Ein Trauma ist ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die von einer Person nicht verarbeitet werden kann. Dass dies auch für Nationen gilt, beweist der Vietnamkrieg. Die Wunden, die sich die USA als Kriegspartei beigebracht haben, sind längst nicht verheilt – bis heute nicht.

Nationen haben zwar einen niedrigeren Zusammenhalt als Mannschaften im Sport, doch auch bei Staaten sprechen Historiker – bei anhaltenden Verletzungen – von traumatischen Ereignissen. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben in ihrer Rolle als Weltpolizei, die sie in den Jahren des Kalten Krieges einnahmen, eine große Zahl an Anfeindungen und Niederlagen erfahren. Da man sich als Ordnungshüter als dem Feind moralisch überlegen ansah, war es umso demoralisierender, wenn sich dieser nicht in die Knie zwingen ließ. Am ausgeprägtesten haben sich die USA mit ihrem Engagement in Vietnam selbst verletzt – einem Land, das auf dem Papier keine Chance gegen die größte Militärmacht der Welt hatte. Doch in Realität haben sich die Nordvietnamesen durch ihre Leidenschaft, unorthodoxe Guerillataktiken und einen unbeugsamen Führer die moralische Deutungshoheit erkämpft. Die Wunde der Niederlage ging in den Vereinigten Staaten auch nach Kriegsende immer wieder auf. Die Schmach wurde in amerikanischen Büchern und Filmen über Jahre thematisiert, sei es das Schicksal traumatisierter Heimkehrer wie in „Rambo“ oder die Absurdität des Dschungelkampfes in „Apocalypse Now“.
Schnelle Abfolge von Schockmomenten

Mit dem Dekret zur „Wiederherstellung von Wahrheit und Vernunft in der amerikanischen Geschichte“ möchte der aktuell amtierende Präsident Donald Trump eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit unterdrücken. Sein Vize wurde jüngst beauftragt, Museen und Zoos zu überprüfen, um diese im Sinne der Verordnung auf Spur zu bringen und „woke Ideologien“ in ihren Programmen auszumerzen. Solche revisionistischen Versuche der Geschichtsumdeutung sind ein Beispiel für das moralische Dilemma, in dem sich die Vereinigten Staaten schon länger befinden: Sie fühlen sich durch ihre Demonstration von Macht auch heute als Supermacht, aber nicht genügend respektiert. Dass sich der Gigant USA mit seiner Kriegsführung in Vietnam die Hände schmutzig gemacht und nicht nur militärisch, sondern auch moralisch verloren hat, wird schon während der ersten Eskalationsstufe des Konflikts klar. 1968 wuchs in den USA die Opposition gegen den Krieg enorm an und wurde durch Nachrichten über den Einsatz von Napalm, die steigende Zahl an Todesopfern und über die Auswirkungen des chemischen Entlaubungsmittels Agent Orange extrem verstärkt.

Nicht nur große Teile der Nation sahen sich bei den anhaltenden Kampfhandlungen als Verlierer, auch Akteure wie der amerikanische Präsident Lyndon B. Johnson fühlten die Schmach, dass man als hochgerüstetes Land nicht in der Lage war, den Krieg schnell für sich zu entscheiden. In einem abgehörten Telefonat gab dieser zu, dass der Krieg nicht das Leben eines einzigen Soldaten wert sei und er sich nicht als den geeigneten Oberbefehlshaber ansähe. Später sprach er von der „Hure Vietnam, die sein Leben zerstört“ habe. Er wollte sich eigentlich der Erschaffung einer „Great Society“ widmen und wurde letztlich von seinen innenpolitischen Zielen abgehalten. Johnson starb als verbitterter Mann, denn er war jener Präsident, der die Amerikaner mit Luftangriffen auf Nordvietnam in den Kampf hineinzog.

Der Entschluss, Krieg zu führen – was seine reformerischen Pläne nach innen verhinderte – führte dazu, dass er sich nicht mehr für eine zweite Amtszeit bewarb. Dies gab er im April 1968, genau zwei Monate nach der sogenannten Tet-Offensive, in einer TV-Ansprache an die Nation bekannt. Nur wenig später wurde Dr. Martin Luther King ermordet, es brannte das Feuer der Gewalt in allen schwarzen Ghettos. Im Juni des Jahres erfolgte der Mord an Robert Kennedy. Durch diese schnelle Abfolge von Schockmomenten befand sich das Land innerhalb von nur sechs Monaten in einer seiner schwersten Krisen.
Vor allem schlecht ausgebildete junge Männer, die ihre Wehrpflicht ableisteten, schickte man in den vietnamesischen Dschungel. Nach Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung war es „eine Armee von Teenagern – mehr als 60 Prozent starben im Alter von 18 bis 21 Jahren, das Durchschnittsalter der US-Truppe war 19.“

Die Personalpolitik des US-amerikanischen Heeres wirkte sich maßgeblich auf das Kampfverhalten aus. Die Sinnlosigkeit des Tuns wird anhand getöteter Vietcong auf dem Weg zur Basis deutlich. Sie wurden häufig einfach aus dem Helikopter geschubst, nur um die sogenannte Body-Count-Statistik, also die Zahl der getöteten Feinde, zu verbessern. Zum psychologischen Druck kommt, dass die GIs (einfache Soldaten) den Gegner nicht wirklich stellen konnten. Im Gegenteil, oft fügte dieser einem befreundeten Soldaten Verletzungen zu, die man nicht zu verhindern wusste. Wenn man beides kombiniert – den von oben forcierten Erfolgsdruck und die Frustration der Soldaten vor Ort – kann man sich vorstellen, welch massive Aggression sich am Gefechtsort, aber auch zu Hause, entlud. Im Dezember 1968 begann die letzte großangelegte Bodenoperation „Speedy Express“ im Mekong Delta. Vier Monate lang wurden die Hochburgen des Vietcong, südlich von Saigon, durchkämmt, mit mageren Resultaten. Die Zeit der großen „Search-and-Destroy“-Einsätze („suchen und zerstören“) war damit vorbei.
Nixon eskalierte die Lage weiter

Mit der steigenden Zahl heimkehrender Leichensäcke schritt die Spaltung des Landes voran. Der neue Präsident Richard Nixon wollte den Konflikt durch beständigen Rückzug vietnamisieren. Heißt, das südvietnamesische Militär sollte fortan die Hauptlast des Krieges tragen. Mit der sinkenden Zahl an Soldatenopfern wollte die US-Regierung den Widerstand im eigenen Land runterfahren. Doch die Kampfhandlungen wurden nicht weniger, im Gegenteil. Nixon eskalierte die Lage durch Bombenteppiche, die durch die amerikanische Luftwaffe gelegt wurden, insbesondere über Laos und Kambodscha. Die Armee Südvietnams engagierte sich derweil in Vertreibungsaktionen, um mit einer Umsiedelung die Nachschubwege und Rückzugsgebiete des Vietcong zu blockieren. Doch der ersehnte Sieg sollte trotz Übermacht ausbleiben.

Obwohl Experten klar war, dass dieser Krieg nicht mehr zu gewinnen war, glaubten Nixon und sein Berater Henry Kissinger, man könne ihn mit einer weiteren Eskalationsstufe doch noch für sich entscheiden. Im Dezember 1970 bombardierten Flugzeuge nach sechsmonatiger Pause wieder Nordvietnam. Um glaubwürdig zu bleiben, wollte man von amerikanischer Seite keinen schnellen Rückzug. Doch Nixon hatte den Widerstand im eigenen Land massiv unterschätzt. Als die Nationalgarde bei einer Demonstration gegen den Einmarsch in Laos und Kambodscha vier Studenten erschoss, kam es zu den größten Massenprotesten, die das Land je gesehen hatte.
Kein Vertrauen in Institutionen mehr
Kissinger versuchte, einen der beiden Unterstützer Nordvietnams – Russland oder China – dazu zu bringen, Druck auf den Feind auszuüben. Nixon reiste im Februar 1972 nach Peking, was zu einem neuen Kapitel im Verhältnis der beiden Systemfeinde führte. Doch Hanoi trotzte dem Tauwetter zwischen Ost und West, und die zwei Kriegsparteien ließen, während in Paris über den Frieden verhandelt wurde, den Kampf noch einmal eskalieren. Beide Seiten begriffen sich als ungeschlagen. Es sollte noch ein Jahr gekämpft werden, ehe am 27. Januar 1973 ein Friedensvertrag unterschrieben wurde. Damit kam Amerika aus dem Konflikt heraus, ohne sagen zu müssen, man hätte zwangsläufig verloren. In Wirklichkeit aber ging es um einen hinreichenden zeitlichen Abstand zwischen dem eigenen Loslösen, der Vietnamisierung des Krieges und dem absehbaren Zusammenbruch des Regimes. Als die letzten Soldaten zurückkehrten, war die Angelegenheit für den Kongress erledigt.

Im Gegensatz dazu fanden sich die Heimgekehrten nach ihrem Einsatz zu Hause nicht mehr zurecht. Viele junge Männer waren traumatisiert vom Schrecken und der Brutalität des Krieges. Statt ihnen psychologische Hilfe zukommen zu lassen, ließ man sie alleine mit ihren Dämonen. Viele fanden nicht mehr in einen geregelten Alltag zurück, nahmen sich das Leben oder endeten als Obdachlose.
Heute befasst sich die Erinnerung an den Krieg in den USA hauptsächlich mit den Veteranen, die zunehmend als Opfer des Konfliktes gesehen werden, niemals allerdings als die Täter. Es hat in den vergangenen Jahrzehnten keine großangelegte Vietnam-Ausstellung in den Staaten gegeben, da sich kein öffentliches Museum an dieses Thema heranwagt. Die Grundlage der Demokratie ist das Vertrauen in ihre Politiker und Institutionen. Den politischen Preis, den die USA durch ihre Beteiligung in Vietnam bezahlt hat, ist ein galoppierender Vertrauensverlust in diese Grundpfeiler – mit Konsequenzen, die bis heute nachhallen und sich unter US-Präsident Donald Trump erneut manifestieren.