Im Regionalen Naturpark Avesnois kann man zwischen verträumten Dörfern, kleinen Seen und ausgedehnten Wäldern tief durchatmen – in Städtchen wie Le Quesnoy wartet auf Besucher viel Geschichte.
Wie ein sternförmiges Gebilde wirkt das 5.000-Einwohner-Städtchen Le Quesnoy aus der Vogelperspektive: Zacken recken sich in alle Himmelsrichtungen, ein dichter grüner Gürtel zieht sich ringsum. Tatsächlich ist die kleine Stadt die am besten erhaltene „Ville fortifiée“ Frankreichs. Mit einem Verteidigungs- und Befestigungssystem, das über Jahrhunderte immer wieder verändert, verfeinert und neuen Angriffsmethoden angepasst wurde. So erzählt es Stadtführer Eric, der seine Gruppe vor dem Office de Tourisme in Empfang nimmt und erklärt, dass in dem Gebäude ursprünglich die Stadtwache untergebracht war. Sie hatte die nahegelegene Porte de Fauroeulx, eines der Stadttore, im Blick und kontrollierte, wer das Städtchen betrat oder es verließ. Noch heute scheint sich hier die Straße förmlich durch einen schmalen Einschnitt in den wuchtigen Befestigungsmauern aus Backstein zu schmiegen. Früher erschwerten zudem eine Ziehbrücke, Gräben und mehrere Teiche den Zugang.
Weshalb aber gerade Le Quesnoy seit dem Mittelalter so aufwendig befestigt wurde? Eric holt tief Luft und beginnt mit einem Schnelldurchlauf durch die Geschichte der Region. Ein Datum müsse man sich dabei merken, sagt er, das Jahr 1477: Der Herzog von Burgund, zu dessen Ländereien Le Quesnoy gehörte, war in der Schlacht von Nancy gefallen, der französische König nutzte die Gelegenheit, um mehrere heute nordfranzösische Städte zu verwüsten und um Le Quesnoy zu annektieren. Er ließ die Stadt zur Festung ausbauen. Doch sie blieb auch im Französisch-Spanischen Krieg Zankapfel, fiel erst 1654 endgültig an Frankreich. Ludwig XIV beauftragte dann seinen Militärbaumeister Vauban, die vorhandenen Befestigungen auch für Angriffe mit Artillerie zu rüsten. Noch heute sind die Bastionen erhalten, von denen aus die feindlichen Kanonen auf Distanz gehalten wurden. Ein markierter Weg führt auf etwa fünf Kilometern Länge rund um die einstigen Verteidigungsanlagen der Stadt. Dabei läuft man durch sattes Grün, denn die teilweise aufgefüllten Gräben sind jetzt Parkanlagen, durch die Spaziergänger und Mütter mit Kinderwagen flanieren und Jogger laufen.
Verteidigungsmauer in Le Quesnoy
Eric lotst die kleine Besuchergruppe einen Weg hinauf, durch eine weitere Pforte gelangt man wieder ins Innere des Verteidigungsgürtels. Auch hier spaziert man auf sich windenden Pfaden an üppiger Vegetation entlang – und kommt schließlich zu einem ganz besonderen Gedenkort, dem „Mémorial Néo-Zélandais“.
In den ersten Wochen des Ersten Weltkriegs hatten deutsche Truppen Le Quesnoy besetzt, am 4. November 1918 schließlich konnte die Stadt von den Alliierten befreit werden. Genauer: durch den aufopferungsvollen Einsatz von 200 neuseeländischen Soldaten, darunter auch einige Maori. Um die Zivilbevölkerung zu schützen, waren sie mithilfe einer Leiter über die Befestigungsmauer geklettert, um so ein Stadttor einzunehmen und den Rest der Einheit hineinzulassen. 93 der jungen Männer kamen dabei ums Leben – ihnen ist eine reliefgeschmückte Gedenktafel gewidmet, an der immer wieder Kränze und Blumen niedergelegt werden.
Überhaupt gibt es seit dem Ende des Ersten Weltkriegs enge Kontakte zwischen Neuseeland und dem kleinen Städtchen im Nordosten Frankreichs, das vermutlich mancher Franzose nicht sofort auf der Landkarte einsortieren könnte. Immer wieder kommen mittlerweile Enkel und Urenkel der neuseeländischen Befreier von einst nach Le Quesnoy. Sie haben seit letztem Winter eine weitere Anlaufstelle, das in der früheren Polizeiwache eingerichtete Musée Néo-Zélandais.
Enge Kontakte nach Neuseeland
Mit Filmmaterial und Sounds, mit der lebensechten Figur eines jungen neuseeländischen Soldaten, mit alten Fotos und vielen interaktiven Elementen wird hier die Geschichte des Städtchens, seiner Einwohner und Besatzer und schließlich seiner Befreier erzählt. Dabei rücken einzelne Menschen und Biografien in den Vordergrund. Die von Leslie Averill beispielsweise, dem ersten neuseeländischen Soldaten, der die Leiter an den Befestigungsmauern von Le Quesnoy emporkletterte, aber auch die von französischen Krankenschwestern, die Verwundete versorgten. Oder auch von Kindern aus dem Ort, die von den deutschen Besatzern oft auf gefährliche Streifzüge in die Umgebung auf der Suche nach Lebensmitteln geschickt wurden. All diesen Menschen wolle man ein kleines Denkmal setzen, sagt Museumsmitarbeiterin Blandine Demailly. Und verweist auf den sogenannten Family Room, dessen Zentrum ein großer Tisch mit Touchscreens einnimmt. Hier können Besucher aus Neuseeland beispielsweise recherchieren, wo sich ihre Groß- oder Urgroßväter im Spätherbst 1918 aufhielten, welche Rolle sie bei der Befreiung von Le Quesnoy spielten und auch, wo sie begraben sind. Immer wieder komme es dabei zu ergreifenden Szenen, sagt Demailly. Auch in einem weiteren Raum, in dem Besucher Mohnblumen aus Papier als Symbol der Achtung und Erinnerung für die Toten des Ersten Weltkriegs an eine Wand heften können – zusammen mit persönlichen Wünschen für ein friedliches Miteinander weltweit.
Doch Le Quesnoy ist nicht nur wichtiger Erinnerungsort an den Ersten Weltkrieg und imposante „Ville fortifiée“ sondern auch Ausgangspunkt für weitere Erkundungen im Naturpark Avesnois. Beispielsweise in den Forêt de Mormal, mit über 9.000 Hektar das größte zusammenhängende Waldgebiet Nordfrankreichs. Wander- und Radwege durchziehen das Gebiet, in dem im Herbst das Brunftröhren der Hirsche ständiger Begleiter ist. Und in dem man beim Dörfchen Locquignol im fast gleichnamigen Gasthof (estaminet) regionale Gastronomie in rustikalem Ambiente genießen kann. Da kommt natürlich auch der Käse auf den Tisch, der nach dem Dorf Maroilles benannt ist. Das liegt nur zehn Autominuten weiter südlich, der Abstecher lohnt sich. Denn in Maroilles kann man nicht nur Käsereien besuchen, sondern sich auch auf einen Parcours durch eines der schönsten Dörfer Nordfrankreichs begeben. Dabei kommt man an den verbliebenen Gebäuden der einstigen mächtigen Abtei ebenso wie an der vielfotografierten pittoresken Mühle vorbei. Und landet vielleicht in einem der kleinen Geschäfte, in denen man sich ein Stückchen Nordfrankreich in Form von Apfelsaft, leckeren Gauffres (Waffeln) oder eben Käse mit nach Hause nehmen kann.