Eine „Zeitenwende“ soll her in der Migrationspolitik mit Begrenzungen, Kürzungen, Kontrollen. Der Oppositionsführer setzt gar ein Ultimatum. Nach Solingen und rund um die Landtagswahlen im Osten der Republik hat sich die Diskussion um Asyl und Migration zugespitzt.
Der Tonfall verschärft sich täglich. Erst äußert Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) nach einem Gespräch mit Olaf Scholz (SPD) die Befürchtung, dass dem Bundeskanzler „das eigene Land entgleitet“. Einen Wahlsonntag und ein großes Migrationstreffen später stellt Merz gar ein Ultimatum und droht mit dem Abbruch der Gespräche zwischen Regierung und Opposition, um eine gemeinsame Lösung zu finden. Der CDU-Chef will mit dem öffentlichen Druck vor allem konsequente Zurückweisungen an den Grenzen erreichen. Ansonsten stehen wieder alle Punkte auf der Forderungs-Agenda, die schon in der Vergangenheit immer wieder für Diskussionen gesorgt haben.
Allerdings hat sich der Tonfall merklich verändert, samt Ulitmaten und (verbalen) Szenrien, als stünde das Land kurz vor dem zerfall. Wer eine Versachlichung der Diskussion oder humanitäre Empathie anmahnt, hat in dieser Atmosphäre kaum noch eine Chance.
Suche nach Lösungen erschwert
Der tödliche Angriff in Solingen und die inzwischen bekannten Umstände um den mutmaßlich islamistischen Täter haben die Diskussionen neu entfacht, das Umfeld der Landtagswahlen im Osten befeuert die Auseinandersetzung.
Im Streit um die Asyl- und Migrationspolitik sind schon immer schon die unterschiedlichsten Aspekte wie in einem großen Rührtopf zusammengeschüttet worden. Das hat die Suche nach differenzierten Lösungen oft genug erschwert, führte gleichzeitig zu vereinfachten, radikalen und populistischen Forderungen.
Auch in der aktuell hitzigen Debatte werden die höchst unterschiedlichen Aspekte wild durcheinandergewürfelt, womit sich eine Grundstimmung breitmacht, die inzwischen selbst Teile der Wirtschaft höchst alarmiert hat – in Sorge um den Standort Deutschland. Sorge, dass in Regionen der Republik keine qualifizierten (ausländischen) Fachkräfte zu finden sind, weil die wegen der Stimmung und der Wahlergebnisse diese Regionen meiden. Sorge um Spannungen in den Belegschaften. Und nicht selten Sorge, dass selbst integrierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine Abschiebung droht.
Auf der anderen Seite klagen Kommunen schon lange über eine Überforderung, was zuletzt darin gipfelte, dass auf Ebene der Landkreise gar ein „nationaler Aufnahmestopp“ in die Diskussion eingebracht wurde.
Während auf der einen Seite eine konsequente Begrenzung bis eben hin zu einem Stopp gefordert wird, gibt es auf der anderen ebenfalls schon lange die Forderung, Arbeitsaufnahmen endlich zu erleichtern und Integration voranzutreiben. Während öffentlich beispielsweise über Bürgergeld und überhaupt Geld für Geflüchtete debattiert wird, sind die Hürden und Hemmnisse zur Integration (Erlaubnisse, Anerkennungen, Mangel an Integrationskursen) eher selten Gegenstand großer öffentlicher Debatten. Die regelmäßigen Klagen aus der Wirtschaft über diese Mängel eignen sich weniger für Aufmacher-Schlagzeilen. Aus der Wirtschaft ist immer wieder die Bereitschaft (und der Bedarf) zu hören, Menschen mit Migrationshintergrund einzustellen, wenn es mit der Sprachförderung besser klappen würde und der bürokratische Aufwand geringer wäre.
Die Nachfrage nach Sprachkursen ist, wie Anbieter durch die Bank bestätigen, deutlich größer als das Angebot. Und Integrationsmaßnahmen sind häufig nur als befristete Projekte angelegt, eine auf Dauer und Konstanz angelegte Arbeit wird für die Anbieter somit erheblich erschwert. Was dann wiederum dazu führt, dass es schwerer wird, Personal dafür zu finden, wenn immer nur befristete Möglichkeiten zur Verfügung stehen.
Die Beispiele zeigen lange bekannte Missstände, deren Behebung für alle Beteiligten, Zugewanderte wie Einheimische, ein Fortschritt wäre, der zur Entspannung beitragen könnte. Natürlich würde das noch keine anderen Problemen lösen, etwa dem Wohnungsproblem, aber auch das muss im Interesse aller gelöst werden. In der aktuellen Debatte stehen allerdings Verbesserungen und Erleichterungen bei vielen dieser (hausgemachten) inneren Probleme im Hintergrund. Dominant sind derzeit Fragen von Begrenzung und Abschiebung.
In Bezug auf die Forderung nach konsequenter Anwendung der „Dublin-Regeln“ werden zumindest einige deutlich, was mit dieser formalen Forderung inhaltlich wirklich gemeint ist: „Dublin-Prinzip heißt Zurückweisung an der Grenze“, erklärt CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann. Da Deutschland bis auf die Küsten keine EU-Außengrenze hat, kann logischerweise keiner direkt einreisen (außer noch über den Luftweg). Die Last liegt bei den Ankunftsstaaten (Mittelmeer-Anrainer, „Balkan-Route“). Dieses Problem war bei Abschluss der Verträge erkannt, es sollten eigentlich Regelungen über Unterstützung der Hauptankunftsländer sowie ein EU-Verteilsystem entwickelt werden, was bekanntlich nie wirklich zustande kam.
Rufe nach besserer Integration
Kurz vor den Europawahlen gab es dann doch noch in diesem Frühjahr in einer großen Kraftanstrengung nach fast zehn Jahren Dauerdiskussion eine Vereinbarung zu Reformen der EU-Asylpolitik, die im Kern diese Schwachpunkte aufgreift. Hauptankunftsländer sollen unterstützt werden, ein „verpflichtender Solidaritätsmechanismus“ soll eine Verteilung innerhalb der EU gewährleisten, und an den EU-Außengrenzen soll ein Verfahren installiert werden, wonach Menschen mit geringen Anerkennungschancen bereits an der Einreise gehindert werden. Damit wären Schwachstellen von „Dublin III“ knapp elf Jahre nach Verabschiedung (Juni 2013) einigermaßen repariert. Allerdings haben die Mitgliedsstaaten nach der Veröffentlichung der neuen Regeln (Mai 2024) zwei Jahre Zeit, alles umzusetzen.
Zweiter Punkt der aktuellen Diskussion ist einmal mehr das Thema konsequente Abschiebung von Menschen ohne Bleiberecht und Abschiebungen auch in Länder, wo es bislang aufgrund von deren innerer Situation bislang nicht erfolgt ist, genauer Syrien und Afghanistan. Ausgerechnet zwei Tage vor dem ersten großen Wahltermin (Sachsen, Thüringen) erfolgte tatsächlich die erste Abschiebung (von Straftätern) nach Afghanistan, also in ein Land, das seit erneuter Machtübernahme der Taliban streng nach der Scharia regiert wird, „Tugendgesetze“ durch eine Sittenpolizei überwacht werden, samt drastischer Strafen bei Verstößen.
Wie problematisch das ist, zeigt unter anderem eine Stellungnahme des Nahostreferenten der Gesellschaft für bedrohte Völker, Kamal Sido: „Bundeskanzler Olaf Scholz sollte offenlegen, welche Zugeständnisse an die Taliban gemacht wurden, um die Rücknahme von abgeschobenen afghanischen Straftätern zu ermöglichen.“ Und weiter: „Nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen braucht es nicht noch mehr populistische Forderungen und Äußerungen.“ Jedenfalls dürfte es kaum im Sinne einer „feministischen Außenpolitik“ sein, etwas mit dem Regime der Taliban zu tun zu haben.
Und auch für Syrien (wofür es seit 2012 einen Abschiebestopp gibt) gilt: Rückführung ist eigentlich nur mit Zustimmung des Landes möglich. Das hieße in der Konsequenz also eine zumindest indirekte Rehabilitierung des Regimes von Machthaber Assad.
Beides offenbart das im Grunde nicht wirklich lösbare Dilemma: Abschiebungen in Länder mit einer politischen und Menschenrechtssituation, die mit unseren Wertvorstellungen nicht vereinbar ist, sind folglich eigentlich auch nach Flüchtlingskonvention und deutschem Gesetz nicht zulässig. Andererseits ist der Aufenthalt (per Asylantrag) von schweren Straftätern (oder gar Terroristen) nicht hinnehmbar.
Unabhängig davon hat der Fall Solingen gezeigt: Es mangelte nicht an ausreichend scharfen Gesetzen. Nach allem, was bislang bekannt ist, lag es an der Umsetzung.