In einer Zeit beständigen Wandels gehört sie zu den Konstanten der Berliner Tanzszene: Grupo Oito. Sie bereichert das hauptstädtische Angebot seit 16 Jahren mit sehr unterschiedlichen, immer streitbaren Produktionen.
Spiritus Rector und Choreograf der interkulturellen Gruppe ist Ricardo de Paula. Auf den Straßen von Belo Horizonte, einer Zweieinhalb-Millionen-Stadt in Brasiliens Südosten, hat er angefangen zu tanzen: Disco Dance und der Kampftanz Capoeira. Und weil die Mädchen zum Ballett gegangen sind, hat er sich 1987, mit 17, auch in einer solchen Schule angemeldet: als einziger Schwarzer Jugendlicher. In anderen Studios lernte er Jazz, Modern, Kontaktimprovisation, Bodentechniken. Gefragt, ob er als Schwarzer gegen Vorurteile anzukämpfen hatte, sagt er: „Sie sind Teil der Kultur in Brasilien." Und: „Ich hatte viel Glück, meinen Weg gehen zu können."
Nach der Ausbildung tanzte er 1992 bei Grupo Corpo vor, der führenden Kompanie des Landes, Brasiliens internationales Aushängeschild. Zehn Jahre blieb er, absolvierte mit der Gruppe Gastspiele in den USA und Europa. Von ihrem Choreografen Rodrigo Pederneiras – „ein kleines Genie" –, der seinerzeit auch an der Deutschen Oper Berlin choreografiert hatte, lernte de Paula, was eine Tanzkompanie braucht: Musikalität, physischen Einsatz, Dramaturgie, Licht, Szenario: „Hier wurde ich zum Künstler."
Was er aber auch als Erfahrung mitgebracht hat, klingt bitter: „dass es nirgendwo auf der Welt einen Platz für Schwarze gibt, Diskriminierung ist die Norm". Dies war auch der Grund, weshalb er Grupo Corpo verließ. Eine der Choreografien eignete sich Schwarze Kultur an, „benutzte sie, sprach aber nicht unsere Stimme." Als er auch noch in einer Zeitung unter seinem Foto „object of desire" las, stand sein Entschluss fest, Brasilien den Rücken zu kehren. Es folgten mehrere Stationen in Europa.
Kampf gegen Vorurteile
Er erhielt eine Einladung an das Theater Kassel mit seiner zeitgenössischen Kompanie. Operette wollte er jedoch nicht tanzen. 2004 ging er nach Berlin und war als Gast an verschiedenen Projekten beteiligt, bei Sasha Waltz („eine ganz andere Ästhetik als bei Grupo Corpo"), Constanza Macras, Christoph Winkler („mit viel Text"), Felix Ruckert („eher Konzeptkunst") und bei der renommierten Südkoreanerin Eun Me Ahn – ein Ritt durch diverse tänzerische Stile und künstlerische Auffassungen. Besonders Felix Ruckert fand er herausfordernd, „man musste herausfinden, warum man was tut".
Dann ging er den folgerichtigen Schritt, eine eigene Gruppe zu bilden. Das war 2006, er nannte sie Grupo Oito, Gruppe Acht. Eine liegende Acht ist ihr Signet, verstanden auch als das mathematische Zeichen für „unendlich". „Ich höre erst auf zu tanzen, wenn ich sterbe", erklärt er, „und auch das Leben ist ein ständiges Auf und Ab von Bewegung." Die Idee einer eigenen Kompanie entstand bereits in Brüssel, wo er offene Klassen gab, seine Trainingsmethode entwickelte – und Mitstreiter fand: Sie wurden der Kern von Grupo Oito. „Get Physical Process" war ihr erster Name, benannt nach jener Form von Körperarbeit, in die Capoeira ebenso einfließt wie Bodentechniken und das, was de Paula als Tänzer mitgenommen hat: von Grupo Corpo, Ballett, Body Mind Centering, Jazz, zeitgenössischem Tanz und viel Berührung, wie er es von Felix Ruckert kennt: „It became a nice cake."
„Mein Tanz ist politisch", beschreibt er den Ansatz für seine Stücke, „ich reflektiere, womit ich konfrontiert bin, ich habe keinen anderen Weg, mich auszudrücken, als kritisch zu sein." Die gesellschaftliche Realität überall auf der Welt empfindet der Choreograf als beängstigend: „Es gibt Gewalt gegen Schwarze nur ihrer Hautfarbe wegen, nicht alles geht für uns. Diesem Zustand möchte ich eine Stimme geben."
Entsprechend zielgerichtet und direkt sind Ricardo de Paulas rund ein Dutzend bisherige Stücke. So fragte er etwa in „Sight", wie dem weltweiten Phänomen wachsender Müllberge beizukommen wäre. Ausgangspunkt dafür war die reale Geschichte von Estamira, einer Frau, die über 20 Jahre in der Müllstadt nahe Rio de Janeiro gelebt hat. „Dance for Sale" thematisierte die Verkäuflichkeit von Tanz und hatte sich an einer zugesagten finanziellen Zuwendung für ein Projekt entzündet, die eine Haushaltssperre in Berlin zunichte machte, während der Senat mit gewaltigem Aufwand das Haus der Berliner Festspiele sanierte. Tanz nur noch gegen Geld: Die Zuschauer erhiel-ten Spielzeugdollar und mussten entscheiden, für welche der vielen kleinen, teils bissigen, teils amüsanten Aktionen sie diese ausgeben wollten.
„Mein Tanz ist politisch"
Eine weitere Produktion, „Part of You", bezog sich auf das Problem der gesellschaftlichen Überwachung durch Kameras oder Geheimdienste und wie bereitwillig wir ihnen über Smartphones, Laptop und kommunikative Internetplattformen zuarbeiten. „Ubiquitous Assimilation" setzte sich mit rassistischen Strukturen in unserer Gesellschaft auseinander, indem es anhand von fünf nackten weißen Akteuren die Norm aufzeigte: die weiße Sicht auf Historie und Kunst. Dem vorausgegangen war „Cleanse", ein Stück mit sechs nackten Schwarzen Tänzerinnen und Tänzern, aus dem eine Dokumentation entstand. „Break & Connection" schließlich als vorletzte Inszenierung suchte im Bruch die Voraussetzung für ein Innehalten und die Suche nach dem Verbindenden im gesellschaftlichen Zusammenleben.
Gab es seit Beginn aktive Teilnahme der sechs festen Gruppenmitglieder im Produktionsprozess, rückt seit „Break & Connection" der Gedanke eines kollektiven Miteinanders noch stärker ins Zentrum. Arbeitsteilig geht es nun zu, jeder bringt ein, was er oder sie zusätzlich und über die eigentliche künstlerische Arbeit hinaus leisten kann. In diesem Sinn entsteht gerade das neue Stück von Grupo Oito: „Labyrinth" – „ein Tanz durchs Labyrinth des Lebens".
Inspiriert wurde das Projekt durch Schicksal und Schaffen zweier Künstler, die die Diagnose Schizophrenie teilten: der 1989 verstorbene Schwarze brasilianische Objektkünstler Arthur Bispo do Rosário und die 1970 in den Freitod gegangene Berliner Schriftstellerin und Zeichnerin Unica Zürn. Beide, so folgert Stückdramaturgin Katja von der Ropp, scheiterten an ihrem patriarchalen und rassistischen Umfeld. Als Außenseiter passten sie nicht in die Norm und fanden einen Ausweg aus ihrem sozialen Labyrinth nur durch Flucht in eine andere, künstlerische Realität. Ricardo de Paulas Inszenierung findet in einem Raum statt, der Bühne und Zuschauerbereich miteinander verschmelzen lässt.
In dieser fantastischen Welt können sich die Besucher frei von Station zu Station bewegen und so ihren eigenen Weg durchs Labyrinth ergründen. Zentrales Bühnenelement sind Spiegel, in denen Akteure und Publikum gleichermaßen widerscheinen. Ziel ist es, die Wahrnehmung zu verändern, Gemeinsamkeit zu schaffen und so zur gesellschaftlichen Heilung beizutragen.