Im Białowieża-Urwald, der im Osten Polens an Weißrussland grenzt, hat sich eine ursprüngliche Wildnis erhalten. Vom Rest der Welt weitgehend unberührt trägt das Gebiet den Unesco-Welterbe-Status.
Wisente ziehen gemächlich über saftige Wiesen und schlängeln sich durch uralte Baumriesen, knabbern an Blättern oder zerreißen Zweige mit kraftvollen Kiefern. Auch Wölfe, Luchse und Wildpferde haben hier ihr Zuhause gefunden. Wenn die Wettervorhersage am Abend einen klaren Himmel für die Nacht ankündigt, stellt Lukasz seinen Wecker auf 4 Uhr morgens. Mit Kamera und Fernglas ausgerüstet macht er sich auf den Weg in den Wald. Der Boden ist zu der Zeit noch feucht, die Luft frisch, und es duftet nach Tannen und Fichten. Das sanfte Morgenlicht beginnt, den Himmel in zarten Orangetönen zu färben, während die Natur langsam erwacht. Geduldig und mit geschultem Blick streift er durch das Unterholz und sucht den Wisent, der oft vorsichtig aus dem Nebel tritt. Er steht dann im Morgengrauen auf einer Lichtung wie ein Wesen aus einer anderen Zeit. Und plötzlich ist er wieder weg. „Wer die Tiere sehen möchte“, sagt der Naturführer Lukasz, „der sollte zu uns kommen.“ Denn nirgends sonst ist die Chance in Europa so groß, einen Wisent in freier Wildbahn zu sehen. Früher war der Białowieża-Urwald ein königliches Jagdrevier, allerdings schonten und schützten die polnischen Könige und Zaren den Wald. Im ehemaligen Jagdschloss, das heute ein Museum ist, lässt eine Ausstellung die königliche Jagdkultur und die Geschichte des Parks lebendig werden.
Früher Jagdrevier des Königs
Das kleine Dorf Białowieża mit seinen 2.000 Einwohnern ist ein idealer Ausgangspunkt, um den Urwald zu erkunden. Entlang traditioneller Holzhäuser und vorbei an der orthodoxen Kirche geht der Weg in den Schlosspark. Von dort aus schlängelt sich ein Feldweg in Richtung des streng geschützten Gebietes, das nur in Begleitung eines offiziellen Guides betreten werden darf. Hinter dem schweren Holztor erheben sich jahrhundertealte Eichen, Kiefern und Eschen bis zu 50 Meter in die Höhe. Sonnenstrahlen dringen durch die Kronen und lassen die meterhohen Farne und Brennnesseln in sattem Grün leuchten. Am Boden ist ein leises Fiepen zu hören, während Eidechsen, Mäuse und Käfer über Laub, Gras und Baumwurzeln huschen. Die sanften Hügel, Moorseen und mächtigen Bäume bieten Lebensraum für scheue Wölfe und Luchse, die im Dickicht auf Beutefang sind und Wildschweine, Rehe sowie Hirsche jagen. Außerhalb der strengen Schutzzone sind besonders am Morgen und Abend die zotteligen Wisente unterwegs.
Das war nicht immer so. Das letzte wilde Exemplar wurde 1919 im Białowieża-Urwald erlegt. Ein Jahr später begann ein Botaniker mit der Wiederansiedlung der sanften Riesen und richtete eine Aufzuchtstation ein. Dank strenger Schutzmaßnahmen und internationaler Zusammenarbeit in Zoos wurden die Wisente gerettet. 1952 wurden die ersten Tiere wieder in die Freiheit entlassen. Heute streifen etwa 1.500 frei lebende Wisente durch den polnischen Wald, davon die Hälfte im Urwald. Sie sorgen dafür, dass große Flächen offenbleiben, was die Vielfalt der Wälder und Wiesen zeigt. Lukasz wollte diese Gegend kennenlernen, inspiriert durch einen Zeitschriftenbeitrag über Europas letzten Tiefland-Urwald. In Chile war er Fischer, und in Finnland erkundete er die einsamen Sümpfe des entlegenen Lapplands. „Es scheint, als sei ich genetisch dazu bestimmt, mich von abgelegenen Orten anziehen zu lassen,” sagt er. Jetzt führt er Besucher auf den Pfaden des Wolfes oder Wisents durch den Urwald. Fast jeden Morgen springt er in den kalten Fluss Narewka, der sich gemächlich am Rande des Dorfes und durch Sümpfe und Röhrichte schlängelt. Ein idealer Rückzugsort für zahlreiche Vogelarten. Im Schilf, das den Rand des Gewässers säumt, hat eine Stockente am Boden ein Nest gebaut, gut verborgen und geschützt vor Räubern. Während das Wasser sanft plätschert und die Gräser sich im Wind wiegen, ruft ein Uhu in den angrenzenden Wald. Inmitten des alten Holzes haben sich Vögel und andere Tiere in Nistkästen und Höhlen eingerichtet, die einen sicheren Zufluchtsort bieten.
"Die Seele der Natur spüren"
Lukasz lehnt sich an einen Baum, in dem ein scheues Eichhörnchen wohnt, das sich nur selten blicken lässt. Zu seinen Füßen breiten sich die moosbedeckten Wurzeln aus. Fast immer kommt er an dem großen, zwergenhutförmigen Baumpilz vorbei, der sehr alt ist und so hart wie Holz. „Jahrelang dachte ich, die Waldgebiete in ganz Europa seien nur dichte Kiefern- und Eichenwälder“, sagt er. Mit dem Białowieża-Urwald ist das nicht zu vergleichen. Während der Naturführer erzählt, summt und brummt es überall um ihn herum. Der Zeidler Pfad ist lebendig. Oben am Baum öffnet ein moderner „Zeidler“, also Imker, vorsichtig den Holzdeckel, ganz so, wie es im Mittelalter gemacht wurde. Ohne Netz und Handschuhe zieht er eine Wabe heraus. „Stichfest muss man in diesem Job sein“, sagt er lachend. Da die Felder hier nur extensiv bewirtschaftet werden, hat der Honig Bio-Qualität. Lukasz schaut in die weite, ruhige Landschaft. „Hier in den Hinterwäldern“, meint er, „kann man noch die Seele der Natur spüren. Unberührt, wild und frei.“