Virginie Viard, die 2019 Lagerfeld bei Chanel ablöste, hat nach fast 30 Jahren ihren Hut genommen. Jetzt ist die Stelle des Kreativchefs bei Chanel vakant. Das Modehaus steht vor einem aufregenden Neustart und die Spekulationen über ihre Nachfolge laufen auf Hochtouren.

Es war auffällig, wie wenig Aufsehen die Fashion-Medien über den Abschied der 62-jährigen Virginie Viard Anfang Juni 2024 machten. Trotz der Bedeutung dieses Jobs für die Modebranche wurde ihre fünfjährige Tätigkeit als alleinige Design-Verantwortliche der legendären Maison kaum gewürdigt. Die Berichterstattung beschränkte sich größtenteils auf die offizielle Chanel-Pressemitteilung, die lediglich festhielt: „Chanel bestätigt das Ausscheiden von Virginie Viard nach einer erfolgreichen Zusammenarbeit von fünf Jahren als künstlerische Leiterin der Modekollektionen – in denen sie die Standards des Hauses erneuern konnte und dabei das kreative Erbe von Chanel respektierte – und das nach fast 30 Jahren im Haus.“ Die Mitteilung lobte Viards „bemerkenswerten Beitrag zur Mode, Kreativität und Lebendigkeit von Chanel“ und kündigte zugleich einen „neuen Anfang“ für die Luxusmarke an, der ein „neues Kapitel“ in der Erfolgsgeschichte von Chanel aufschlagen soll.
Über die genauen Hintergründe des Abgangs von Viard herrscht Stille. Viel spricht jedoch dafür, dass die Entscheidung die Verantwortlichen bei Chanel, darunter Präsident Bruno Pavlovsky, CEO Leena Nair und Finanzvorstand Philippe Blondiaux, unvorbereitet traf. Zwei Wochen vor der Ankündigung hatte Blondiaux Viard noch im Rahmen der Bekanntgabe einer erfreulichen Jahresbilanz hochgelobt und sich als glücklich bezeichnet, mit ihr zusammenzuarbeiten. Auch Leena Nair hatte betont, dass Viards Kreationen, insbesondere deren „Silhouette und Passform“, dem Hause Chanel viele neue Kundinnen beschert hätten.
Spannungsreiche Trennung

Die Zahlen sprechen für sich: Seit Viards Übernahme der kreativen Leitung nach dem Tod von Karl Lagerfeld im Februar 2019 hat Chanel einen historischen Umsatzanstieg erlebt. Im Jahr 2023, als die Nachfrage nach Luxusgütern nach der Covid-Pandemie weltweit stark anstieg, verzeichnete Chanel ein Umsatzplus von 19,7 Milliarden Dollar, was im Vergleich zu 2018 einem Anstieg um bemerkenswerte 75 Prozent entspricht. Unter Viard wuchs besonders das Segment Konfektionskleidung, was zur Freude der beiden Chanel-Eigentümer Alain und Gérard Wertheimer beitrug. Das Vermögen der beiden Brüder wird laut dem Bloomberg Billionaires Index auf jeweils rund 54 Milliarden Dollar geschätzt. Daher konnten sie alle Anfragen zum Verkauf von Chanel an große Luxusmode-Konzerne problemlos zurückweisen, wodurch Chanel, wie auch das renommierte Pariser Haus Hermès, weiterhin in Privatbesitz bleibt.
Wie bei Hermès, wo die handwerkliche Meisterschaft mit dem Schwerpunkt auf Leder traditionell gepflegt wird, hielt sich Viard auch bei Chanel an die von Coco Chanel begründeten Codes und die Marken-DNA. Sie schien nie gewillt, die klassische Eleganz der Chanel-Mode zu verändern. Stattdessen blieb sie in den großen Fußstapfen von Karl Lagerfeld. Bestseller wie die ikonischen Tweed-Jacken oder Tweed-Sets erhielten ein behutsames Lifting. Bei der Cruise Collection 2024, die Pariser Chic mit britischer Coolness kombinierte, wagte sie sogar, Tweed-Ensembles mit Kapuzenpullovern zu kombinieren, was als Zugeständnis an eine jüngere Klientel interpretiert wurde. Auch die begehrten gesteppten Chanel-Umhängetaschen, wie die moderne Neuauflage des Flap Bags, wurden stets auf dem neuesten Stand gehalten, da diese sich weiterhin einer großen Nachfrage unter den Kundinnen erfeuen. Coco Chanels Parfum No.5 bleibt ein Klassiker. Selbst wenn Viard gelegentlich neue Wege ging, wie bei den vom Rennsport inspirierten Jumpsuits der Resort-Kollektion 2023, bewegten sich ihre Entwürfe stets innerhalb der Chanel-Codes. Ihre Rainboots in der Winter-Kollektion 2022/2023 waren beispielsweise ein saisonales Highlight in der Schuhmode.

Die Trennung von Chanel und Viard scheint derart konfliktbeladen gewesen zu sein, dass die Designerin am 25. Juni 2024 der Präsentation ihrer letzten Haute Couture Kollektion für den Winter 2024/2025 in der Pariser Opéra Garnier fernblieb. Auf der Chanel-Webseite wurde ihr Name in Verbindung mit diesem Event nicht mehr erwähnt, stattdessen wurde das interne Studioteam als verantwortlich für die Kollektion angegeben – eine eher ungewöhnliche und fast als Eklat zu bezeichnende Vorgehensweise. Normalerweise würde ein renommiertes Modehaus einem langjährigen Mitarbeiter eine große Abschluss-Show widmen. Viard wurde dies verwehrt. Berichten zufolge soll sie ihr Büro in der Rue Cambon bereits direkt nach der Bekanntgabe der Trennung wütend verlassen haben. Dies ist besonders bemerkenswert, da Viard seit 1987 für Chanel arbeitete, zunächst als Praktikantin unter Karl Lagerfeld, und nach einem Engagement bei Chloé zwischen 1992 und 1997 wieder zu Chanel zurückkehrte, um die Haute Couture und später die Prêt-à-Porter-Linien zu leiten, bevor sie zur Kreativchefin aufstieg. Vor ihrem Aufstieg war der Name Viard außerhalb von Chanel kaum bekannt, da sie sich stets bescheiden im Schatten von Karl Lagerfeld hielt.
Der vakante Posten des Kreativchefs kann von Chanel nicht sofort neu besetzt werden. Das offizielle Statement des Hauses kündigte an, dass der Nachfolger „zu gegebener Zeit bekanntgegeben“ wird. Ob Chanel einen neuen Kreativchef bereits vor der nächsten Pariser Fashion Week, die zwischen dem 23. September und 1. Oktober 2024 stattfindet, ernennen wird, bleibt abzuwarten. Da die Zeit bis zur nächsten Fashion Week knapp bemessen ist, könnte die anstehende Winterkollektion vorübergehend vom hauseigenen Studioteam betreut werden. Dies ist in der Branche nicht unüblich, wie das Beispiel von Givenchy nach dem plötzlichen Abgang von Matthew Williams zeigt.
Hedi Slimane gilt als Favorit

Die Gerüchteküche brodelt bereits bezüglich möglicher Nachfolger für Virginie Viard. Hedi Slimane wird immer wieder als Favorit genannt. Mit ihm als Kreativchef könnte ein „neues Kapitel“ in der Chanel-Geschichte geschrieben werden. Ob Chanel jedoch einen so stark polarisierenden Designer wie Slimane engagieren möchte, dessen Image als Anhänger des Rock’n’Roll und als radikaler Designer ihm bereits bei früheren Stationen wie Yves Saint Laurent und Dior Homme Probleme einbrachte, bleibt fraglich. Ähnlich wie bei Céline, wo sein radikaler Stil zu einem Kundenverlust führte, könnte Slimane auch bei Chanel auf Widerstand stoßen.
Chanel könnte auch ein Zeichen setzen, indem es eine der beiden hoch gehandelten Kandidatinnen, Hedi Slimane (ehemals Givenchy) oder Sarah Burton (ehemals Alexander McQueen), als neue Kreativchefin einsetzt. Auch Pierpaolo Piccioli, der Valentino 25 Jahre lang kreativ prägte, und Christopher Bailey, der langjährige Burberry-Kreativchef, werden als mögliche Nachfolger gehandelt. Weitere Namen in der Diskussion sind Haider Ackermann, Marc Jacobs, Simone Rocha oder Olivier Rousteing, der seit 2011 bei Balmain tätig ist. Wer auch immer den Posten übernimmt, wird es schwer haben, die Rekordumsatzzahlen von Viard zu erreichen. Selbst Chanel-Finanzvorstand Blondiaux sieht für die Luxusmodebranche ein „schwierigeres Umfeld“ aufziehen, da der Kering-Konzern für das erste Halbjahr 2024 einen Gewinneinbruch von 40 bis 45 Prozent prognostiziert. „Diese Periode der Verlangsamung“, so Blondiaux, „bietet Chancen in Bereichen wie Immobilien, Boutiquen, vertikaler Integration unserer Lieferkette oder Mitarbeitern.“