Jenseits des touristischen Trubels befindet sich in Berlin-Mitte das Friedhofscafé „Lisbeth“. Dank der neuen Betreiberin können die Gäste dort nicht nur Kaffee und Kuchen genießen, sondern auch Aperitivo und kleine italienische Snacks.

Carl Bechstein, der Klavierbauer und Gründer der Piano-Fabrik, liegt hier. Ebenso wie die Komponisten Albert Lortzing, Walter Kollo und William Bach, der Enkel von Johann Sebastian Bach. Sie alle liegen auf dem II. Sophien-Friedhof in Berlin-Mitte begraben. Das ist der Grund, warum dieser ruhige, schattenspendende Ort auch als Komponistenfriedhof bekannt ist. Wer bei einem Friedhof nur an die Dahingegangenen und den Tod denkt, kann an der Bergstraße 29 zeitgleich auch etwas anderes erleben. Gleich rechts hinter dem Eingang der Ruhestätte sprudelt das Leben – zumindest gas-tronomisch. Chiara de Martin Topranin haucht dem kleinen Häuschen eine gute Portion Dolce Vita ein. Die Wahl-Berlinerin mit norditalienischen Wurzeln führt dort das Café und Bistro „Lisbeth“.

Anfangs Widerstände in der eigenen Familie
Die ehemalige Psychologie-Studentin kommt aus einer Familie von Gelatieri, die mehrere Eisdielen betreiben. Jahrelang hat Chiara de Martin Topranin in der Eisdiele ihres Vaters mitgearbeitet. Zuletzt waren ihre Eltern nach 30 Jahren Berlin in das unterfränkische Städtchen Miltenberg gezogen, um dort einen neuen Eissalon ins Leben zu rufen. Tür an Tür zum elterlichen Eissalon eröffnete die damals 25-Jährige mit der Pizzeria „Berlinesi“ ihr erstes eigenes Gastronomieprojekt. Ihr Pioniergeist führte sie später jedoch für vier Monate nach Ägypten, wo sie Arabisch lernte und italienischen Pizzateig für Hotels anbieten wollte. Erst eine Kleinanzeige im Internet lockte sie zurück nach Berlin.

In Mitte wurde eine Gastronomin für das bereits vorhandene Café „Lisbeth“ gesucht. Dann wurde die Entrepreneurin aber etwas skeptisch als sie erfuhr, dass sich die Location direkt auf einem Friedhof befindet. Trotzdem wollte Chiara de Martin Topranin die Räumlichkeiten erst einmal persönlich in Augenschein nehmen. Sie verliebte sich in das Kaffeehaus und wurde dessen neue Chefin. In ihrer Familie stieß ihr neues Projekt zunächst nicht auf viel Gegenliebe. Im Gegenteil: Ihr Vater war entsetzt, dass seine Tochter ihr neues Lokal ausgerechnet auf einem Friedhof betreibt. „In Italien würde niemand auf die Idee kommen, ein Café auf einem Friedhof zu betreiben. Das würde man als pietätlos betrachten“, erläutert die Italienerin.

In Berlin hingegen ist die Mentalität eine andere. Mehr als ein halbes Dutzend Friedhof-Cafés finden sich in der 3,8-Millionen-Stadt – mehr als irgendwo sonst in Deutschland. Berlin in seiner heutigen Form wurde erst 1920 gegründet. Dabei verschmolzen mehrere eigenständige Städte, wie unter anderem Spandau, Charlottenburg, Köpenick und Neukölln, sowie viele Landgemeinden zu einer großen Gemeinde. Daraus resultiert, dass Berlin anders als viele Hauptstädte wie etwa Prag, Paris oder Wien über keinen größeren Zentralfriedhof verfügt. Stattdessen sind in der gesamten Stadt mehrere kleine Friedhöfe verstreut.
Kleiner, pittoresker Wintergarten
Das „Lisbeth“ dürfte das zentralste Friedhofscafé der ganzen Stadt sein. Nur wenige Schritte von der trubeligen Kreuzung Brunnen- und Invalidenstraße entfernt, steht das kleine, cremefarben gepinselte zweistöckige Gebäude, das ein bisschen den Charme eines Hexenhäuschens hat. Im oberen Stockwerk finden regelmäßig Workshops und Lesungen statt. „Früher hatte der Friedhofswärter dort noch seine eigene Wohnung mit Badewanne“, erzählt Chiara de Martin Topranin beim Rundgang durch das Café.

Seit Mitte Mai 2024 betreibt sie ihre neue Location an der Bergstraße – in Kooperation mit dem zur evangelischen Gemeinde gehörigen „Kulturbüro Elisabeth“, welches das Café schon vor zweieinhalb Jahren eröffnet hatte. Damals gab es allerdings nur Kaffee und Kuchen. Auch die Öffnungszeiten waren auf das Wochenende beschränkt. Das ist jetzt anders: Im „Lisbeth“ kommen nicht nur Trauergruppen zusammen, sondern auch Menschen aus der Nachbarschaft und Gäste, die ein Faible für italienische Leckereien haben.
Wir kommen vorbei an der hölzernen Treppe und betreten den im Hochparterre gelegenen Gastraum. Holzdielen und -möbel sowie eine wechselnde Kunstausstellung an den Wänden vermitteln eine heimelige Atmosphäre. Dort lockt die Theke schon mit diversen Kuchen und Torten. Dazu zählen unter anderem Waldbeeren- und Karamell-Erdnuss-Käsekuchen sowie selbstgebackene vegane und glutenfreie Kuchen von Chiara de Martin Topranins Bäckerin. Dabei sind aber auch Spezialitäten einer italienischen Manufaktur wie etwa die Amalfi-Torte mit Zitronenmousse. Uns tropft schon der Zahn. Doch der Morgen ist noch jung und wir lassen uns weiter von unserer Gastgeberin durch die Räumlichkeiten führen.

Dabei entdecken wir einen kleinen, pittoresken Wintergarten. In dem lichtdurchfluteten Raum ist schon ein Holztisch mit Stühlen aufgestellt, der darauf wartet, dass man sich an ihn setzt, seinen Durst stillt und mediterranen Schlemmereien huldigt. Der schmucke Wintergarten führt über eine kleine Treppe direkt in einen weiteren Garten. Die mit Kies, Blumenkübeln und -töpfen versehene Terrasse vermittelt eine entspannte, heimelige Atmosphäre. Ein bisschen hört man noch das Tösen und Treiben der Großstadt. Doch gleichzeitig vermittelt der durch die Friedhofsmauer abgeschirmte Garten auch Schutz und Geborgenheit. Ein solches Refugium hätte ich mitten in der Stadt nicht erwartet.
Passende Snacks zum Aperitivo

Zusammen mit ihrem italienischen Küchenchef Lorenzo Filipini bietet Chiara de Martin Topranin mehr als nur ein Kaffee-und-Kuchen-Café. Die verlängerten Öffnungszeiten und das Spektrum an einigen herzhaften Speisen aus dem Land am Stiefel lassen Raum für andere Geschmäcker und Gewohnheiten. So knüpfen die 30-Jährige und ihr Team unter anderem auch an die Aperitivo-Kultur ihres Heimatlandes an. Der Aperitivo beschreibt jenes kulinarisch-gesellige Ritual aus Italien, das zwischen dem Feierabend und dem Abendessen stattfindet. Dazu gibt es zumeist ein leicht alkoholisches Getränk, das den Appetit anregen soll, und kleinere Snacks.

An diesem Morgen im Mai verlagern wir den Aperitivo ausnahmsweise auf den Vormittag. Auf der Getränkekarte finden sich typische Begleiter wie eine kleine Auswahl an Weinen, Campari Negroni und Campari Negroni Sbagliato, der mit Prosecco anstelle von Gin gerührt wird. Wir wählen den pinkfarbenen Sarti Lemon Spritz, dessen Geschmack neben Bitter Lemon und Wodka auch Aromen von sizilianischen Blutorangen, Mango und Passionsfrucht enthält. Dann tischt uns Lorenzo Filipini allerlei Leckereien aus seinem Heimatland auf. Absolut köstlich etwa ist der Gorgo e Pere, ein bunter, knackiger Salat aus Rucola, Gorgonzola, Birnenscheibchen und Walnüssen.

Auch die Cicchetti, typische Aperitivo-Snacks, sind überaus überzeugend. Die italienischen Butterbrote gibt es an der Bergstraße je nach Tag unterschiedlich belegt. Hierbei stehen auch immer vegetarische oder vegane Varianten zur Auswahl. Cicchetti gelten als venezianische Tapas, ihre Geschichte reicht bis ins 13. Jahrhundert hinein. Es wird gemutmaßt, dass der Begriff vom lateinischen Wort „ciccum“ herrühren könnte, was so viel wie „kleine Menge“ bedeutet und die Portionsgröße der Häppchen beschreibt.
Flüssig-cremiges Kalorienbömbchen

Unsere Weißbrotscheibchen an jenem Vormittag sind reichlich belegt: Ergänzend zur Mortadella kommen noch Pistaziencreme und Stracciatella, jene apulische Käsekreation, die aus zerrupften Mozzarella-Fäden und Sahne hergestellt wird. Sehr aromatisch, finde ich. Auch der begleitende italienische Fotograf schwelgt in den Genüssen seines Heimatlandes. Natürlich darf am Ende auch das Süße nicht fehlen. Dafür naschen wir an einem cremigen Tiramisu und an einem Kaffeegetränk, das es in sich hat: Das flüssig-cremige Kalorienbömbchen nennt sich passenderweise La bomba und besteht aus Espresso, Kakao und Mascarpone-Creme.
Schließlich neigt sich der kulinarische Ausflug dem Ende zu. Ich werfe noch einen letzten Blick in „Lisbeths“ Garten und träume schon von lauen Sommerabenden dort. Die warme Jahreszeit darf kommen. Jetzt muss nur noch endlich das Wetter mitspielen.