Vor 75 Jahren wurde in Berlin die Currywurst erfunden. Doch wer erinnert sich heute noch an Herta Heuwer, die Erfinderin der Chillup-Sauce? Wir gehen auf Spurensuche nach der Schöpferin der kultigen Wurstspezialität.
Der Himmel über Berlin hängt tief, der Frühling kämpft noch gegen das letzte Aufbäumen des Winters an. Und Lulu wird vermisst. Die Besitzer der Katze versprechen Finderlohn. Sie wohnen um die Ecke in der Kaiser-Friedrich-Straße, haben aber auch einen Zettel mit Fotos von Lulu ans Glas der Tür in der Kantstraße 101 geklebt. Vielleicht hat die Katze ja hier „Unterschlupf gefunden“, hoffen die, die sie vermissen. Herta Heuwer wird von niemandem vermisst.
Currywurst blieb kein Berliner Kiez-Produkt
Bei dem Namen klingele bei ihm irgendwas, sagt ein älterer Herr, der an der Bushaltestelle vor Haus Nummer 101 auf den Bus wartet. Was da klingelt? Er weiß es nicht mehr. Herta Heuwer? „Nie gehört“, grummelt eine Frau, die aus dem Asia-Laden nebenan kommt. „Ähm, nein.“ „Muss man die kennen?“ „Keine Zeit.“ Kopfschütteln. Eiliges Weitergehen. „Nein, sie dürfen mich nichts fragen!“ „Kenn’ ick nich‘.“ Herta Heuwer scheint in Vergessenheit geraten zu sein.
Dabei hatte die Frau selbst offenbar ein besonders ausgeprägtes Erinnerungsvermögen: Am 4. September 1949 hat sie die Currywurst erfunden. Also vor 75 Jahren. Mit dem Datum war sich Herta Heuwer immer ganz sicher. Ein paar Wochen vorher hatte die Gastronomin an der Ecke Kant-/Kaiser-Friedrich-Straße im Bezirk Charlottenburg einen Imbiss eröffnet. Erst zehn Jahre später ließ sie sich die Wort-Bild-Marke „Chillup“ für ihre Soße eintragen – eine Wortkombination von Chili und Ketchup. Aber sie war sich sicher, dass sie die Erste war, die Currywurst servierte – und warb dann auch mit „1. Currywurst-Braterei der Welt“ und „Eine von uns erdachte Berliner Spezialität“ für ihr wachsendes Unternehmen.
Dort, wo deutsche Kulinarik-Geschichte geschrieben wurde, befindet sich heute das „go asia“, ein asiatischer Supermarkt. Unter der „Amazing Oriental“-Werbetafel des Ladens an der Fassade in der Kaiser-Friedrich-Straße hängt – wegen einiger Hecken kaum sichtbar – eine Gedenktafel, auf der steht: „Hier befand sich der Imbiss-Stand, in dem am 4. September 1949 Herta Heuwer, 30. Juni 1913 in Königsberg – 3. Juli 1999 in Berlin, die pikante Chillup-Sauce für die inzwischen weltweit bekannte Currywurst erfand.“ Die damalige Charlottenburger Bezirksbürgermeisterin Monika Thieme hat die heute unscheinbare Tafel im Sommer 2003, also vier Jahre nach dem Tod von Herta Heuwer, anbringen lassen.
Die Currywurst blieb kein Berliner Kiez-Produkt. Sie erlangte schnell nationale Bedeutung – in West- und in Ost-Deutschland. Aus der Currywurst ist etwas Besonderes geworden. Das zeigt sich auch daran, dass sie wichtig genug ist, um darüber in Streit zu geraten.
In Berlin selbst wird darauf hingewiesen, dass die darmlose Wurst eine Erfindung des Metzgers Max Brückner war. Weil es nach dem Krieg kaum Naturdarm gab, hat er die „Spandauer ohne Pelle“ auf den Markt gebracht und auch Heuwers Imbiss beliefert. Brückners Compagnon Frank Friedrich sei an der Entwicklung des Soßenrezepts beteiligt gewesen, heißt es.
Der Schriftsteller Uwe Timm glaubt sich erinnern zu können, bereits 1947 am Imbissstand einer Frau auf dem Hamburger Großneumarkt eine Currywurst gegessen zu haben. Er war damals sieben Jahre alt. In einer Novelle hat er die „Entdeckung der Currywurst“ dann 1993 nach Hamburg verlegt. Es blieb bei Literatur, denn handfeste Beweise dafür, dass eine Frau in Hamburg zwei Jahre vor der pfiffigen Berliner Gastronomin Tomatensoße mit Curry vermischte und zu Wurst servierte, waren nicht aufzutreiben.
In Berlin dagegen hinterließ die Currywurst auch schriftliche Spuren. 1951 zum Beispiel wurde zwischen der Fleischerinnung und den Berliner Behörden abgesprochen, wie denn eine Berliner Currywurst beschaffen sein muss – also etwa, welches Fleisch verwendet wird. Produkte, die diesen Qualitätsrichtlinien nicht entsprachen, durften allenfalls als „Bratwurst mit Curry“ oder „Dampfwurst mit Curry“ verkauft werden. Man nahm die Sache in Berlin also schon recht früh sehr ernst.
Das „Deutsche Currywurst Museum“ stützte jedenfalls die Geschichte von Herta Heuwer – was nicht verwundert, weil das Museum 2009 in Berlin eröffnet wurde. Es ist allerdings inzwischen selbst schon wieder Geschichte. 2018 wurde es bereits wieder geschlossen. Das private Museum, für das Investoren rund fünf Millionen Euro zur Präsentation eines wichtigen Teils der Stadtgeschichte zusammentrugen, hatte bis dahin nach eigenen Angaben rund eine Million Besucherinnen und Besucher gezählt. Aber das waren offenbar zu wenig, um den Betrieb zu finanzieren.
Musikalische Ode an die Currywurst
Im Ruhrgebiet wurde die Currywurst zwar ebenfalls zum Kult, aber anders als in Hamburg erhob man dort nicht den Anspruch, sie erfunden zu haben. Im Gegensatz zur Berliner Currywurst, die klassisch als Brühwurst mit oder ohne Darm zubereitet wird, werden im Ruhrgebiet oder etwa auch im Saarland meistens Bratwürste benutzt. Im Pott wurde dem, was sie dort auch schon mal „Mantaplatte“ oder „Schimanski-Teller“ nennen, sogar ein musikalisches Denkmal gesetzt. „Biste richtig down – brauchste wat zu kau’n – ne Currywurst.“ Herbert Grönemeyer weiß Bescheid. 1982 hat er dieses Lied erstmals rausgehauen und damit sein – wie es die Süddeutsche Zeitung formulierte – „Image als Pottbarde“ begründet.
Die Currywurst wurde aber fast überall, wo hart gearbeitet wird, zum Kulturgut. In Niedersachsen zum Beispiel: VW hat in Wolfsburg – zunächst nur für seine Arbeiterinnen und Arbeiter – sogar eine eigene Currywurst entwickelt und hergestellt. Als die Konzernleitung 2021 entschied, die Currywurst vom Speiseplan der Kantine zu streichen, weil sich Essgewohnheiten ja auch mal ändern, nahmen das Boulevardmedien zum Anlass, den Kulturkampf auszurufen. Dass VW die Currywurst nur aus einer seiner 30 Werkskantinen verbannt hatte, hielt aufgeregte Journalisten nicht davon ab, den Untergang des Abendlandes im Allgemeinen und den der deutschen Esskultur im Besonderen zu beklagen. Nach einer Mitarbeiterbefragung kehrte die Currywurst zwei Jahre später auch in die 30. Kantine zurück.
Da sich über Geschmack ja bekanntlich streiten lässt, gibt es auch immer wieder Diskussionen über die perfekte Currysoße. VW zum Beispiel verwendet ein selbst entwickeltes Gewürzketchup, das man, wie die Volkswagen-Würste selbst, auch im Handel bekommt. Herta Heuwer, die vor 25 Jahren in die himmlische Wurstbude abberufen wurde, versicherte bis zu ihrem Tod, dass sie nie eine fertige Gewürzmischung verwendet habe. Die Berlinerin rührte ihre Soße mit Tomatenmark und einzelnen Gewürzen an. Fertiges Ketchup lehnte die Berlinerin ab.
800 Millionen Würste pro Jahr verzehrt
Neben den Daten zur Erfindung der Currywurst und zu der Frau, die sie kreiert hat, ließ die Charlottenburger Bezirksbürgermeisterin vor 21 Jahren unter die historischen Erklärungen eine Art Beschwörungsformel auf die Gedenktafel schreiben: „Ihre Idee ist Tradition und ewiger Genuss!“ Die Ewigkeit sei lang – besonders am Ende, hat der Regisseur und Schauspieler Woody Allen einmal gesagt. Dort, wo an einer grauen Wand hinter Hecken Herta Heuwer gewürdigt wird, scheint die Ewigkeit aber bereits zu Ende zu sein.
800 Millionen Currywürste verspeisen die Deutschen jedes Jahr, 70 Millionen davon allein in Berlin, sagen die Statistiker. Dort wo alles begann, wird Genuss aber anders definiert: Pizza und Pasta gibt es in dem Viertel, Sushi, Döner, Chicken-Bowls, spanische Spezialitäten, ein Burger King und ein McDonald‘s. Eine gute Currywurst? „Keine Ahnung.“ „Ich bin nicht von hier.“ „Wees ick nich‘.“ „Ich bin Veganer.“ Schulterzucken.
Der Himmel über Berlin hat sich geöffnet. Es regnet in Charlottenburg. Wie am 4. September 1949, als Herta Heuwer die Currywurst erfand. Als sie ihre Soße zum ersten Mal anrührte, habe es ausgiebig geregnet. Daran erinnerte sie sich ganz genau. Laut Berliner Wetteraufzeichnungen soll jener 4. September zwar ein trockener Tag gewesen sein, aber wer kann das wirklich wissen? Der Regen lässt schnell Pfützen entstehen vor dem Haus Nummer 101 an der Ecke Kant-/Kaiser-Friedrich-Straße. Er ist unangenehm kalt. Der Winter bäumt sich noch einmal auf gegen den Frühling. Und Lulu wird immer noch vermisst.