitsplätze in der Stahlindustrie. Eine Sorge weniger. Dutzende weitere aber bleiben bestehen, nicht nur für den Chef der saarländischen Stahlindustrie, sondern auch für 11.700 direkt in der Industrie Beschäftigte und 20.000 indirekt Beschäftigte. Denn die Saarhütten vergeben im Jahr 200 Millionen Euro an Auftragsvolumen an über 1.000 kleine und mittelständische Betriebe im Land.
Es bleiben Fragezeichen. An der Dekarbonisierung der gesamten Branche führt kein Weg vorbei. Schritt für Schritt ist dies nicht zu machen, sollen die Pariser Klimaziele eingehalten werden, hier muss vieles gleichzeitig ablaufen. Stefan Rauber, Dillinger und Saarstahl haben dabei nicht über alle Einflussfaktoren die Kontrolle, während die EU darüber berät, wie sie Klimaschutz und Industriepolitik unter einen Hut bekommt. Derweil bauen die Saarhütten weiter an ihrer CO2-freien Zukunft. Ohne Abweichungen. Fast wie auf Schienen.