Der Ruhrtalradweg ist einer der beliebtesten Radwege in Deutschland. FORUM-Autor Stefan Weißenborn ist ihn in dreieinhalb Tagen gefahren – zu vielen Sehenswürdigkeiten und mit Abstechern zu einem Wasserfall und einer Tropfsteinhöhle.

Urplötzlich ist der Radweg gesperrt. Also geht es den Weg ein Stück zurück, rechts durch ein Gatter und dann über einen holprigen Lehmboden. Ich bin umgeben von großblättrigem Uferbewuchs. Mühlheim an der Ruhr habe ich schon passiert, und Duisburg, der Endpunkt des Ruhrtalradweges, ist nicht mehr weit. Doch wer hätte gedacht, dass ich mitten im Ruhrgebiet auf einer Offroad-Piste lande? Es ist nur eine von vielen Überraschungen auf der rund 240 Kilometer langen Tour entlang der Ruhr. Am ersten Morgen fließt die junge Ruhr als schimmernder Film über einen Waldweg, entwickelt sich in den Wiesen unterhalb des Ruhrkopfes (696 Meter) allmählich zu einem Bach. Ein paar Meter oberhalb tritt sie bei Winterberg aus der Erde. Ich folge ihr durch das hügelige Hochsauerland, durch Nadelwald.
Durch das hügelige Hochsauerland

Den Ruhrtalradweg in dreieinhalb Tagen bewältigen, inklusive Abstechern zu weniger bekannten Sehenswürdigkeiten – das ist das Vorhaben. Angesichts der täglich 70 Kilometer und der Steigungen bin ich froh, dass ich ein E-Bike unterm Po habe. Schon früher wussten Fuhrleute um die Anstrengungen in der hügeligen Gegend.
Mit vollem Akku geht es zur Plästerlegge bei Bestwig, dem einzigen natürlichen Wasserfall in NRW. Nach einem steilen Anstieg erreiche ich den 20 Meter hohen Sturzbach. Der Wasserfall erinnert an die Bergbauvergangenheit der Region, da das Wasser einst zum Abkühlen von geschmolzenem Blei verwendet wurde. Kein schlechter Ort zur thematischen Einstimmung. Mein nächster Stopp: das Erzbergwerk Ramsbeck.
„Ich begrüße Sie unter Tage, Glück auf!“ Claus Haufe geht stramm auf die 80 zu, ist gelernter Metallurge und führt durchs Erzbergwerk, wo er nach zehnminütiger Fahrt mit der rumpeligen Grubenbahn die Besuchergruppe tiefer in den Berg lotst. Seine Mission: vom harten Alltag der Bergleute in vorindustriellen Zeiten berichten.
„Der Metallgehalt der Blei- und Zinkerze hier liegt bei vier bis fünf Prozent“, sagt Haufe. „Das war damals zu wenig.“ Vor 50 Jahren, als das Bergwerk schloss, habe es für eine Tonne Blei oder Zink nur noch 210 Mark gegeben, „heute bekommen Sie 2.100 Euro.“ Haufe erwartet, dass sich der Abbau bald wieder lohnt.

Um beizeiten für die Nacht in Arnsberg anzukommen, gibt es Meschede nur im Vorbeifahren: eine bundesrepublikanische Fußgängerzone mit reduzierten Schuhen in der Auslage, eine Eisdiele („Cortina“) als einzige Menschenansammlung, die alte Ruhrbrücke.
Weiter wird das Ruhrtal am nächsten Tag. Ein Blick noch mal auf den frühgotischen Glockenturm, Wahrzeichen Arnsbergs in der höhergelegen Altstadt. Vor dem Lenker gibt sich der Fluss nun als Refugium: Die Böschung ist von Brombeergestrüpp überwuchert. Am Himmel kreisen Greifvögel, auf einer Kiesinsel in einem Altarm steht ein Fischreiher. In den Auen Richtung Wickede ist die Ruhr besonders ursprünglich: Man sieht Uferschwalben, Wasseramseln und Eisvögel. Unter Wasser sind Bachforellen heimisch. Die Ruhr, der man hier auf einem ufernahen Pfad folgt, hat mäandernde Arme und Stromschnellen. Kurios, dass vier Meter rechts vom Weg parallel und hörbar die A 46 verläuft – man sieht sie nur nicht, sie liegt ein paar Meter höher.
Abstecher Nummer zwei steht an: Iserlohn, wo das nächste Untertage-Erlebnis wartet. Doch

diesmal ist alles anders. Standen in Ramsbeck noch Maschinen in den Stollen, zeigen sich Gänge und Hallen der Dechenhöhle im Stadtteil Grüne als ein von der Natur geschaffenes Skulpturenkunstwerk. Expertin Julia erläutert die Entdeckungsgeschichte, nach der einem Bergmann bei Schienenarbeiten ein Hammer durch einen Felsspalt fiel – darunter die Höhle, die das „Iserlohner Kreisblatt“ 1868 als ein „weit und breit nicht seines Gleichen findendes Naturwunder“ beschrieb.
Zurück ans Tageslicht, zurück ins Ruhrtal. Vorbei an gepflügten Äckern, knallgelben Rapsfeldern, Höfen mit Pferden. Der Blick ist weit. Gegenüber, oberhalb des Elsebachtals, liegt Schwerte, nächstes Etappenziel auf exakt der Mitte des Ruhrtalradweges.
In Essen gibt es eine Badestelle
Bleibe für die Nacht ist direkt am Fluss: Haus Villigst, am Standort eines mittelalterlichen Rittergutes und heute von der Evangelischen Kirche als Tagungsstätte unterhalten. Die Zimmer im Gästehaus sind modern, aber protestantisch karg, ein TV fehlt – Ehrensache! Das größere Unterhaltungsprogramm am Abend, wenn der Fluss in der Dämmerung verblasst, ist es, sich ans Ufer zu setzen: Es gluckst und plätschert jetzt schon auf 50 Metern Breite, Enten jagen schnatternd hintereinander her. Nach einem fulminanten Vogelkonzert fetzen im Zickzack nur noch lautlos die Fledermäuse umher.

Der Wunsch, die Ruhr zu bezwingen, statt sie nur zu begleiten, kann auf der Radreise aufkommen. Und so ist die Verabredung mit Martina und Dirk am Bootsanleger Schwerte am nächsten Morgen ideal: Sie verleihen Kanus und haben ein Paddelboot mitgebracht. „Es ist natürlich eine ganz andere Perspektive vom Wasser aus“, sagt Dirk. Wahre Worte. Man könnte es als Entrückung bezeichnen: Auf dem Radweg noch geerdet, lässt der Reisende auf dem Wasser völlig los, der Kopf wird frei. In der Nebensaison kommt es auf dem Abschnitt zwischen Westhofen und Lennemündung vor, dass der Kanufahrer für Stunden völlig allein auf dem Fluss ist. Motorverkehr und Ausflugsdampfer sind erst weiter flussabwärts erlaubt. Schnell vergehen sie, die zwei Stunden und zehn Kilometer im Boot.
Baden in der Ruhr ist größtenteils nicht erlaubt: Zu tückisch können die Strömungen sein, und die Wasserqualität variiert. Doch in Essen zum Beispiel gibt es die Badestelle „Seaside Beach Baldenaysee“. Von der Beschaulichkeit des Sauerlandes ist man spätestens im Bereich der Stauseen weit entfernt. Der Radverkehr nimmt zu, Tourenfahrer, Alltagsfahrer. Cafés und Bistros am Wegesrand weisen sich als „Radlertreff“ aus, andere Schilder mahnen Bootsführer zum Langsamfahren.
Mit der Fähre rüber zur Burgruine
Ich unterquere das Ruhr-Viadukt, Teil der „Route der Industriekultur“ und Eisenbahnbrücke. Weiter geht’s entlang alter, schmaler Gleise der alten Muttenthalbahn ins Herz des Ruhrpotts: Zeche Nachtigall im Wittener Stadtteil Bommern. Am dortigen Hettberg liegen Kohlenflöze nur wenige Meter unter der Erde – „schon 1714 haben zwei Bauern den Abbau beantragt“, berichtet Miriam Karau, die als Reiseleiterin die Gäste in den Stollen begleitet.

Ein Gedenkstein auf dem Gelände erinnert an das Jahr 1832, als der erste Schacht, „Neptun“, abgeteuft wurde, Nachtigall ging als die erste Tiefbauzeche im Revier in Betrieb. Heute ist sie ein Museum, und am alten Steinbruch der Ziegelei, der eine 300 Millionen Jahre alte Erdschichtung offenlegt, darunter ein Flöz, brütet der Uhu, in Nordrhein-Westfalen vor 30 Jahren eigentlich ausgestorben. Mit der Ruhrtalfähre setze ich gegen Nachmittag an der Burgruine Hardenstein über und stärke mich mit Currywurst am Imbiss „Königliches Schleusenwärterhaus“ (das es mal war). Am Kemnader See konkurriere ich mit den Rollschuhfahrern, die den See auf einer eigenen Spur umrunden können. Und für die Nacht niste ich mich in einem zum Schlafen ausgebauten Holzfass auf dem Anwesen von „Landhaus Grum“ in Hattingen ein. Wie viele Städte der Gegend trumpft auch diese mit einer Fachwerk-Altstadt auf – und mit den „Eisenmännern“ des polnischen Bildhauers Zbigniew Poreba, einer Gruppe von acht Skulpturen vor der Kulisse der 1987 stillgelegten Henrichshütte.
Der letzte Tag der Tour ist hektisch: 65 Kilometer müssen bis zum frühen Nachmittag geschafft sein, da ich eine Zugbindung für die Heimfahrt ab Duisburg habe. Doch Abstecher Nummer drei muss sein: Zeche Zollverein, Unesco-Welterbe.
Das Treffen mit Rudolf Hauke fällt notgedrungen kurz aus. Er war einst im Duisburger Bergwerk Walser Steiger, also Aufsichtsperson unter Tage, und führt heute Touristen übers Essener Gelände. 1851 wurde dort die erste Kohle aus der Erde geholt, 1.250 Meter ging man über die Jahre in die Tiefe, 270 Kilometer Tunnel wurden gegraben. „Schicht im Schacht war 1986“, sagt Hauke.

„Der Unesco-Titel wurde 2001 vergeben und bringt Schutz“, sagt er, „es darf nichts entfernt werden.“ 50 Industriefotografen dokumentierten vorab quasi jede Schraube. Und so ist das Welterbe Zollverein die Vorzeige-Zeitkapsel eines sich wandelnden Ruhrgebiets – die allerdings mehrfach für die akademische, touristische und kulturelle Nachnutzung umgebaut wurde. Mit dem Fahrrad zwischen Fördertürmen, Rohr- und Leitungslabyrinthen mit Rostpatina, umwucherten Gleisen, Gasometer-Gerippen und den Schornsteinen der Kokerei umherzufahren, ist ein wahres Erlebnis. Auf dem Weg nach Duisburg habe ich Glück, dass eine Errungenschaft moderner Infrastruktur im Ruhrgebiet schon teils umgesetzt wurde: Schnurstracks voran geht es auf dem längsten Teilstück des bislang gebauten RS1, dem Radschnellweg 1 bis Mühlheim. Ab dort bestreite ich auf dem Ruhrtalradweg die letzten Kilometer. Und dann die unvorhergesehene Vollsperrung. Buckelpiste, Umherirren, Zeitverlust.
Doch das bleibt der einzige Wermutstropfen. Ich sehe im Vorbeifahren zwar den Yachthafen und das Bürogebäude Five Boats direkt an der Buckelbrücke und gewinne den Eindruck eines wieder prosperierenden Duisburgs. Doch zur Mündung der Ruhr in den Rhein schaffe ich es definitiv nicht mehr. Die zwölf Minuten Verspätung des ICE nach Hause hätten da auch nicht geholfen. Dafür steht aber an dieser Stelle fest: Duisburg werde ich allein für den Blick auf die sich verabschiedende Ruhr noch mal besuchen – vielleicht sogar wieder mit dem Rad.