Das saarländische Finanzgericht wird 75 Jahre alt – Grund genug, hinter die Kulissen einer eher weniger bekannten Instanz der Rechtsprechung zu schauen. Das Gericht gilt als besonders IT-affin – und so soll es laut Präsidentin Anke Morsch auch in Zukunft bleiben.
Frau Morsch, das Finanzgericht im Saarland wird in diesem Jahr 75 Jahre alt. Was ist die Aufgabe des Gerichtes?
Wir sind entgegen landläufiger Meinung nicht für Steuerstrafverfahren zuständig. Das Finanzgericht ist vielmehr ein besonderes Verwaltungsgericht, das die Bürgerinnen und Bürger, die Unternehmen, die Vereine anrufen können, um gerichtlichen Rechtsschutz zu erhalten. Im Kernbereich geht es um Steuern. Wenn zum Beispiel ein Steuerbescheid fehlerhaft ist und das Einspruchsverfahren beim Finanzamt erfolglos geblieben ist, kann Klage beim Finanzgericht erhoben werden. Steuerangelegenheiten haben einen starken verfassungsrechtlichen und nicht selten auch einen europarechtlichen Bezug. Die Umsatzsteuer etwa ist europaweit harmonisiert. Das bedeutet, dass der nationale Gesetzgeber nur einen eingeschränkten Spielraum hat. Das Finanzgericht ist aber nicht nur für Steuern, sondern auch für Zollangelegenheiten, und – das ist eine Besonderheit – für Kindergeld zuständig, das ja im Grunde zum Sozialrecht gehört. Die Verfahren vor den Finanzgerichten sind häufig von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Die Streitwerte der in diesem Jahr beim Finanzgericht des Saarlandes verhandelten Verfahren reichten zum Beispiel bis zu zehn Millionen Euro.
Die Finanzgerichtsbarkeit hat nur zwei Instanzen, alle anderen drei. Warum?
Einen sachlich überzeugenden Grund dafür gibt es nicht. Der zweistufige Aufbau der Finanzgerichtsbarkeit ist historisch bedingt und hängt damit zusammen, dass sich die Finanzgerichtsbarkeit im Grunde aus der Finanzverwaltung heraus entwickelt hat. Eine intensive Debatte zum Aufbau der Gerichtsbarkeit fand im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens zur Finanzgerichtsordnung Mitte der 1960er-Jahre statt. Damals war der Gesetzgeber offenbar der Auffassung, dass in der Finanzverwaltung, also beim Finanzamt, schon eine „quasigerichtliche" Prüfung stattfindet und deshalb auf eine Eingangsinstanz im finanzgerichtlichen Verfahren verzichtet werden kann. Aus heutiger Sicht ist dies überhaupt nicht mehr nachvollziehbar. Dennoch wurde der zweistufige Aufbau im Ergebnis nie wieder ernsthaft infrage gestellt; er ist selbstverständlich geworden.

Was bedeutet das für das finanzgerichtliche Verfahren?
Die Finanzgerichte – es gibt insgesamt 18 in Deutschland – sind die einzige Tatsacheninstanz, das heißt, sie ermitteln und beurteilen den Sachverhalt abschließend. Der Bundesfinanzhof überprüft finanzgerichtliche Entscheidungen im Rahmen einer Revision nur noch auf Rechtsfehler. Den Finanzgerichten kommt also eine besondere Verantwortung zu, denn Feststellungen zum Sachverhalt sind revisionsrechtlich nicht mehr überprüfbar.
Welche herausragenden Fälle finden sich denn in den Archiven des Finanzgerichts?
Das Finanzgericht des Saarlandes hat mit seinen Entscheidungen immer wieder einmal den Bundesfinanzhof mit sogenannten Rüttelurteilen herausgefordert, um eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu erreichen. Das von seiner Breitenwirkung her bedeutsamste Verfahren betraf sicherlich die Frage der Verfassungsmäßigkeit der sogenannten Pendlerpauschale. Es ging damals um die gesetzliche Beschränkung der Abzugsfähigkeit von Aufwendungen zwischen Wohnung und Arbeitsstätte ab dem 21. Entfernungskilometer und damit maßgeblich um die Frage der Zuordnung von Aufwendungen zur beruflichen oder zur privaten Sphäre, Stichwort: Werkstorprinzip. Das Bundesverfassungsgericht hat die fragliche Norm schließlich für mit Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz unvereinbar erklärt. Weitere Verfahren, über die auch in der Presse berichtet wurde, betrafen beispielsweise die Frage der Zulässigkeit der Offenbarung von Daten auf einer „Steuer-CD", also Daten, die dem Steuergeheimnis unterliegen, gegenüber einem parlamentarischen Ausschuss des saarländischen Landtags oder das Besteuerungsrecht Deutschlands für ein Gehalt, das in Frankreich wohnende Berufs-Fußballspieler von einem deutschen Verein bezogen. Kürzlich wurde von einem Verfahren des Finanzgerichts des Saarlandes berichtet, bei dem es um den Nachweis einer Doppelbesteuerung von Renten aufgrund einer mathematischen Formel ging.
Wie gelangen Verfahren zum Europäischen Gerichtshof?
Einige Rechtsgebiete sind im Rahmen der EU harmonisiert, das heißt, hier sind europäische Rechtsnormen, wie etwa Zollrechtsbestimmungen oder die Mehrwertsteuersystemrichtlinie für die Umsatzsteuer, für alle Mitgliedsstaaten und damit auch für das deutsche Recht maßgeblich. In Zweifelsfragen über die Auslegung dieser Bestimmungen ist deshalb der Europäische Gerichtshof im Wege von sogenannten Vorabentscheidungsersuchen anzurufen. Die Entscheidung des Gerichtshofs in Luxemburg hat insoweit Auswirkungen auf das finanzgerichtliche Verfahren, als die Finanzgerichte an diese Auslegung gebunden sind. Das Finanzgericht des Saarlandes hat den Europäischen Gerichtshof zum Beispiel im Zusammenhang mit der Frage der Umsatzbesteuerung angerufen. Konkret ging es um das Besteuerungsrecht Deutschlands bei einem in Deutschland wohnenden Arbeitnehmer eines Luxemburger Unternehmens, dem ein Firmenwagen auch für private Fahrten überlassen wurde – ein Fall, der gerade im Saarland gar nicht so selten vorkommen dürfte.
Das Gericht gilt als sehr IT-affin, wie kam es dazu?
Beim Finanzgericht des Saarlandes herrschte immer schon ein gewisser Pioniergeist, was Technik angeht: Es gab schon früh Kooperationen mit dem Institut für Rechtsinformatik an der Universität des Saarlandes. Lange bevor das Thema Digitalisierung in aller Munde war, hatte das Finanzgericht seine eigene Entscheidungsdatenbank. Schon vor zehn Jahren entstand eine Art Prototyp des elektronischen Rechtsverkehrs, ein Pilotprojekt mit dem Finanzamt Saarbrücken zum elektronischen Datenaustausch. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Finanzgerichts sind allesamt sehr offen und technikaffin. Ich selbst bin als ehrenamtliche Vorsitzende des Deutschen EDV-Gerichtstages mit dem Thema „Digitalisierung der Justiz" regelmäßig befasst. Derzeit wird beim Finanzgericht des Saarlandes die elektronische Akte pilotiert und in Kürze in den Regelbetrieb überführt. Seit diesem Jahr werden Schriftsätze von allen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten und umgekehrt an diese nur noch elektronisch übermittelt. Dies gilt auch für alle Behörden, mit denen das Finanzgericht des Saarlandes schriftlich kommuniziert. Für die Steuerberater und Wirtschaftsprüfer wird die elektronische Übermittlung ab dem nächsten Jahr verpflichtend sein. Einen echten Quantensprung würde es bedeuten, wenn auch die Finanzverwaltung in der Lage wäre, die Akten elektronisch an uns zu senden. Bei dem Thema Digitalisierung geht es aber natürlich nicht nur um den elektronischen Rechtsverkehr und die elektronische Akte. Gerade etwa der Einsatz Künstlicher Intelligenz in der Justiz bietet ein großes Potential. Dabei handelt es sich aber um ein durchaus sensibles Thema, bei dem noch viele Fragen zu klären sind.