Nach der Wahl richten sich die Blicke der europäischen Politiker und Parteien auf das, was in Europa geht, was nicht geht und was gehen muss. Die bestehenden und noch kommenden Probleme der EU werden nicht kleiner.
Eines ist klar: Die neuen Machtverhältnisse in Brüssel ändern nichts daran, dass die Herausforderungen für die Volksvertreter von 450 Millionen Menschen so groß sind, wie selten zuvor. Einerseits stehen die 27 EU-Nationen vor Binnenproblemen: Finanzierungsfragen, Klimawandel, Sicherheit. Andererseits schwelen rund um Europa herum mehrere Brandherde: Russland/Ukraine-Krieg, Kämpfe in Nahost, Druck durch Migration – um nur einige Themen zu nennen. Von weiter weg drücken ein aggressives China, antiwestliche Posen im globalen Süden, kompliziertere Handelsbeziehungen.
Die drei EU-Institutionen – Parlament, Kommission, Regierungen – haben nach der Europawahl kaum Zeit, um sich zurechtzurütteln, denn Präsident Wladimir Putin und sein Militär gönnen sich ebenfalls keine Pause, während wir uns neu sortieren. In der Ukraine hören die Bombardements nicht auf. Genauso ungeniert laufen Cyberattacken, Sabotageakte und Desinformationsversuche – auch gegen zivile Infrastruktur mitten auf unserem Territorium.
Nötig ist jetzt eine klare Weichenstellung auf dem Kurs in Richtung Russland. Außenpolitik-Expertin Jana Puglierin mahnt: Eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik sei „jetzt wichtiger denn je“. Aber die Staaten von Stockholm bis Sizilien sind sich uneins. Manche wollen eine Europa-Armee aufbauen, wie sie schon der britische Premier Winston Churchill vor siebzig Jahren vorgeschlagen hatte. Andere, wie die Hamburger Politologin Ursula Schröder, halten die Idee einer EU-Streitkraft für „unfassbar kompliziert und langwierig.“
Dennoch: Es gilt erste Bewegung in der EU-Verteidigungspolitik zu nutzen. Niemandem ist so recht klar, warum wir zwischen Polen und Portugal sechsmal so viele Waffensysteme unterhalten müssen wie die USA. Deshalb – so ist es bereits beschlossen – soll die Militärausrüstung vereinheitlicht werden. Dafür ist das neue Amt eines EU-Verteidigungskommissars im Gespräch. Erstling in dem Job könnte Polens Außenminister Radosław Sikorski werden.
Projekte, wie eine eng abgestimmte EU-Verteidigung kosten Geld. Zumal die USA wohl – egal, wer dort bald regiert – nicht nur bei der kostspieligen Ukraine-Hilfe geiziger werden dürften. Europa kann den militärischen Schutzschirm der USA verlieren und wird dann eigene Wege gehen müssen. Deshalb wird in der neuen Legislaturperiode des Europäischen Parlaments unweigerlich die Frage auf den Tisch kommen, ob die EU eigene Steuern kassieren darf oder ob ihr Budget weiterhin nationalem Geldgerangel ausgeliefert bleibt.
Schon vor der Wahl hatten Finanzfragen heftige Debatten ausgelöst. Die aus Portugal stammende EU-Kommissarin für Regionales, Elisa Ferreira, hatte davor gewarnt, die Aufwendungen für Verteidigung auf Kosten der Unterstützung ärmerer EU-Regionen umzuschichten. Denn die Begehrlichkeiten sind groß: Ferreiras Etat ist mit 290 Milliarden Euro für 2021-2027 der zweitgrößte Posten im europäischen Haushalt nach den 350 Milliarden Euro für den Agrar- und Fischereibereich.
Bei den Christdemokraten könnte man bereit sein, den militärischen Finanzbedarf mit abschmelzenden Hilfen für Regionen, Städte und Gemeinden gegenzurechnen. Bundestags- Europapolitiker Anton Hofreiter von den Grünen hat als Alternative einen schuldenfinanzierten EU-Fonds über 500 Milliarden Euro ins Gespräch gebracht. Nun wird es darauf ankommen, welche Vorschläge die EU-Regierungschefs und die neu formierte Kommission dem EU-Parlament machen werden.
Heftiges Ringen ist unter den veränderten Bedingungen nach der Europawahl beim emotional besetzten Thema Umwelt- und Klimapolitik zu erwarten. Obwohl von der Leyen als Architektin des „Green Deal“ gilt, der einen allumfassenden grünen Wandel mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zum Ziel hat, scheinen ihre Christdemokraten den Pakt aufweichen zu wollen. Stimmen werden laut, eine weniger ideologisch aufgeheizte Klimapolitik zu führen: Weniger Grün, mehr Wirtschaft. Diesen Strategiewechsel würden Liberale, Konservative und Rechtsparteien mittragen.
Die Klimapolitik ist verknüpft mit dem Reizthema Bürokratieabbau. Vor allem die Bauern sind wegen der klimaschutzbedingten EU-Vorgabenflut in Rage. Schluss mit zu viel Bürokram, das fordert man von rumänischen Maisfeldern bis hin zu irischen Rinder- und Schafzuchtbetrieben.
Ein weißer Elefant im Raum ist das Migrationsproblem. Das gerade erst verabredete Verteilungssystem für ankommende Geflüchtete funktioniert schon jetzt nicht. Einzelne Regierungen setzen es trotz Absprache nicht konsequent um. Leidtragende sind die europäischen Kommunen. Sie müssen das EU-Schlamassel ausbaden und sollen Unterkünfte bereitstellen, die man nicht mal eben schaffen kann. Städte und Dörfer ächzen.
Weniger Grün, mehr Wirtschaft
Die Migrationsabkommen, die von der Leyen mit Marokko, Ägypten und Libanon geschnürt hat, um Migranten schon an der Quelle vom Marsch nach Europa abzuhalten, sind hart umstritten. Kritiker halten sie für reine EU-Schaufensterpolitik und sinnlose Unterstützung korrupter Regierungsapparate. Tatsache ist, dass nichts darauf hindeutet, dass die Fluchtbewegungen aus dem hart gebeutelten Afrika, aus Kriegs- und Krisengebieten wie dem Sudan schnell enden werden.
Europas Dauerherausforderung ist es weiterhin, Schutz- und Zukunftssuchende menschenwürdig zu behandeln und zugleich Europas Gesellschaften vor Überforderung zu schützen. Wer diese Fragen künftig als zuständiger Kommissar bearbeiten wird, der oder die wird sich die europäische Grenzschutzagentur Frontex vorknöpfen müssen. Sie braucht eine umfassende Reform.
Indessen sind die Menschen in Europa beunruhigt über Islamisten mit Kalifatsfantasien und Mordgelüsten. Jüdische Menschen fühlen sich in letzter Zeit nicht mehr sicher. Universitäten haben sich zum Hort radikaler Gruppen entwickelt, die Andersdenkende bedrängen und öffentliche Räume besetzen. Dem europaweit entgegenzuwirken ist keine alleinige Aufgabe der EU-Polizeibehörde Europol oder der EU-Staatsanwaltschaft, sondern auch eine Bildungsfrage. Europas Grundlagen Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat bedürfen einer entschlossenen Wertevermittlung. Sie sind der Kitt, der die europäische Unterschiedlichkeit zusammenhält.
Schließlich stellt sich die Frage, wie sich Europa mit dem „Rest der Welt“ verbindet. China bleibt der globale Systemrivale, auch dort kann es wegen Taiwan zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen. In Südamerika biegen Nationen nach jahrhundertelanger Europazentrierung in Richtung Peking ab, in Afrikas Sahelzone nach Russland. Europa wird dort vielfach als besserwisserisch wahrgenommen, weil es seine Werte und Wahrheiten mit Handel und Wandel kombiniert. Das hält auch neue wirtschaftliche Riesen auf Distanz zur EU – ob Brasilien, Indien oder Indonesien.
Nun beginnt die Arbeit der Volksvertreter mit dem Abholen des Abgeordnetenausweises in Brüssel. Die „Sommerpause“ ist mit Terminen rund um die Bildung der neuen EU-Kommission belegt. Das Parlament kann die Bewerber grillen und muss die Personalien abnicken. Dabei geht es auch um Ursula von der Leyen, aber insgesamt um 26 weitere Posten.
Klar ist: Erfahrene Amtsinhaber gehen. Etwa die taffe Wettbewerbskommissarin Margrete Vestager (Dänemark) und Chefdiplomat Josep Borrell (Spanien). Neue Köpfe schieben sich nach vorne. Vielleicht Estlands liberale Regierungschefin Kaja Kallas als Außenbeauftragte? Vielleicht Spaniens sozialistische Umweltministerin Teresa Ribera als Klimakommissarin? Und vielleicht der einstige EZB-Chef und italienische Ministerpräsident Mario Draghi, ein hochqualifizierter parteiloser Technokrat mit Verwendungsprofil für irgendwo ganz oben, was sich vor allem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wünscht?
Vor den 750 EU-Abgeordneten liegen fünf anstrengende Jahre. Sie werden viel politischen Staub aufwirbeln. Dennoch wird das neue EU-Parlament den Durchblick behalten müssen. Für Belgier oder Bulgaren, für Dänen oder Deutsche oder für 23 andere Völker – ja, und auch für viele weitere.