Der nächste Wechsel in 10 Downing Street: Ihre eigenen Steuerpläne haben Liz Truss zu Fall gebracht. Wie es nun weitergeht, steht in den Sternen.
In der hippen Redaktionszentrale des Londoner Online-Magazins The Independent gab es vorige Woche Jubel und Enttäuschung zugleich. Das als liberal geltende Portal mit Sitz an der hippen Adresse Canary Wharf hatte gerade eine Petition gestartet, die binnen kurzem so erfolgreich war, dass sich das Parlament eine Debatte über Neuwahlforderungen gegen Premierministerin Liz Truss auf die Tagesordnung hätte setzen müssen. Doch die öffentlichkeitswirksame Kampagne des Independent brach in sich zusammen – weil die Zielfigur von sich aus den Hut nahm.
Das Chaos in der 10 Downing Street war mehr als nur ein Schlag für die ganze Nation. Der Rekordrücktritt der konservativen Regierungschefin hat das „unvereinigte Königreich" in die schwerste politische Krise seit dem Zweiten Weltkrieg getrieben. Schlimmer noch als der Brexit hat die resolute Senkrechtstarterin durch schwere wirtschafts- und finanzpolitische Fehlentscheidungen jegliches Vertrauen verspielt.
Die Gründe für den Wirrwarr liegen sicherlich in Selbstüberschätzung und Beratungsresistenz. Doch versagt hat auch die ganze politisch tonangebende Klasse. Die klammert sich an ein verzopftes politisches System, das nicht die Besten an die Fleischtöpfe der Macht bringt, sondern die cleversten Intriganten.
„Ich habe genug von talentlosen Leuten," schimpfte der Abgeordnete Sir Charles Walker von der Truss-Partei sichtlich verärgert in der Lobby des Unterhauses. Zu Recht. Das Scheitern der dritten weiblichen Regierungschefin Großbritanniens – nach Margaret Thatcher und Theresa May – wirft grelles Licht auf ein Staatskonzept, das zwar traditionsreich ist, aber nicht mehr die Alltagsrealitäten auf den Straßen Englands, Schottlands, von Wales und Nordirland abbildet. Truss wurde – regelgemäß – von nur 81.000 Menschen ins Amt gehievt, nämlich durch Urwahl unter den gut 200.000 Mitgliedern der Konservativen Partei (Torys). Nur zwei Tage vor ihrem Tod musste Queen Elizabeth II. die Politikerin daraufhin offiziell ernennen.
Der Urwahl-Sieg von Truss als Nachfolgerin des skandalumwobenen Boris Johnson war überwältigend, aber nicht deutlich gewesen. Und ihm haftete von vornherein ein schwerwiegender Schönheitsfehler an. Der eisern neoliberale Kurs der Oxford-Absolventin hatte niemals eine Mehrheit in der eigenen Parlamentsfraktion. Statt aufmunternder Unterstützung hörte man auf den Gängen des Parlamentspalastes gegen die ehrgeizige Frau aus den eigenen Reihen das Messerwetzen lauter als die Glocke von Big Ben.
Noch im Sommer hatte sich die Senkrechtstarterin mit dem Wortspielmotto „In Liz we #Truss" durchgesetzt. Ein Scheinerfolg, wie sich jetzt zeigt. Und ein Pyrrhussieg für die politische Ordnung des Landes.
Offen zu Tage getreten ist die Unfähigkeit zu Reformen spätestens mit dem Brexit. Die Loslösung vom europäischen Staatenverbund hatten die „Brexiteers" auch mit dem Argument gewonnen, die einstige Weltmacht müsse frühere Größe wiedergewinnen; stattdessen ist die einstige Stellung des weltumspannenden Commonwealth auf den Status einer wirtschaftspolitisch schlingernden Nation am Rande des Kontinents zusammengeschrumpft. Politische Gaukler wie Truss-Vorgänger Johnson haben den Abstieg nicht wahrhaben wollen und wollen es wohl auch immer noch nicht. Doch Tatsache ist: Seit dem EU-Austritt taumelt die britische Wirtschaft in schweren Turbulenzen. Das Land verzeichnet den stärksten Anstieg der Lebensmittelpreise seit 1980, einer der Faktoren, warum die britische Inflation im vergangenen Monat auf 10,1 Prozent hochgesaust ist.
Angesichts solcher Fakten stürzte das Pfund vorübergehend auf ein Rekordtief gegenüber dem Dollar. Das wiederum löste eine seltene Intervention des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Bank of England aus. Erst kurz nach dem Truss-Rücktritt erholte sich die britische Währung wieder.
Einzig die Rüstungsfabrikation brummt wegen massiver Waffenhilfe für die Ukraine derzeit. Andere Branchen liegen brach. Die Industrieproduktion ist im Monatsvergleich um 1,8 Prozent geschrumpft, die Rezession ist nahe. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank binnen Monatsfrist um 0,3 Prozent. Die Wirtschaftsleistung hat nur um 0,1 Prozent zugelegt. Selbst die britischen Öl- und Gasförderanlagen tragen trotz weltweiter Energieknappheit nicht zur Stabilisierung bei.
Rishi Sunak wird neuer Premierminister Großbritanniens
Und dann ist da noch das todkranke staatliche Gesundheitssystem NHS, auf das man in Großbritannien lange Zeit voller Stolz geblickt hatte. Es doktert hoffnungslos an sich selbst herum und muss seine Ausgaben aus einem von der Regierung chronisch unterfinanzierten Budget stemmen. Über sieben Millionen Menschen warten allein in England auf eine Behandlung im Krankenhaus. Jeder dritte Patient schmort in der Notaufnahme mehr als zwölf Stunden bis zur Entscheidung über eine stationäre Aufnahme.
Truss hat diese Bürden zwar von Johnson geerbt, aber sie hat einfach die falschen Rezepte, wie Steuererleichterungen für Reiche, gewählt in der Hoffnung, diese würden das gesparte Geld in arbeitsplatzträchtige Investitionen stecken. Das Aufheulen in der Regierungspartei übersah sie geflissentlich und rief im Unterhaus mit wutbebender Stimme: „Ich bin eine Kämpferin und ducke mich nicht weg!" Eine massive Fehlkalkulation, denn unter dem massiven Druck der eigenen Partei hatte Truss alle Vorhaben binnen Tagesfrist zurücknehmen müssen. Dass sie Kwasi Kwarteng, den ersten schwarzen Finanzminister Großbritanniens, hochkant rausschmiss, konnte sie nicht mehr vor der eigenen Fraktion retten.
Mit dem Ende der Ära von Elizabeth II. hat in Großbritannien eine Zeitenwende begonnen. Könnte der neue König mithelfen, frischen Wind in die stickig gewordenen Säle von Unterhaus und Oberhaus zu blasen? In seiner ersten Volksansprache hatte Charles III. wörtlich erklärt: „Ich bin dazu erzogen worden,… den größten Respekt für die wertvollen Traditionen, Freiheiten und Verantwortungen unserer einzigartigen Geschichte und unseres parlamentarischen Regierungssystems zu haben." Später deutete er Reformen für die Monarchie an.
Vielleicht wird sich Charles III. durch das Truss-Beben angetrieben fühlen, nicht nur seinem royalen Haushalt, sondern auch der Politik den einen oder anderen Ratschlag in der verlangten Diskretion zu geben.
Und was passiert in 10 Downing Street? Erst einmal ist jemand der starke Mann, den ein Kenner als „allzeit freundlichen Mann ohne Eigenschaften" bezeichnet. Ex-Außenminister Jeremy Hunt. Ihn hatte die ranghöchste Dame des Staates kurz vor dem Rücktritt als Havariehelfer gerufen und zum Finanzminister befördert. Nun versucht er, die Politik nach Johnson und Truss in Ordnung zu bringen.
Aber die Lage des verkrusteten Königreiches wird sich nicht über Nacht ändern können, daran wird auch der neue Premier, Truss‘ stärkster Gegenkandidat Rishi Sunak, nichts ändern. Auch Neuwahlen können die gravierenden Fehlentwicklungen kurzfristig nicht zurückdrehen. Zwar würde die sozialdemokratische Labour Party unter ihrem farblosen Oppositionsführer Keir Starmer laut Prognosen haushoch siegen. Doch Labour steht seinerseits unter Fesseln beharrender Kräfte, vor allem aus Gewerkschaftskreisen, die im Grunde nichts ändern wollen, etwa das unselige Wahlrecht, das nur dem Gewinner eines Wahlkreises ein Mandat gibt, während alle anderen Bewerber leer ausgehen.
Beim Independent fühlt man sich indessen berufen, die Neuwahl-Petition weiter zu pushen. Organisator Darrin Charlesworth: „Das Chaos, in dem sich die britische Regierung befindet, ist beispiellos, die Debatte über die Ausrufung von Neuwahlen ist jetzt dringend notwendig. Es ist an der Zeit, dass das Volk seine Stimme erhebt."